(Diogenes, 310 S., HC)
Der aus Pueblo, Colorado stammende Kent Haruf war bereits 41 Jahre alt, als er 1984 mit „The Tie That Binds“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Es war der erste von insgesamt sechs Romanen, die allesamt in der fiktiven Kleinstadt Holt in der Prärie Colorados angesiedelt sind. Berühmt wurde er durch seinen letzten, 2015 – posthum - veröffentlichten Roman „Our Souls at Night“, der hierzulande als „Unsere Seelen bei Nacht“ erschienen und 2017 mit Robert Redford und Jane Fonda verfilmt worden ist. Nun erscheint mit „Das Band, das uns hält“ endlich die deutsche Übersetzung des Romandebüts von Kent Haruf, der 2014 verstarb.
Kurz vor ihrem achtzigjährigen Geburtstag liegt Edith Goodnough im Krankenhaus und wartet darauf, dass ihr der Prozess gemacht wird. Ihr Nachbar Sanders Roscoe scheint der einzige in Holt, Colorado, zu sein, der die Geschichte hinter dem mutmaßlichen Verbrechen kennt, doch lässt er auch einen Reporter von der Denver Post abblitzen. Stattdessen erzählt Roscoe dem in der Stadt weilenden Leser die wahre Geschichte, die im Jahr 1895 mit der Heirat des 25-jährigen eigenbrötlerischen und raubeinigen Roy Goodnough und der zwei Jahre älteren Ada Twamley beginnt, mit einer Reise von Iowa nach Colorado, wo Roy ein Stück Land erwirbt, das er bewirtschaften kann, und seiner Frau ein Holzhaus baut. Wenig später bringt die zarte Ada erst Edith und dann Lyman zur Welt.
Als Ada 1914 stirbt und Lyman Haus und Hof verlässt, um die Welt kennenzulernen, ist es an Edith, sich um den Haushalt und das Melken der Kühe zu kümmern. Eine Beziehung zu ihrem Nachbarn John Roscoe unterbindet der griesgrämige Roy, der bei einem Unfall fast alle Finger verliert und Edith noch mehr terrorisiert. Den einzigen Trost findet sie in den Postkarten, die Lyman ihr aus all den Städten schickt, die er besucht. Als er nach zwanzig Jahren zurückkehrt, nimmt das Drama seinen Lauf…
„Egal, wie sehr man es sich wünschte, dass sie mal für eine Weile losließ, wenn auch nur für eine Woche, sagen wir, oder einen Tag oder bloß eine Stunde, sie tat es nicht. Sie tat es einfach nicht. Ich glaube, sie hätte auch gar nicht gewusst, wie man das macht. Es war, als hielte sie die Zügel der Welt mit beiden Händen fest und hätte genug Alte-Männer-Finger gesehen, verstümmelt und mit Spreu bedeckt in den Stoppeln hinter der Mähmaschine, genug Krankenhäuser mit toten Babys, Fehlgeburten nach einem Autounfall, und hätte einfach Angst loszulassen, wenn auch nur für eine Minute.“ (S. 260)
Bereits mit seinem Romanerstling bewies Haruf Mitte der 1980er Jahre ein ausgeprägtes Gespür für die seelischen Befindlichkeiten seiner Landsleute im ländlichen Colorado. Aus der Perspektive eines Nachbarn, der in der Rolle des Ich-Erzählers von allen Außenstehenden die Lebensgeschichte der Goodnough-Familie am besten kennt, entfaltet der Autor die zermürbende Eintönigkeit eines fremdbestimmten Lebens, das unter durchaus vorstellbaren anderen Umständen einen glücklicheren Verlauf hätte nehmen können. Mit einfühlsamer Präzision schildert Haruf das Psychogramm eines narzisstischen Patriarchen, der nicht nur seine Frau frühzeitig unter die Erde gebracht hat, sondern auch das Leben seiner Kinder zur Tortur werden ließ. In vielen kleinen, lebensnah inszenierten Episoden wird nach Lymans Weggang deutlich, wie Ediths Lebenskraft unter dem ständigen Druck, die Farm am Laufen zu halten und sich um den psychisch wie physisch angeschlagenen Vater zu kümmern, dahinwelkt, bis sie nur noch einen Ausweg sieht, dem Leid ein Ende zu bereiten.
Auch wenn Haruf und sein Ich-Erzähler früh erkennen lassen, welchen Verlauf die Geschichte nimmt, entfaltet die Erzählung einen packenden Sog um Themen wie Pflichtbewusstsein, zerstörerische Familienbande, aufgegebene Träume und tödliche Verzweiflung, die aus jahrzehntelanger Entbehrung erwächst.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen