(Claassen, 1152 S., HC)
Der 1979 im norwegischen Stavanger geborene Johan Harstad
hat sich zumindest in seiner Heimat seit seinem 2005 veröffentlichten und 2006
auch auf Deutsch erschienenen Romandebüt „Buzz Aldrin wo warst du in all dem
Durcheinander“ zu einem preisgekrönten Kult-Autor entwickelt, der sich
bereits mit dem über 1200-seitigen letzten Roman „Max, Mischa & die
Tet-Offensive“ nur mit einer kleinen Gruppe von Menschen beschäftigte, die
er allerdings über einen Zeitraum von vierzig Jahren begleitete und dabei große
Themen des 21. Jahrhunderts wie die Haltung zu Heimat, Kunst, Moral, Krieg und
individuellen Vorstellungen von Glück und Geborgenheit abhandelte. Ähnlich
ambitioniert präsentiert sich Harstads neues Epos mit dem vertrauten
Titel „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, der auf die revolutionären
Utopien der Pariser Mai-Unruhen und die politische Aufbruchsstimmung um 1968 verweist.
Der norwegische Wissenschaftler Ingmar Olsen nimmt im Jahr
2018 an einer Konferenz rund um den Umgang mit radioaktivem Abfall in Warschau teil,
wo er auch Edvard Hella wiedertrifft, den Vater von Ebba, mit der Ingmar in seinen
Jugendzeiten viel abhing. Ebbas Vater hatte Ingmar einst zum Studium der
Kernphysik und Geologie animiert. Schließlich sind Ingmar und seine Freunde
Jonatan, Peter und Ebba in Forus aufgewachsen, einem Vorort von Stavanger, der
eigentlich als Sitz der meisten Ölfirmen in Finnland bekannt ist und wo mithilfe
eines sogenannten Kubikel-Reaktors Energie gewonnen werden sollte. Ingmar, der
seit elf Jahren in Finnland lebt und arbeitet, wird während der Konferenz von einem
Mann namens Cecil Bjornsen angesprochen, der in Virginia, Minnesota arbeitet
und Forus ebenfalls kennt.
Das Gespräch lässt Ingmar daran erinnern, wie erst
Peter, dann Ebba und schließlich Jonatan und Ingmar 1998 den Ort für immer
verlassen haben, dann führen die Erinnerungen weiter zurück zu dem Zeitpunkt,
als der Kernphysiker Edvard Halla mit seiner Familie nach Forus zieht, im dort das
Kubikel-Projekt zu leiten. So lernen die drei Freunden Hallas Tochter Ebba kennen,
mit der sie nicht nur abhängen, sondern sich auch in sie verlieben, aber zunächst
ist es Jonatan, der mit Ebba zusammenkommt und nun Ingmar von einem
Containerschiff aus anruft. Jonatan hat auch im Keller eines merkwürdigerweise leerstehenden
Hauses eine unliebsame Begegnung mit einem schwarzen Artefakt gemacht, das ihn
in den Wahnsinn trieb.
Aber nicht nur Jonatan hat diesen radioaktiven Stein berührt,
auch ein Meteorologe leidet nach dem Kontakt mit ihm unter dem außergewöhnlichen
Blick in die Zukunft und den Lauf der Geschichte. Später sind Agenten
verschiedener Nationen auf der Jagd nach diesem mysteriösen Stein. Die Handlung
erstreckt sich über Jahrzehnte und teils bis hin zu exotischen Orten wie Insel
Tristan da Cunha im Südatlantik, doch kehrt der Ich-Erzähler Ingmar immer
wieder zu den Jahren seiner unvergesslichen Jugend zurück…
„Es kommen unglaublich viele Dinge zusammen, aber unangemessen vereinfacht und kurz gefasst geht es vor allem um das Gefühl an jenem Abend, wir hätten eingesehen, dass unsere Leben, wie wir sie kennen und endlich lieben gelernt hatten, für immer vorbei wären und dass wir von nun an alle guten Tage damit vergleichen würden, wie es uns ging, als wir noch nicht darüber nachdachten, wie es uns ging, und dass sie bestenfalls auf dem zweiten Platz landen könnten.“
Johan Harstad hat mit „Unter dem Pflaster liegt
der Strand“ einen monumentalen, fast schon monströsen Roman vorgelegt, an
dem er immerhin acht Jahre gearbeitet und mit allerlei (teils wirklich unnützen)
Fakten beispielsweise zur Berechnung der Lastenverteilung von Containern auf
den Schiffen oder amüsanten Anekdoten wie der zum Wohnen einladenden Haarpracht
von Europe-Sänger Joey Tempest gefüllt hat.
Thematisch packt der Autor nicht
weniger als eine sorgfältige Aufarbeitung der Atomenergie an, von der Erfindung
über die verheerende Verwendung als Kampfmittel im Krieg und die Katastrophen wie
dem Reaktorunfall in Tschernobyl bis zu den (fiktiven) Experimenten des
Kubikel-Reaktors. Zusammengehalten wird der weitverzweigte Plot durch die Coming-of-Age-Geschichte
der Freunde Ingmar, Peter, Jonatan und Ebba, die sich nach 1998 in alle Winde –
sogar bis nach Mexiko – verstreuen und die viel miteinander durchgemacht haben.
Es ist dabei nicht immer leicht, den manchmal seitenlangen (!) Sätzen zu folgen
oder die Sprünge durch Zeit und Raum mitzumachen.
Kaum hat man sich in einen
neuen Subplot eingelesen und eingelebt, ploppt schon das nächste Kapitel im
Irgendwo und Irgendwann auf. Wer allerdings die Muße und Geduld hat, sich durch
dieses imposante Werk zu wühlen, wird mit durchaus klugen und anregenden Gedanken
zur Selbstreflexion belohnt, über die Art und Weise, wie wir in Zukunft leben wollen.
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