Stephen King – „Ihr wollt es dunkler“

Sonntag, 9. Juni 2024

(Heyne, 736 S., HC) 
Obwohl Stephen King das ausschweifende Format das epischen Romans bevorzugt, um seine Leserschaft mit seinen Geschichten zu fesseln, sind seit Beginn seiner außergewöhnlich erfolgreichen Schriftstellerkarriere immer wieder Sammlungen von Kurzgeschichten erschienen, die ihren ganz eigenen Reiz verströmten – nicht zuletzt für die Filmstudios in Hollywood, die bereits aus Kings erstem, schon 1978 veröffentlichten Sammelband „Night Shift“ ausgewählte Short Stories wie „Manchmal kommen sie wieder“, „Der Rasenmähermann“ und „Kinder des Mais“ zu mehr oder weniger gelungenen Langfilmen verarbeiteten. Bekanntere Beispiele aus späteren Sammlungen sind natürlich „Die Leiche“ (von Rob Reiner unter dem Titel „Stand By Me“ verfilmt) und „Der Nebel“
Neun Jahre nach der letzten Kurzgeschichtensammlung, „Basar der bösen Träume“, ist es nun wieder Zeit für neue Geschichten, die mal zwischen zehn und vierzig Seiten lang sind, gelegentlich aber auch das Ausmaß eines Kurzromans einnehmen. Auf jeden Fall beackert der „King of Horror“ in den zwölf Geschichten in „Ihr wollt es dunkler“ ganz unterschiedliche Sujets und erzeugt ebenso verschiedenartige Stimmungen. 
Eröffnet wird der Reigen mit „Zwei begnadete Burschen“, in der der Sohn eines berühmten, kürzlich verstorbenen Schriftstellers der Frage nachgeht, die auch die Journalistin Ruth Crawford seit einigen Jahren umtreibt: Laird und sein Jugendfreund David „Butch“ LaVerdiere haben nie das Potenzial erkennen lassen, dass aus ihnen irgendwann mal etwas Besonderes werden sollten, und doch sind sie mit einem Schlag in ihren Mittvierzigern berühmt geworden, Laird als Schriftsteller, Butch als Maler. Laird hat Zeit seines Lebens zwar die obligatorischen Interviews absolviert, aber nie Auskunft über den wundersamen Verlauf seiner Karriere gegeben. Erst mit seinem Tod bekommt sein Sohn den Zugang zum Ursprung des „göttlichen Funkens“, der die kreativen Wurzeln der beiden Freunde während eines Jagdausflugs freisetzen sollte… 
In „Der fünfte Schritt“ präsentiert sich King als typischer Horror-Autor, wenn er den Rentner Harold Jamison bei seinem täglichen Spaziergang in den Central Park mit einem normal aussehenden Mann zusammentreffen lässt, der als Alkoholiker gerade die Zwölf Schritte bei den AA durchläuft. Für den jetzt anstehenden fünften Schritt soll der Mann, der sich als Jack vorstellt, einem Fremden von seinen Fehlern erzählen. Jamison lässt sich darauf ein, nicht ahnend, was er mit seinem Einverständnis auslöst… 
Mit „Danny Coughlins böser Traum“ folgt der erste Kurzroman. Die Titelfigur träumt davon, in der Nähe einer „Hilltop Texaco“-Tankstelle einen Hund zu entdecken, der erst eine Hand, dann den dazugehörigen Unterarm aus dem Boden freischarrt. Der Traum ist so real, dass Coughlin sich auf den Weg macht und tatsächlich die teilweise freigelegten Körperteile findet. Doch als er anonym die Polizei informiert, erlebt er sein blaues Wunder. Denn Inspector Franklin Jalbert vom Kansas Bureau of Investigation ist fest davon überzeugt, dass Coughlin den Fund der Leiche von Yvonne Wicker nicht nur geträumt hat, sondern die junge Frau auch selbst ermordet hat. Um das zu „beweisen“ greift Jalbert auch zu unlauteren Mitteln, stellt sich mit seinen Praktiken und Überzeugungen aber auch zunehmend selbst ins Abseits… 
„In meinen Geschichten über das Übernatürliche und Paranormale habe ich mir besonders große Mühe gegeben, die reale Welt so zu zeigen, wie sie ist, und die Wahrheit über das Amerika zu erzählen, das ich kenne und liebe. Manche solcher Wahrheiten sind hässlich, aber wie es in einem Gedicht heißt, werden Narben zu Schönheitsflecken, wo Liebe ist“, schreibt Stephen King im Nachwort zu „Ihr wollt es dunkler“ – einer Hommage an Leonard Cohen
Tatsächlich bekommt Kings Publikum wie so oft in seinen Geschichten den Spiegel vorgehalten, taucht der „King of Horror“ doch immer wieder tief ins kollektive Unterbewusstsein ein, lässt Träume und Erinnerungen lebendig werden, thematisiert Krankheit, Tod und mehr oder weniger schleichenden Wahnsinn. So macht Vic Trenton, der Ich-Erzähler in dem anderen Kurzroman, „Klapperschlangen“, und darüber hinaus auch der Vater des Jungen, der in „Cujo“ einem tollwütigen Bernhardiner zum Opfer gefallen war, die Bekanntschaft einer Frau, die über den Tod ihrer vierjährigen Zwillinge nie hinweggekommen ist und den Kinderwagen mit ihren T-Shirts durch die Gegend kutschiert, als wären die Jungs noch am Leben. 
Nicht alle Geschichten erreichen die Intensität, die die beiden Kurzromane auszeichnet, aber doch die meisten.  

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen