(Liebeskind, 188 S., HC)
Im Sommer 1929 kommt es in einer Kleinstadt in Missouri während einer Tanzveranstaltung in der Arbor Dance Hall zu einer nie aufgeklärten Explosion, bei der am Ende 42 Menschen ihr Leben verloren. Vor allem die Haushälterin Alma DeGeer Dunahew lassen die schrecklichen Ereignisse ihr Leben lang nicht los, schließlich verlor sie auch ihre geliebte Schwester Ruby in den Flammen. Ihr Enkel Alek ist zwölf, als er den Sommer 1965 bei ihr verbringt und die Geschichte aus ihrem Mund zu hören bekommt.
Sofort ist der Junge fasziniert, schließlich handelt es sich um eine aufregende Geschichte um Feuer, Flammen und Tod. Es gab viele Tote, aber wenige Verdächtige, ein Rätsel, das nie gelöst wurde. Doch Alma, die weder „Großmutter“ noch „Omama“ genannt werden wollte, hat ihre eigene Theorie, wer hinter dem Unglück gesteckt haben könnte. Alma, so berichtet der Ich-Erzähler Alek, hatte die Schule nur bis zum Ende der dritten Klasse besuchen dürfen, hat sich auf den Feldern ihres gewalttätigen Vaters Cecil DeGeer abgerackert, um dann als Dreizehnjährige in die Stadt zu entfliehen und dort Jobs als Köchin, Wäscherin und Dienstmagd anzutreten.
Sie hatte ein entbehrungsreiches, von Enttäuschungen und Verlusten geprägtes Leben hinter sich, heiratete den alkoholsüchtigen Nichtsnutz Buster, bekam drei Kinder, verlor aber zwei von ihnen. Bei ihren gemeinsamen Spaziergängen durch die Stadt gab Alma stets Episoden aus ihrem Leben dort zum Besten. Am ausführlichsten berichtete Alma von ihrem Leben als Magd bei der einflussreichen Bankiersfamilie Glencross. Im Gegensatz zu ihr selbst verstand es ihre zehn Jahre jüngere Schwester Ruby, ihr attraktives Äußeres und ihren Charme gekonnt einzusetzen, um die Herzen jener gut gestellten Männer zu betören, die sie mit Geschenken überhäuften, bis sich spendablere Männer fanden. Schließlich begann sie eine Affäre mit dem verheirateten Arthur Glencross – mit offenbar tödlichen Folgen. Alma ist über diesen Verlust nie hinweggekommen.
„Sie ließ sich aus reiner Vergesslichkeit die Haare wachsen, bis sie zu lang für die Küchenarbeit waren; ihre Gedanken richteten sich nun schon so viele Wochen und Monate auf anderes, doch als sie in einem Badezimmerspiegel die volle Haarlänge sah, beschloss sie auf der Stelle, sie für immer wachsen zu lassen. Sie hatte die heilige Eingebung, dass Haar von geradezu unwirklicher Länge eine öffentliche, hingebungsvolle Ehrung der Toten wäre, der Toten und ihrer eigenen Mission, für die Gestorbenen Gerechtigkeit oder Rache zu erwirken, das eine oder das andere, aber am liebsten beides.“ (S. 115f.)
Der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Woodrell ist ein Meister der geschliffenen Sprache. Das hat er mit seiner „Bayou“-Trilogie ebenso bewiesen wie mit den erfolgreich verfilmten Bestsellern „Wer mit dem Teufel reitet“ und „Winters Knochen“ sowie dem mit dem P.E.N. ausgezeichneten Roman „Tomatenrot“. In dem 2014 auch auf Deutsch erschienenen Roman „In Almas Augen“ erzählt er weniger einen auf wahren Begebenheiten beruhenden Krimi oder die Biografie einer alten Frau, die zu viel Schreckliches in ihrem Leben verarbeiten musste, sondern letztlich das Portrait einer Kleinstadt in den Ozarks, Missouri, wo Woodrell auch seine Romane „Winters Knochen“ und „Der Tod von Sweet Mister“ spielen lässt. Nicht von ungefähr spielen die Ereignisse im Jahr 1929, als der New Yorker Börsencrash die Schere zwischen Arm und Reich noch stärker auseinanderklaffen ließ.
Auch wenn Woodrell einen Ich-Erzähler einsetzt und durch ihn zunächst die Lebensgeschichte dessen Großmutter präsentieren lässt, erweist sich „In Almas Augen“ als ein vielschichtiges Potpourri von Einzelschicksalen. Da ist die fünfzehnjährige Dimple Powell, die schon ein ganzes Jahr lang in ihrem Zimmer tanzen geübt hatte und hoffte, auf dem Fest von Jungs auch zum Tanzen aufgefordert zu werden, oder Mr. Lawrence Meggs, der stets Säcke mit Lockfutter in die Bäume am Rand seines Hofs hängte und im Alter von siebzehn Jahren bei seinen Cousins in Cousins zwei Laster kennenlernte, denen er bis heute frönt, dem Alkohol und den Frauen. Es gibt den unfähigen Prediger und den Bankräuber, der sich Irish Flannigan nannte. Woodrell reiht die oft nur kurze Kapitel umfassenden Einzelschicksale in nicht chronologischer Reihenfolge aneinander und entwirft so ein komplexes Panorama eines Kleinstadtlebens, das sich letztlich auf eine unglückselige Liebesgeschichte mit fatalen Folgen reduzieren lässt.
Wer sich auf die vielen Sprünge zwischen Zeiten und Figuren einlassen mag, wird mit einer großartig erzählten Geschichte belohnt, die jede Konvention sprengt, dafür den Leser mit scharfsinnigen Beobachtungen und entfesselter Sprachgewandtheit verwöhnt.
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