Benedict Wells – „Die Wahrheit über das Lügen“

Freitag, 14. September 2018

(Diogenes, 244 S., HC)
Um mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen, hat sich der erfolgreiche Geschäftsmann Henry M. ein Ferienhaus in den Bergen gekauft, weitab vom Stress der Stadt, doch auch in der Naturidylle hängt der Familienvater mit den Gedanken beim gerade abgeschlossenen Zurbriggen-Deal und feiert den Erfolg lieber mit einer einsamen Wanderung zur Bergspitze und schafft es nicht rechtzeitig zur Geburtstagsfeier seines achtjährigen, migränekranken Sohnes zurück. Tatsächlich findet der Mann in nach seiner Rückkehr ein anderes Leben vor. „Die Wanderung“ ist eine von insgesamt zehn Geschichten, die Bestseller-Autor Benedict Wells nach den vier Romanen „Becks letzter Sommer“, „Spinner“, „Fast genial“ und „Vom Ende der Einsamkeit“ in „Die Wahrheit über das Lügen“ versammelt.
Die Geschichten haben etwas Märchenhaftes, Verträumtes und Phantastisches. So muss die verzweifelte neunundzwanzigjährige Schriftstellerin Margo Brodie zwischen der Liebe zu ihrer männlichen Muse und dem Abschließen ihres erfolgsversprechenden Romans entscheiden, spielen zwei unter ungeklärten Umständen in einem Raum eingesperrte Männer beim Tischtennis um ihr Leben, trauert eine einsame Frau um ihren Kater Richard.
Das Herzstück der Sammlung bildet allerdings die 70-seitige Titelgeschichte, in der der Filmemacher Adrian Brooks seinem Interviewer die abenteuerliche Geschichte erzählt, wie er als Pizzabote einst in den Fahrstuhl einer Krawattenfabrik stieg und sich per Knopfdruck ins Jahr 1973 katapultierte, wo er den waghalsigen Plan fasste, George Lucas die Idee zu „Star Wars“ zu stehlen.
„Jeder Kreative, nicht nur George Lucas, braucht Inspiration und stiehlt hier und da bei anderen. Das ist völlig okay, denn für den wahren Künstler steht seine eigene Schöpfung im Zentrum. Ich dagegen stahl Schöpfungen. Ich war nur ein gerissener, mieser Dieb, nichts weiter.“ (S. 176) 
In dieser gut recherchierten, wendungsreichen und atmosphärisch dichten Story führt Wells dem Leser das Kino des New Hollywood äußerst lebendig vor Augen und lässt das Schaffen von Steven Spielberg, George Lucas und Francis Ford Coppola den Rahmen für seine eigene wunderbare Geschichte bilden.
Abgerundet wird die Story-Sammlung durch zwei Geschichten, die aus dem Umfeld von Wells‘ letzten Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ stammen, wobei „Die Nacht der Bücher“ auch losgelöst von der Romanhandlung auf märchenhafte Weise unterhält, „Die Entstehung der Angst“ aber einen ganz konkreten Bezug zum Roman aufweist.
Abgerundet wird „Die Wahrheit über das Lügen“ von der nostalgieschwangeren Geschichte „Das Grundschulheim“, Wells‘ Beitrag zur Anthologie „Unbehauste“, deren Erlöse an die Flüchtlingshilfe gingen, und den einfühlsamen Storys „Die Fliege“ und „Hunderttausend“, mit denen der Autor eindrucksvoll unterstreicht, warum er zu den wichtigsten jungen Autoren der deutschen Gegenwartskultur zählt.
Leseprobe Benedict Wells - "Die Wahrheit über das Lügen"

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