Cormac McCarthy – „Stella Maris“

Mittwoch, 10. Juli 2024

(Rowohl, 240 S., HC) 
16 Jahre nach seinem letzten, auch noch erfolgreich mit Viggo Mortensen in der Hauptrolle verfilmten Roman „Die Straße“ widmete sich der am 13. Juni 2024 verstorbene Pulitzer- und National-Book-Award-Preisträger Cormac McCarthy mit seinen letzten beiden Werken einmal mehr den großen Fragen der Menschheit, thematisierte Liebe, Wahnsinn und die Wissenschaften. 
Das über 500-seitige Epos „Der Passagier“ schilderte die Geschichte des Bergungstauchers Bobby auf der mysteriösen Suche nach einem Vermissten. Von seiner jüngeren, hochintelligenten Schwester Alicia Western erfahren wir vor allem, dass sie zwar eine geniale junge Mathematikerin und virtuose Violinistin gewesen ist, aber Selbstmord verübt hat, nachdem bei ihr paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden war. „Stella Maris“ stellt weniger eine Fortsetzung von „Der Passagier“ dar, sondern einen Teil der ganzen Geschichte aus der Perspektive von Alicia. 
Nach zwei früheren Aufenthalten in dieser Einrichtung kehrt die zwanzigjährige Alicia Western im Oktober 1972 in die psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt Stella Maris zurück und begibt sich in eine Therapie, die allein aus Gesprächen mit dem dreiundvierzigjährigen Psychiater Dr. Cohen besteht. 
Zu mehr hat sich die Doktorandin der Mathematik an der Universität von Chicago nicht bereiterklärt. Es erschien ihr der einzig mögliche Zufluchtsort, da sie von der psychiatrischen Klinik St. Coletta, in der Rosemary Kennedy untergebracht war, nicht angenommen wurde. In ihren Gesprächen klammert sie ihre Beziehung zu ihrem Bruder Bobby aus, erwähnt aber, dass sich ihre Eltern beim „Manhattan Project“ kennengelernt haben, wo ihr Vater als Physiker wirkte und ihre Mutter damit beschäftigt war, Uran anzureichern. Alicia spricht in ihren Therapiesitzungen vor allem über das Wesen der Mathematik, über die Natur der Probleme, die Grothendieck, Gödel, Riemann, Poincaré und Noether angetrieben haben, aber auch über die Geister, die sie ab ihrem elften Lebensjahr wahrzunehmen begann, vor allem ein Zwerg mit Flossen statt Händen. Alicia streift in ihren Beschreibungen verschiedene Überlegungen zu wissenschaftlichen Disziplinen, findet den Bogen von Jung und Freud zu Wittgenstein
Am Ende spricht sie dann doch über die inzestuöse Liebe zu ihrem Bruder, über ihre Selbstmordgedanken und den Wahnsinn. 
„Wenn wir noch an Hexen glauben würden, würden wir sie auch verbrennen. Hässliche Weiber mit Hakennasen würden auf den elektrischen Stuhl geschnallt. Anscheinend hat nie jemand bemerkt, dass die stereotype Hexe jüdische Züge tragen soll. Ich glaube, der Skeptizismus ist ganz okay. Wenn man ertragen kann, was damit einhergeht. Ich bin froh, dass man mich gut behandelt, aber ich weiß, dass das nicht unbedingt so bleiben muss. Wenn diese von der Vernunft geschaffene Welt irgendwann den Bach runtergeht, wird sie die Vernunft mitnehmen.“ (S. 171) 
Ähnlich wie „Der Passagier“ stellt „Stella Maris“ keine leichte Lektüre dar, auch wenn der Aufbau als reines Zwei-Personen-Stück konzipiert ist, als einfach nur aufeinander folgende Gesprächssitzungen zwischen Psychiater und Patient. Dabei wird deutlich, dass Cormac McCarthy, der seit Jahrzehnten dem Santa Fe Institute angehört, mehr der Wissenschaft als der Literatur zugetan ist. Die mathematischen Theorien, die wie zuvor schon auf dem Gebiet der Physik in „Der Passagier“ thematisiert wurden, könnten schon mal den Leser in Versuchung führen, das Buch beiseite zu legen, doch die einzigartig gekonnte, karge Sprache des vielleicht bedeutendsten zeitgenössischen amerikanischen Schriftstellers lässt einen durchhalten, und dann geht es auch mit weniger komplizierten Sachverhalten weiter, die allerdings durchweg den brillanten Geist durchschimmern lassen, der die Zwanzigjährige durchzieht. 
„Stella Maris“ erzählt auf spannende Weise, wozu der menschliche Geist im Spannungsfeld zwischen Liebe, Wissenschaft, Kunst und Spiritualität in der Lage ist – im schöpferischen wie zerstörerischen Sinne. 

 

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