Andrea De Carlo – „Die ganz große Nummer“

Samstag, 20. Juni 2020

(Piper, 384 S., Pb.)
Der dreiundzwanzigjährige Alberto Scarzi treibt im Mailand der 70er Jahre meist ziellos zwischen Studium, musikalischen Übungen mit seiner japanischen Akustikgitarre und unentschlossenen Überlegungen, welcher der schönen Künste er sich widmen sollte, hin und her, als ihr eine Bekannte von der Uni den Kontakt zum Verleger Damiano Diamantini vermittelt. Der suche nämlich einen Autor bzw. Rockexperten für seine geplante Musikbuchreihe über die bedeutendsten italienischen cantautori. Beim Abendessen mit dem Verleger und seiner Mutter werden die Details geklärt. Jedes Buch sollte ein ausführliches Interview, eine wunderbare Fotostrecke sowie ein poetisches-literarisches Essay von Diamantini enthalten, das den eigentlichen Kern der jeweiligen Bücher bilden sollte. Das Drumherum würde nur den Köder für die Jungbanausen darstellen, um sie auf das Terrain der Literatur zu führen.
Nachdem sich ein erster gemeinsamer von Alberto und Damiano mit dem Liedermacher Flavio Sbozzari als Fiasko erweist, wagt sich Alberto an einen ganz großen Namen: Der berühmte Bernard Ohanian, der sich gerade in Mailand aufhält, um einen seiner ins Italienische übersetzten Romane vorzustellen. Mit seinem Freund Raimondo Vaiastri, der ebenso wie Alberto keine Ahnung hatte, was er mit seinem Leben anfangen soll, besucht er die Buchpräsentation, doch zu dem erhofften Interview kommt es natürlich nicht. Doch als Alberto die Idee entwirft, seinem Verleger ein erfundenes Interview mit Ohanian vorzulegen, ist auch Raimondo begeistert. Tatsächlich funktioniert der Plan, aus Raimondo Vaiastri einen berühmten Rock-Journalisten zu machen, der seinen Namen für das ausführliche Interview hergibt, das Alberto wiederum aus den Eindrücken, die er von der Buchpräsentation und aus bisher veröffentlichten Interviews zusammenbastelt.
Nachdem die Arbeit beendet ist, packt Alberto der Drang, nach Amerika zu gehen. Er verkauft seine 1959er BMW und fliegt mit seiner aktuellen Freundin Cristina nach Boston, wo die beiden zunächst bei Yoko Williams unterkommen, einer deprimierten Frau, die mit einem dreißig Jahre älteren armenischen Galeriebesitzer zusammengelebt hat, der sie aber wegen einer 18-jährigen Blondine verlassen habe. Währenddessen schluckt Damiano den Schwindel, blättert zwei Millionen Lire für das Buch hin, so dass Alberto und Raimondo schon den nächsten großen Coup aushecken. Während Raimondo immer mehr in der Rolle des berühmten Rockjournalisten aufgeht, macht sich Alberto in den Staaten auf die Reise zu dem nächsten Star, der in der Reihe von Diamantini Press vorgestellt wird. Als die Bücher aber auch international vermarktet werden, fliegt der Schwindel auf …
„Mir schien, dass ich mich damals himmelschreiend nachlässig, ja sträflich oberflächlich verhalten hatte: Es war völlig absurd, rein gar nichts aus meinem Leben gemacht zu haben, in dem es keinerlei Hektik und Mühe gab und das der Zufall oder eine Schicksalsfügung mir an die Hand gegeben hatte. Mir fiel es schwer zu glauben, dass ich so zerstreut und fatalistisch gewesen war und nicht einmal den Versuch unternommen hatte, die unklaren Ideen, die mir durch den Kopf schwirrten, auf den Prüfstand der Realität zu bringen. Wie konnte ich nur denken, dass mir dafür noch alle Zeit der Welt zur Verfügung stünde?“ (S. 271) 
Mit seinen ersten Bestsellern „Creamtrain“, „Zwei von zwei“ und „Techniken der Verführung“ hat sich der Mailander Schriftsteller Andrea De Carlo seit den 1980er Jahren eine treue Fangemeinde aufgebaut, die begeistert den meist männlichen jungen Protagonisten seiner Geschichten durch die unwegsamen Irrungen und Wirrungen der Liebe und des Lebens folgen. Auch in seinem 2002 veröffentlichten und zwei Jahre später auch als „Die ganz große Nummer“ ins Deutsche übersetzten Roman „I veri nomi“ stehen zwei Freunde im Mittelpunkt eines irrwitzigen Road Trips, der aus Alberto und Raimondo definitiv andere Menschen macht und sie mit allerlei interessanten Menschen und Versuchungen, Träumen und Enttäuschungen konfrontiert.
Dass sie dabei ihr Glück überstrapazieren, ist natürlich vorhersehbar, aber wie Alberto und Raimondo diesen großen Schwindel vorbereiten und durchziehen, verdient den größten Respekt und wunderbar vergnüglich zu lesen. De Carlo versteht es wieder einmal souverän, mit seinem eleganten Stil, humorvollen Szenen und lebendigen Dialogen sein Publikum zu fesseln. Allerdings wird der Erzählfluss auch immer wieder durch Erinnerungen an die Menschen und Schlüsselerlebnisse aus dem früheren Leben des Ich-Erzählers Alberto unterbrochen, und auch in der Gegenwart bekommt nahezu jede Person, mit denen es Alberto zu tun bekommt, ein eigenes Kapitel. Das beginnt vor allem im letzten Drittel zu nerven, wenn die eigentliche Geschichte längst erzählt ist und Alberto und Raimondo zwischen den Ländern und Kontinenten nur noch hin- und hertreiben, sich jahrelang gar nicht oder über Briefe verständigen, sich aber nie wirklich ganz aus den Augen verlieren.

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