Stephen King – „Billy Summers“

Freitag, 13. August 2021

(Heyne, 720 S., HC) 
Die über 45-jährige Schriftstellerkarriere des Bestseller-Autors Stephen King wird nach wie vor mit der Bezeichnung „King of Horror“ umschrieben, doch hat der im US-Bundesstaat Maine geborene und nach wie vor lebende Schriftsteller immer wieder beeindruckende Werke jenseits des mit ihm untrennbar verbundenen Genres veröffentlicht. Nach dem mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichneten Krimi „Mr. Mercedes“ legt King mit „Billy Summers“ nun einen weiteren Roman vor, der eher in der Tradition von Charles Dickens als Edgar Allan Poe steht. 
Nachdem Billy Summers seinen Kriegsdienst als Scharfschütze im Irak abeleistet hat und mit ansehen musste, wie viele seiner Kameraden in der Hölle von Falludscha umgekommen sind, verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Auftragskiller. Durch seinen Mittelsmann Bucky bekommt Billy einen ebenso ungewöhnlichen wie lukrativen Auftrag zugeschanzt. Er soll für Nick Majarian den bekannten Frauenschläger und Mörder Joel Allen beseitigen. Der sitzt gerade in Los Angeles seine Haftstrafe ab und hofft, bei einer Anhörung vor Gericht in der Südstaaten-Kleinstadt Red Bluff einen Deal aushandeln zu können. 
Bevor es dazu kommt, soll Billy Joel Allen vom gegenüberliegenden Bürogebäude mit einem gezielten Schuss ausschalten. Dafür soll er ein fürstliches Honorar in Höhe von zwei Millionen Dollar erhalten, ein Viertel davon bei Vertragsabschluss. Da aber niemand vorhersagen kann, wann diese Anhörung stattfindet, muss sich Billy auf eine vielleicht mehrere Wochen oder gar Monate währende Wartezeit einrichten. Deshalb haben ihm seine Auftraggeber eine Tarnung als Schriftsteller mit dem Namen David Lockridge verpasst, der im Gerard Tower an seinem neuen Buch arbeitet. 
Da Billy die ganzen Umstände und die Beteiligung von zwielichtigen Geschäftsmännern wie Ken Hoff und Georgio Piglielli nicht ganz geheuer sind, reaktiviert er eine weitere Tarnung, mietet sich als Dalton Smith und in Verkleidung eine weitere unscheinbare Wohnung und findet sowohl als David Lockridge als auch als Dalton Smith schnell Kontakt zu seinen Nachbarn. Die Wartezeit bis zur Ausführung seines eigentlichen Jobs vertreibt sich Billy tatsächlich mit dem Schreiben. Da er zwar ein eifriger Leser ist und längst nicht so einfältig ist, wie er seinen Auftraggebern gegenüber erscheinen will, aber über keinerlei Erfahrung im Schreiben verfügt, beginnt er mit seiner Lebensgeschichte. Billy, der als kleiner Junge gezwungen war, den Freund seiner Mutter zu erschießen, nachdem dieser Billys Schwester Cassie den Brustkorb eingetreten hatte, schreibt vor allem seine Erlebnisse in der Army nieder und stellt fest, dass er Spaß daran hat. Schließlich rückt der Auftrag in Nähe, den Billy souverän ausführt. Den zuvor verhandelten Fluchtplan nimmt er jedoch nicht in Anspruch, sondern versteckt sich als Dalton Smith solange in seiner Tarnunterkunft, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Doch als drei junge betrunkene Männer eines Nachts die zuvor vergewaltigte Alice aus ihrem Van am Straßenrand ablegen, beginnt für Billy eine ganz außergewöhnliche Odyssee, auf der Billy sich vor allem an den Typen rächen will, die ihn reinzulegen versucht haben, sich aber auch rührend um Alice kümmert … 
„Ist es gefährlich, dass sie ihm so viel bedeutet? Natürlich ist es das. Und ist es ebenso gefährlich, was er für sie bedeutet – dass sie ihm vertraut und sich auf ihn verlässt? Natürlich ist es das. Aber wenn er sieht, wie sie so dasitzt, hat das etwas zu sagen. Falls alles danebengeht, ist das vielleicht nicht mehr so, aber momentan schon. Er hat er die Berge und die Sterne geschenkt, nicht als Besitz, sondern zum Anschauen, und das sagt viel.“ (S. 477) 
Mit „Billy Summers“ ist Stephen King ein sehr vielschichtiger Roman gelungen, der im ersten Teil die Details des Auftrags schildert, der die Geschichte ins Laufen bringt, aber – wie wir Leser bald erfahren – die eigentliche Geschichte beginnt viel früher, mit dem gewaltsamen Tod von Billys Schwester und seiner ebenso gewalttätigen Erwiderung, und setzt sich mit dem traumatischen Kriegseinsatz im Irak fort. Billy Summers wirkt dabei nicht wie ein kaltblütiger Auftragskiller, sondern fragt vor jedem Auftrag, ob es auch „schlechte Menschen“ sind, die er töten soll. 
In seiner Nachbarschaft freundet sich Billy alias David schnell nicht nur mit den Erwachsenen, sondern auch mit deren Kindern an, spielt mit ihnen Monopoly und wirkt auch sonst ganz und gar umgänglich. Im weiteren Verlauf der Geschichte rückt die schriftstellerische Arbeit des Protagonisten zunehmend in den Vordergrund. Interessant ist dabei die Tatsache, dass mit diesem Prozess nicht die Wahnvorstellungen und übernatürlichen Ereignisse verbunden sind, wie sie Kings Figuren in „Stark – The Dark Half“ oder „The Shining“ erleben. Stattdessen findet Billy durch das Schreiben zu sich selbst. Mit der Rettung der betäubten und dann vergewaltigten Alice nimmt die Geschichte eine weitere Wendung, denn nun geht es nicht nur darum, dass Billy die ihm noch zustehenden 1,5 Millionen Dollar von seinen Auftraggebern eintreibt, sondern die Beziehung zu Alice in seinem Leben richtig einordnet. Obwohl Billy sich selbst und auch Bucky als „schlechte Menschen“ bezeichnet, gewinnen sie nicht zuletzt durch ihre Art, wie sie Alice wieder aufpäppeln, die Sympathien des Publikums. 
Stephen King entwickelt hier einen wohltuenden Gegenentwurf zu Trumps Amerika der Hetze und des Hasses, lässt Tugenden wie Nachbarschaftshilfe und Nächstenliebe aufleben, bevor im letzten Teil des Romans die Rachegeschichte in den Vordergrund rückt, in der die Bösen nach und nach dezimiert werden. Hier kommen übrigens mit kleinen Verweisen auf das Overlook-Hotel („Shining“) die einzigen Ansätze übernatürlicher Elemente ins Spiel. 
Davon abgesehen stellt „Billy Summers“ einfach eine packende Geschichte dar, die verschiedene Genres wie Bildungs- und Entwicklungsroman, Krimi und Rachethriller, ja sogar etwas Liebesdrama geschickt miteinander verbindet.  

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