(Ullstein, 304 S., HC)
Als Schauspieler war Hark Bohm vor allem in den
1970er Jahren in unzähligen Filmen von Rainer Werner Fassbinder („Händler
der vier Jahreszeiten“, „Angst essen Seele auf“, „Fontane Effi Briest“, „Die
Ehe der Maria Braun“) zu sehen, präsentierte 1972 mit „Tschetan, der
Indianerjunge“ sein Drehbuch- und Regiedebüt und arbeitete zuletzt viel mit
Regisseur Fatih Akin zusammen, für dessen Filme „Tschick“ und „Aus
dem Nichts“ er die Drehbücher schrieb und in dessen Verfilmung von Heinz
Strunks Roman „Der Goldene Handschuh“ eine Nebenrolle verkörperte.
Nun legt Bohm zusammen mit Philipp Winkler sein Romandebüt „Amrum“
vor, das ebenfalls von Akin verfilmt worden ist und auf Bohms
Kindheitserinnerungen beruht.
Der zehnjährige Nanning Hagener lebt mit seiner hochschwangeren
Mutter Hille Jessen und seinen beiden jüngeren Geschwistern auf der
Nordseeinsel Amrum. Der Zweite Weltkrieg nähert sich 1945 seinem Ende zu, die
Russen stehen schon fünfzig Kilometer vor Berlin. Während Nannings Vater im
Krieg ist, muss sich der Junge als „Mann im Haus“ um die Ernährung der Familie
kümmern. Er arbeitet bei der Bäuerin Tessa und geht mit seinem besten Freund
Hermann auf Nahrungssuche, fängt Schollen, die als Amrum-Währung gelten, und
sammelt Eier aus den Nestern der Enten, Honig aus einem Bienennest im Baum, was
mit schmerzhaften Stichen und einem Bad im Moor endet. Zum Glück trägt auch
Tante Ena dazu bei, die Familie zu ernähren, auch wenn sie als überzeugte
Regime-Gegnerin immer wieder mit ihrer Schwester aneinandergerät, die als
überzeugte Nationalsozialistin nicht wahrhaben will, dass die alliierten Bomber
über der Insel und die Schar der Flüchtlinge aus dem Osten keinen Zweifel mehr
daran lassen, dass das Ende ihrer Partei und des Führers unabwendbar ist.
Nach der Geburt ihres Kindes und Hitlers Tod verfällt
Nannings Mutter in eine tiefe Depression, und Nanning ist auch nach der
Rückkehr des Vaters zunehmend verwirrt, was um ihn herum geschieht.
„Er musste daran denken, dass sein Vater der Mutter aus dem britischen Wagen zugerufen hatte, sie solle ihn, Nanning, unbedingt aufs Gymnasium schicken. Was aber, wenn die Mutter sich täuschte und sein Vater tatsächlich ein Verbrecher war? Musste man dann darauf hören, auch wenn es der Vater war? Nein, dachte er, er wollte kein Akademiker sein. Er wollte Tessa auf dem Acker helfen und Butter und Milch für die Familie verdienen. Er wollte mit Hermann Kaninchen fangen und Schollen petten gehen. Mit dem Kumpel durch die Salzwiesen stapfen und Kiebitze aufschrecken, Wattwürmer aus dem Watt ziehen und am Flutsaum des Kniep nach Treibholz gucken.“
Hark Bohm blickt mit „Amrum“ auf die prägenden
Jahre seiner Kindheit zurück, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs
zusammenfallen. Im Mittelpunkt steht dabei nicht nur die Freundschaft zu
Hermann, sondern vor allem die innerfamiliären Konflikte angesichts der
konträren politischen Einstellungen. Während Nannings Vater als SS-Obersturmführer
ebenso fest auf NSDAP-Linie ist wie seine Frau Hille, wollen Hilles Schwester
Ena und Hermanns Großvater Arjan mit den Nazis nichts am Hut haben. Nannings
Onkel Theo ist schon vor Jahren nach Amerika ausgewandert, wo mehr Amrumer
leben als auf der Insel. In diesem politischen wie persönlichen Spannungsfeld
erzählt der bereits schwerkranke Bohm mit Unterstützung von Philipp
Winkler eine ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte, die vor allem von den
atmosphärisch dichten Landschaftsbeschreibungen lebt, die das vom harten
Überlebenskampf geprägte Leben auf der Insel passend illustrieren. Wie
beschwerlich das Leben auf der Insel gewesen sein muss, davon zeugen die
ausführlichen Beschreibungen beispielsweise von einer Schlachtung eines wilden
Kaninchens, die hart umkämpften Tauschgeschäfte und die verzweifelten
Bemühungen, Butter, Honig und Brot für die ausgemergelte Mutter zu finden. „Amrum“
stellt weit mehr dar als nur eine gewöhnliche Kindheitsgeschichte zu
Kriegszeiten, es ist vor allem eine interessante Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus aus Kinder-Perspektive und eine eindringliche, wehmütige
Hommage an Amrum.
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