Während sein Vater als Bauer den Lebensunterhalt für die Familie besorgt, heuert Michels älterer Bruder Joseph „Jojo“ Flavent im Alter von zwanzig Jahren als Bergmann in der Zeche von Liévin-Lens an. Er bekommt eine eigene kleine Wohnung, die ihm die Zeche fast umsonst vermietet, und hat mit Sylwia schon seine zukünftige Frau gefunden. Doch das junge Familienglück währt nur sieben Jahre. Am 27. Dezember 1974 kommt es in Schacht 3b zum großen Unglück. 42 Bergarbeiter kommen nach einer Explosion, die auf Sparmaßnahmen und Nachlässigkeit bei den Sicherheitsvorkehrungen zurückzuführen ist, ums Leben. Auch Joseph wird schwerverletzt in das Krankenhaus von Bully-les-Mines gebracht, wo er allerdings am 22. Januar 1975 stirbt, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben.
Doch bei all den nachfolgenden Zeremonien und Gedenkfeiern wird immer nur von den 42 Bergarbeitern gesprochen, die am Tag des Unglücks den Schacht bereits tot aus den Trümmern geborgen wurden. Das Gericht befindet, dass der Bergwerksgesellschaft keine grobe Fahrlässigkeit nachzuweisen sei, der Betriebschef wird allerdings zu 10000 Franc Geldstrafe verurteilt.
Der damals 16-jährige Michel versucht das Andenken seines Bruders zu bewahren, fängt in der Werkstatt, in der bereits Jojo seine Lehre absolviert hat, eine Ausbildung zum Automechaniker an, wird LKW-Fahrer und heiratet mit Cécile eine Frau, die er an den Krebs verliert. Seine Mutter findet ihren Mann eines Morgens aufgehängt in seinem Stall, in seinem letzten Brief heißt es: „Michel, räche uns an der Zeche.“
Tatsächlich sammelt Michel über Jahre alle Informationen zu dem Unglück, Presseberichte zu den Prozessen, und hat nach Jahren einen Schuldigen ausgemacht: den Vorarbeiter Lucien Dravelle. Unter falschem Namen erschleicht er sich über vierzig Jahre nach dem Tod seines Bruder das Vertrauen des mittlerweile gebrechlichen und von der Arbeit in der Zeche stark gezeichneten Mannes und beginnt, seinen Racheplan in die Tat umzusetzen. Doch nicht nur bei den Gesprächen mit dem schuldbewussten Dravelle kommen auch Dinge ans Licht, die Michel jahrelang verdrängt hat …
„Ungeachtet aller Bekundungen und Versprechungen endete das Martyrium unseres Volks an den Grenzen des Artois. Das Land teilte unsere Trauer nicht. Als es von der Kohle Abschied nahm, vergaß es, Abschied von seinen Bergleuten zu nehmen. Die Welt, die sie verkörperten, gab es nicht mehr. Jojo und seine Freunde waren zu spät gestorben, um noch von der Nation verteidigt zu werden.“ (S. 107)Der bekannte französische Journalist und Schriftsteller Sorj Chalandon hat sich auch mit seinen in Deutschland erschienenen Romanen ganz unterschiedliche Sujets verarbeitet. Mit „Mein fremder Vater“ arbeitet er den Tod seines tyrannischen Vaters auf, „Rückkehr nach Killybegs“ präsentiert sich als Biografie eines zum Spion des britischen Geheimdienst konvertierten IRA-Kämpfers, „Die vierte Wand“ ist im Bürgerkrieg in Beirut angesiedelt, und „Die Legende unserer Väter“ spielt geschickt mit den Motiven des Erzählens.
Chalandons neuer Roman erweist sich als komplexes Konstrukt von Erinnerungen, Schuld und Sühne, Vergessen, (Selbst-)Täuschung und Verzeihen. Indem er Michel Flavent als Ich-Erzähler die Ereignisse aus einer anfänglich großen Distanz von über vierzig Jahren rekapitulieren lässt, entsteht zunächst eine eindringliche Milieustudie des Bergarbeiterlebens in den 1970er Jahren, zeigt auf, unter welchen körperlichen und psychischen Belastungen die Bergleute ihrer Arbeit nachgehen, welche unauslöschlichen Spuren der Kohlestaub bei den Kumpels hinterlässt, wie unverantwortlich die Direktion mit dem Leben ihrer Arbeiter umgeht, um das Letzte aus den Schächten herauszuholen. Aber „Am Tag davor“ handelt auch von einer ganz persönlichen Geschichte, davon, wie ein tragisches Ereignis die Erinnerungen prägen und verfälschen kann. Erst als Michel sich selbst in einem Prozess wiederfindet, entwirrt der Autor geschickt das Konstrukt, das sich Michel sein Leben lang aufgebaut hat und auf die Nacht vor dem Unglück zurückgeführt wird, als Michel mit seinem geliebten Bruder auf dessen Moped durch die Straßen seiner Heimatstadt rast.
So gelingt Chalandon nicht nur ein stimmiges Portrait des Lebens als Bergarbeiter, sondern auch ein meisterhaft erzählte Geschichte über die Macht der Einbildung und Verdrängung, über Schuld und Vergebung.
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