Hanns-Josef Ortheil – „Das Kind, das nicht fragte“

Samstag, 26. Oktober 2024

(btb, 432 S., Tb.) 
Der 1951 in Köln geborene Hanns-Josef Ortheil ist dafür bekannt, dass seine Romane stark autobiografisch geprägt sind. Das kommt vor allem in seinem 2012 veröffentlichten Roman „Das Kind, das nicht fragte“ zum Ausdruck. Ortheil musste als jüngster von fünf Söhnen nicht nur den Tod seiner Eltern innerhalb von acht Jahren verkraften, sondern auch seiner Brüder, die während des Zweiten Weltkriegs und danach gestorben waren. Während die Mutter durch den Verlust ihrer Kinder ihre Sprache verlor, fand der jüngste Ortheil sie erst im Alter von sieben Jahren. Eine ganz ähnliche Biografie weist Ortheils Ich-Erzähler in „Das Kind, das nicht fragte“ auf. 
Der in Köln lebende Ethnologe Dr. Benjamin Merz fliegt im April nach Catania, um in Mandlica an einem Buch mit dem Titel „Die Stadt der Dolci“ zu arbeiten. Er mietet sich in eine Pension ein, die von Maria geführt wird. Sie ist, wie Merz bald erfährt, vor fünfzehn Jahren mit ihrer Schwester Paula aus Bayern während einer Ferienreise nach Sizilien gekommen und geblieben, nachdem sich Paula in Lucio verliebt hatte. Die geplante Hochzeit kam jedoch nicht zustande, stattdessen heiratete Maria den Restaurantbesitzer, doch gehen sie mittlerweile ebenso getrennte Wege. Während Marias Aktivitäten ganz auf den Pensionsbetrieb beschränkt sind, hilft Paula im Restaurant, das zur Pension gehört, aus und arbeitet als Übersetzerin. 
Im Gegensatz zur scheu wirkenden Paula zeigt sich Maria jedoch als äußerst mitteilsam. Sie vermittelt ebenso die ersten Kontakte für Merz‘ ethnologischen Forschungen wie der Buchhändler Alberto. Mit seiner Fähigkeit, zuzuhören, die richtigen Fragen zu stellen und viele Dinge zu ahnen, die zuvor ungesagt blieben, macht Merz in der Stadt auf sich aufmerksam, bis auch Bürgermeister Enrico Bonni bei einem Gespräch im Rathaus den Ethnologen bittet, Mitglied einer von Prof. Matteo Volpi geleiteten Kommission zu werden, die ein in fünf Jahren geplantes Großereignis zur Feier der Kultur der sizilianischen Dolci vorbereitet. Mittlerweile hat Merz auch Paula näher kennengelernt und sich in sie verliebt. 
 „Ich tue so, als ginge die Zeit nicht voran, ich sitze da und warte darauf, dass ich wieder in dieser Vergangenheit ankomme. In dieser Vergangenheit möchte ich dicht neben Paula sitzen, und ich möchte eine Art von Zeit empfinden, die nicht zu vergehen scheint. Zeit an und für sich! Stillstehende Gegenwart! Keine Gedanken an ein Vorher und Nachher, sondern die pure Präsenz, die Fülle der Zeit!“ (S. 165) 
Doch dann ist da auch noch Adrianna, die ebenso intelligente wie attraktive und selbstbewusste Tochter des Bürgermeisters, die Merz den Kopf verdreht… 
Ist einem die Biografie von Hanns-Josef Ortheil vertraut, kommt man nicht umhin, „Das Kind, das nicht fragte“ als Vergangenheitsbewältigung, als Familientherapie mit einem Hollywood-mäßigen Happy End zu begreifen. Indem der Autor seinen Protagonisten in das Sehnsuchtsland Italien reisen und ins Gespräch mit den Einwohnern einer sizilianischen Hochburg der Dolci-Produktion kommen lässt, macht die Figur einen erstaunlichen Entwicklungsprozess durch. 
Nachdem Merz als kleiner Junge erst durch die angeleitete Zwiesprache mit dem Herrn in der Kirche angefangen hatte, Fragen zu stellen und ein Verständnis für die Welt zu entwickeln, wird in der fiktiven Stadt Mandlica aus dem versierten Fragesteller und Beobachter selbst ein Erzähler des eigenen Lebens, aber bis dahin müssen natürlich einige Hürden genommen werden. 
Am interessantesten stellt sich schnell die Dreiecksgeschichte zwischen Maria, ihrer Schwester Paula und dem Restaurantbesitzer Lucio heraus, und der Ethnologe macht zunächst nicht den Eindruck, als würde er dieser Konstellation eine zusätzliche Dynamik verleihen können. 
„Das Kind, das nicht fragte“ präsentiert sich als leichter Feel-Good-Roman, überzeugt vor allem in der Darstellung des sizilianischen Alltagslebens und als Lehrbuch zur Ethnologie, weniger als Liebesroman. Vor allem die Episode mit Adrianna wirkt überzogen und wenig glaubwürdig, doch als selbsttherapeutischer Ansatz erfüllt der Roman sicher seinen Zweck. 

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