Stephen King - "Später"

Sonntag, 14. März 2021

(Heyne, 304 S., HC) 
Der neunjährige Jamie Conklin wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter Tia in Manhattan auf, wo sie in die Fußstapfen ihres Bruders, den an Demenz erkrankten Literaturagenten Harry, getreten ist. Dank der erfolgreichen „Roanoke“-Reihe des Bestseller-Autors Regis Thomas kommen Mutter und Sohn einigermaßen gut über die Runden, doch dann stirbt Thomas, bevor er den abschließenden Band seiner Reihe abgeschlossen hat. Doch Tia hat eine Lösung für das Problem parat: Außer ihr weiß niemand, dass ihr kleiner Schatz über die Fähigkeit verfügt, tote Menschen zu sehen – wie der kleine Cole in M. Night Shyamalans Mystery-Thriller „The Sixth Sense“. 
Im Gegensatz zum jungen Filmhelden kann Jamie die Verstorbenen aber nur für kurze Zeit in der Nähe des Ortes erkennen, an dem sie gestorben sind, oder bei ihrer Beerdigung bzw. an Lieblingsplätzen. Nachdem Jamie gerade erst dem emeritierten Universitätsprofessor Mr. Burkett verraten konnte, wo seine verstorbene Frau ihre Ringe versteckt hatte, soll der Junge nun von Regis Thomas in Erfahrung bringen, wie die unvollendete Geschichte ausgeht, schließlich gibt es noch einige Geheimnisse zu lösen, die als eine Art Cliffhanger den Erfolg der schlüpfrigen Buchreihe sichergestellt haben. Währenddessen hat sich Tia mit der Polizistin Liz eingelassen, doch als sie Drogen in ihrem Besitz findet, schmeißt Tia die von der Innenrevision ohnehin beobachtete Polizistin wieder vor die Tür. Jamies außergewöhnliche Fähigkeiten kommen aber immer wieder zum Einsatz, vor allem für Liz, die ihre im Niedergang befindliche Karriere wieder in Schwung bringen will, indem sie mit Jamies Hilfe die letzte, noch nicht detonierte Bombe des langjährig gesuchten Attentäters Therriault und schließlich die heiße Ware eines getöteten Drogendealers finden will. 
Im Gegensatz zu allen bisherigen Toten, die nach gut drei Tagen völlig verschwunden sind, wird Jamie von dem verrückten Bombenleger aber weiterhin belästigt … 
„Ich wusste, dass die Toten eine Wirkung auf Lebende haben konnten, das war keine Überraschung, aber immer wenn ich es zuvor gesehen hatte, war die Wirkung minimal gewesen. Professor Burkett hatte den Kuss seiner Frau wie einen Hauch gespürt. Liz hatte gespürt, wie Regis Thomas ihr ins Gesicht gepustet hatte. Aber das, was ich gerade erlebt hatte – die zerplatzende Lampe, der sich zitternd drehende Türknauf, der Kurier, der vom Fahrrad gestürzt war -, das hatte eine ganz andere Dimension.“ (S. 194) 
Stephen King ist nicht nur für apokalyptische Epen wie „The Stand – Das letzte Gefecht“, die Saga um den „Dunklen Turm“ und „Die Arena“ berühmt geworden, er hat auch der literarischen Form der Kurzgeschichte wieder mehr Anerkennung verschafft und sich mit „The Green Mile“ erfolgreich an dem Experiment des Fortsetzungsromans versucht. 
In den vergangenen Jahren hat er gelegentlich auch kürzere Romane verfasst, die er als Hommage an die klassischen Pulp-Krimis versteht und bei Hard Case Crime veröffentlicht hat. Nach „Colorado Kid“ (2005) und „Joyland“ (2013) folgt nun der (vorerst?) abschließende Band „Später“. Dabei ist die Geschichte zunächst nicht besonders originell. Kings Ich-Erzähler, der als Zweiundzwanzigjähriger auf die Ereignisse zurückblickt, die ihm im Alter von neun Jahren widerfahren sind, macht keinen Hehl daraus, dass die Grundidee Shyamalans Horror-Blockbuster entlehnt ist, aber es scheint, dass dem Bestseller-Autor auch nicht in erster Linie an einer typischen Geister-Geschichte gelegen ist, sondern eher an dem mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommenden Subtext. 
So wie schon in „Finderlohn“ rechnet King ganz offen mit den dubiosen Praktiken im Literaturbetrieb ab, wo sich Bestseller-Autoren den Gesetzen des Marktes unterwerfen und ihr Publikum mit einer Mischung aus exotischen Abenteuern und Sex unterhalten, wobei sie sich auch gern Ghostwritern bedienen, die dafür sorgen, dass der Strom an verkaufsträchtigen Geschichten nicht versiegt. Darüber hinaus hat King seine Geschichte sicher ganz bewusst in die Obama-Zeit des Jahres 2008 angesiedelt, als der Börsencrash dafür sorgte, dass unzähligen Menschen ihr Zuhause verloren, weil sie Opfer fauler Hypotheken geworden sind. Auch Jamie Conklins Familie war unter den Leidtragenden. Ausführlich lässt King seinen Protagonisten beschreiben, zunächst Onkel Harry, dann auch seine Mutter in einen vermeintlich lukrativen Fonds investierten und alles verloren. 
Daraus resultierend haben sowohl Jamies Mutter als auch ihre Freundin Liz einen extremen Egoismus entwickelt, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Da machen sie eben auch nicht davor Halt, die außergewöhnliche Gabe eines kleinen Jungen mit fast krimineller Energie auszunutzen. Neben diesen gesellschaftskritischen Tönen überzeugt „Später“ aber auch als geschickt konstruiertes Thriller-Horror-Drama, das am Ende ordentlich an Fahrt gewinnt und mit einer feinen Pointe überrascht, auch wenn sie nicht so stark ist wie im vage vergleichbaren Film „The Sixth Sense“.  

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