(Diogenes, 302 S., HC)
Der Stuttgarter Moritz Heger hat sich nach seinem Studium zunächst der Freien Kunst, dann der Germanistik, evangelischen Theologie und Theaterwissenschaften nicht darauf beschränkt, allein als Gymnasiallehrer seine Brötchen zu verdienen. Vielmehr hat er sich auch dem Jugendtheater und der Schriftstellerei zugewandt. In seinem 2021 veröffentlichten Debütroman „Aus der Mitte des Sees“ musste sich ein Mönch an der Schwelle zu seinem 40. Geburtstag mit der Frage auseinandersetzen, ob er die Leitung des Klosters übernehmen oder sich dem Leben vor den Klostermauern widmen soll.
In einem ähnlichen Kontext bewegt sich auch Hegers neuer Roman „Die Zeit der Zikaden“, zwingt der Autor auch diesmal seine Figuren, sich intensive Gedanken über die Zukunft ihres Lebens zu machen.
Mit 36 Jahren im Schuldienst verabschiedet sich die 63-jährige Alex („Fraumaaattmann“) Mattmann in den Ruhestand. Dabei heißt es, nicht nur die langjährige Affäre mit ihrem Schuldirektor, sondern auch das von ihr geleitete Theater-AG und vor allem die Mietwohnung hinter sich zu lassen. Ein jüngst erworbenes Tinyhouse auf Rädern steht mehr als nur symbolisch für ihren Neuanfang.
Die Einladung zur Hochzeit ihrer ehemaligen Schülerin Wibke kommt Alex gerade recht. Während der Feier lernt sie Wibkes Schwiegervater Johann kennen, einen 56-jährigen Bestatter, der sein Unternehmen in die Hände seines Sohnes legt und sich nach Veränderung sehnt, da seine Ehe mit Marion gefühlt nur noch auf dem Papier existiert.
Als sie den Vorschlag macht, dass er doch für ein paar Monate nach Ligurien gehen solle, um in dem geerbten Steinhaus des Malers Renat nach dem Rechten zu sehen, fällt ihm die Entscheidung leicht, doch kann er das italienische Lebensgefühl nicht unbeschwert genießen, da sich Marions und seine gemeinsame Tochter Nora von ihnen abgewandt hat. Bevor sich Johann aber in seinem zeitweisen depressiven Gemütszustand verliert, lädt er Alex ein, ihn in ihrem Tinyhouse zu besuchen. Der Abstecher zu ihrer alten Freundin Verena entpuppt sich auch nicht als besonders erquicklich, weshalb Alex der Einladung nach Italien gern folgt.
Bei intensiven Gesprächen über das Leben, die Liebe, den Tod und die Zukunft kommen sich Alex und Johann schnell näher. Und dann beschließt Johann, ein Portrait von Alex zu malen.
„Am Ende soll sie sich, ohne das abweisen zu können, erkennen, und sie soll erstaunt sein, beides, beides zugleich. Er muss, auch wenn das bei der möglichst getreuen Darstellung des Äußeren paradox klingt, in die Tiefe vordringen. Kurz gesagt: Er will Schönheit. Ein Übersetzer sein. In den Fluss springen, Risiko.“ (S. 161)
Während der Mönch Lukas in „Aus der Mitte des Sees“ noch in der Mitte des Lebens stand, um eine Entscheidung über sein Leben für Gott oder in der Welt dort draußen zu treffen, stehen Alex und Johann in Hegers Zweitwerk „Die Zeit der Zikaden“ an einem weit späteren Wendepunkt in ihrem jeweiligen Leben und müssen sich darüber klar werden, wie sie ihre Zeit nach einem mehr oder weniger erfüllenden Arbeitsleben verbringen wollen.
Heger reduziert die Handlung dabei aufs Wesentliche, konzentriert sich vielmehr auf die Inneneinsichten seiner beiden Hauptfiguren und baut die Spannung eher durch die tiefsinnigen Dialoge zwischen Alex und Johann auf. „Du tust mir gut“, sagt Johann schon auf der Hochzeitsfeier seines Sohnes, später dann: „Du hast mich entkorkt.“
Es ist die Art der Fragen, des Zuhörens, der Antworten, mit der sie mehr über den jeweils anderen, aber auch über sich selbst und schließlich über die Beziehung zueinander erfahren. Heger lässt Alex und Johann in Gedanken immer wieder in die Vergangenheit abschweifen, um die jeweilige Persönlichkeit herauszukristallisieren und so den Boden zu bereiten für die neuen Wege, die sie vielleicht in diesem traumhaft schönen Landstrich zu beschreiten wagen. Die eindringliche Sprache, die gelungene Figurenzeichnung und der gesellschaftsreflektierende Ansatz machen „Die Zeit der Zikaden“ zu einem anregenden und einfühlsamen Sommerroman.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen