Cormac McCarthy – „Der Passagier“

Montag, 17. Juni 2024

(Rowohlt, 526 S., HC) 
Mit preisgekrönten, u.a. mit dem Faulkner Award, dem American Academy Award, dem National Book Award, dem National Book Critics Circle Award und dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Romanen wie „Die Abendröte im Westen“, „Kein Land für alte Männer“ und „Die Straße“ zählte Cormac McCarthy bis zu seinem Tod im Jahr 2023 im Alter von fast neunzig Jahren zu den bedeutendsten zeitgenössischen Autoren des englischsprachigen Amerikas. Nach dem erfolgreich verfilmten Meisterwerk „Die Straße“ blieb es aber sechzehn Jahre ruhig um den versierten Schriftsteller, ehe er ein Jahr vor seinem Tod die beiden zusammenhängenden Romane „Der Passagier“ und „Stella Maris“ über ein offensichtlich inzestuöses Geschwisterpaar mit außergewöhnlichen naturwissenschaftlichen Talenten veröffentlichte. Während das um die Hälfte kürzere „Stella Maris“ die Geschichte aus der Perspektive der begnadeten, aber leider psychisch labilen Mathematikerin Alicia erzählt, führt uns zunächst ihr Bruder Bobby Western in die ungewöhnliche Familiengeschichte ein. 
Als sich der Bergungstaucher Bobby Western im Jahr 1980 mit seinem Kumpel Oiler bei Pass Christian in Mississippi eine abgestürzte Jet Star untersucht, entdeckt er, dass nicht der Flugschreiber fehlt, sondern auch der zehnte Passagier. 
Wenig später wird Western von zwei Männern mit geheimnisvollen Dienstausweisen in die Mangel genommen. Nachdem auch er auch seine Wohnung durchwühlt vorfindet, entschließt sich Western, sich auf den Weg zu seiner Schwester Alicia zu machen, die in Wisconsin in einem Sanatorium untergebracht war. Da der mysteriöse Geheimdienst auch Westerns Auto, Bankschließfach und Konten eingesackt hat, gestaltet sich Westerns Reise problematisch. 
Er sucht seine alten Kumpels auf und versucht sich einen Reim darauf zu machen, was die Tätigkeit seines Vaters, der als Forscher mit Oppenheimer zusammengearbeitet hat und so mitverantwortlich für die Toten von Hiroshima und Nagasaki war, und der von der Mathematik besessene Geist seiner Schwester mit seinem eigenen Leben zu tun hat. 
„Wer bin ich, was bin ich, wo bin ich. Aus welchem Stoff ist der Mond geprägt. Wie lautet der Plural von Durst. Wo finde ich einen guten Grill. Ich suche nach Schwachstellen in deiner Haltung. Abgesehen von den offensichtlichen eines Nichtteilnehmers. Wie Jimmy Anderson sagt: Das Einzige, was schlimmer ist, als zu verlieren, ist, nicht zu spielen. Ich muss sagen, dass die meisten Schrecknisse zumindest lehrreich sind, aber bei Frauen lernt man überhaupt nichts. Woran liegt das? Ich weiß, ich bin mit dieser Überzeugung nicht allein. Besteht der Zweck von Schmerz nicht in der Belehrung? Tja, darauf ist gepisst.“ (S. 414) 
Cormac McCarthy macht es seiner Leserschaft nicht leicht. Die meisten Kapitel von „Der Passagier“ werden mit kursiv gedruckten Episoden eingeleitet, in der ein junges Mädchen mit einem sie hartnäckig verfolgenden Zwerg merkwürdige Gespräche führt, die – wie sich später herausstellt – Gedankenspiele der schizophrenen Alicia sind. 
Den Kern der Geschichte macht allerdings die unter schwierigsten Bedingungen vollzogene Reise von Bobby Western aus, wobei das Rätsel des verschwundenen Passagiers eine Krimihandlung einleiten könnte, die allerdings nicht weiterverfolgt wird. Stattdessen rücken die Begegnungen in den Mittelpunkt, die Bobby Western nach seiner erzwungenen Flucht unterwegs macht. 
Dabei werden Entdeckungen im Bereich der Physik ebenso ernsthaft und – leider auch unnötig ausführlich – diskutiert wie die Theorie, wie John F. Kennedy wirklich ermordet worden ist. Die Erbschuld, die Western durch die Tätigkeit seines Vaters mit sich trägt, dringt dabei immer wieder durch, ebenso die Verzweiflung, mit der sich seine Kumpels durch das Leben schlagen. 
So brillant McCarthy einmal mehr mit der Sprache umgeht, so verworren kommt doch der Plot mit seinen unzähligen Nebenfiguren und den lamentierenden Gesprächen rüber. „Der Passagier“ ist vielleicht McCarthys am wenigsten zugängliches Werk und wird deshalb wohl auch nicht so ins kulturelle Gedächtnis eingehen wie seine früheren, zurecht preisgekrönten Romane. 

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