David Keenan – „Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird“

Mittwoch, 17. April 2019

(Liebeskind, 320 S., HC)
Airdrie, ein kleines Kaff irgendwo zwischen Glasgow und Edinburgh, ist in den 1980er Jahren ebenso ein Schmelztiegel für die verrücktesten künstlerischen Ideen wie wahrscheinlich jedes andere Kaff im britischen Königreich, vor allem für musikalische Ausdrucksformen wie Post-Punk, Wave, Avantgarde und Industrial, aber auch die Heimat von Möchtegern-Philosophen, -Mystikern, -Künstlern und -Schriftstellern. So unterhält der Sci-Fi-, Horror- und Existenzialismus-Freak Ross Raymond zusammen mit Johnny McLaughlin das Fanzine „A Night is a Morning That You Hasten to Light“, für deren erste Ausgabe sie Big Patty interviewt haben. Auf den Plattentellern drehen sich die Ramones, Can, Public Image Ltd., Pere Ubu, The Gun Club, Roxy Music, Nurse With Wound, Johnny Thunders und die Stooges; das Geld für die Platten wird mit Jobs als Zeitungsausträger, im Blumenladen oder als Küchenhilfe verdient; in der Freizeit hängt man in Bars und Cafés ab, wo sich die vermeintliche Szene trifft.
Raymond läuft Patty, der schon in einigen anderen Bands gespielt hat, immer wieder über den Weg, bekommt so aus erster Hand mit, wie er mit dem verträumten Sänger Lucas Black, der Bassistin Mary Hanna und Remy Farr (Bass, Keyboards) die Band Memorial Device gründet, die mit ihrer Zwei-Akkorde-Jamsessions wie „autistische Joy Division auf dem Grund eines Brunnens“ klingen. Sie absolvieren einige Live-Auftritte und veröffentlichen ab 1983 eine LP und diverse Kassetten, doch als das Gerücht umgeht, dass Sonic Youth die Band 1986 im Vorprogramm ihrer Show in Glasgow haben wolle, ist Memorial Device bereits Geschichte …
„Manche Leute wurden ‚Dichter‘, andere wurden ‚Musiker‘, aber das Gute an einer Szene wie der in Airdrie war, dass alle von Natur aus so durchgeknallt waren, dass gar niemand versuchte, einer vorgegebenen Vorstellung des Möglichen zu entsprechen. Es war unmöglich, möglich zu sein. Das brachte die ganze Szene auf den Punkt.“ (S. 261) 
Ähnlich wie sein ebenfalls aus Schottland stammender Kollege John Niven („Kill Your Friends“, „Music from the Big Pink“) stammt auch David Keenan aus der Musikszene. Während Niven allerdings als A&R-Manager bei einer Plattenfirma für das Entdecken neuer Acts und die kommerzielle Vermarktung ihrer Musik verantwortlich gewesen ist (und diese Tätigkeit auf bitterböse, schwarzhumorige Weise in seinen besten Werken thematisiert hat), ist Keenan in den Neunzigern als Musiker in verschiedenen schottischen Underground-Bands auf der anderen Seite des Musikgeschäfts tätig gewesen ist und legt mit „Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird“ eine wunderbar authentisch wirkende Darstellung der verschiedensten Ambitionen junger Menschen in einer an sich unbedeutenden schottischen Kleinstadt vor.
Zwar beginnt der Roman mit einem Rückblick und einer Einführung des Ich-Erzählers Ross Raymond, der die Entwicklung von Memorial Device von Beginn an dokumentiert, aber dann kommen in den folgenden Kapiteln auch sein Co-Autor und Fanzine-Mitherausgeber Johnny McLaughlin, der Künstler Robert Mulligan, Groupies, Konzertbesucher und andere Zeitzeugen zu Wort, die jeweils in ihrem eigenen Ton, ihrer individuellen Sprache wiedergeben, wie sie das Leben in Airdrie empfunden haben, und sich an die Begegnungen mit verschiedenen Mitgliedern der Band erinnern.
Herausgekommen ist dabei weit mehr als die vielseitige Biografie einer fiktiven Post-Punk-Band, die nie den Durchbruch geschafft hat, sondern eine auch stilistisch breitgefächerte Milieustudie, die auf lebendige Weise nachzeichnet, wie Jugendliche in einem so unbedeutenden Nest zu sich selbst zu finden versucht haben, wie verschiedene Begegnungen den eigenen Lebensweg prägten, neue Ideen freisetzten und Persönlichkeiten bildeten. Das gängige Klischee von Sex, Drugs & Rock’n’Roll bekommt hier einen pulsierenden, dreckig-abgestumpften Beat verpasst, denn Keenan gelingt es, jeden einzelnen der hier portraitierten Typen interessante Aspekte abzugewinnen, die sie so lebensecht vor Augen entstehen lassen. Vor allem führt der Roman eindrücklich vor Augen, wie Musik buchstäblich (auch und gerade die eigene) die Welt verändern und unvorstellbare Energien freisetzen kann. Abgerundet wird der Roman durch eine kommentierte Diskografie von Memorial Device, ein ausführliches Personenregister und ein leider über 30-seitiges Stichwortregister, in dem sicher niemand etwas nachschlagen wird.
Leseprobe David Keenan - "Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird"

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