John Katzenbach – „Der Bruder“

Donnerstag, 10. Dezember 2020

(Droemer, 623 S., Pb.) 
Kurz vor ihrem Abschluss erhält die junge Architekturstudentin Sloane Connolly einen handschriftlichen Brief von ihrer Mutter, zu der sie seit Monaten keinen Kontakt mehr hatte. „Vergiss nicht, was dein Name bedeutet. Es tut mir so leid.“ Dieser eine Satz reicht aus, um Sloanes vorherigen Gefühle für ihre Mutter – viel Wut und ein Rest von Liebe – einer umfassenden Beunruhigung Platz weichen zu lassen, doch jeglicher Versuch, Kontakt zu ihr aufzunehmen, scheitert. Sloane gibt eine Vermisstenanzeige auf, die Polizei findet in der absolut aufgeräumten Wohnung von Maeve O’Connor aber nur ein offensichtlich für Sloane gedachtes Präsent. Wenig später finden die Cops den Wagen von Sloanes Mutter sowie ihre Schuhe in der Nähe eines Wanderweges zum Ufer des Connecticut Rivers, in dem Taucher schließlich auch eine Jacke finden, die Maeve hätte gehören können, doch von ihr selbst fehlt jede Spur.
Als Sloane schließlich das Päckchen, das ihre Mutter hinterließ, öffnet, findet sie einen .45er Colt Halbautomatik darin vor und einen weiteren Hinweis, mit dem ihre Mutter Sloane auffordert, alles zu verkaufen, mit der Waffe lernen umzugehen und sofort wegzulaufen. Doch das erweist sich als schwierig. Zum einen will sich ihr betrügerischer Ex-Freund Roger nicht mit der Trennung abfinden und scheut auch vor Gewalt nicht zurück, um Sloane zurückzugewinnen. 
Und dann erhält Sloane über den gut situierten Anwalt Patrick Tempter einen außergewöhnlichen Auftrag: Im Namen des anonymen Auftraggebers, den der Anwalt vertritt, soll Sloane ein Denkmal für sechs Personen entwerfen, die eine besondere Rolle in seinem Leben gespielt haben. Der Auftraggeber erweist sich dabei als äußerst spendabel, lässt ihr ein schickes Büro einrichten, ein fettes Spesenkonto und Honorar springen. Doch Sloane stellt bei ihren Recherchen zu den sechs Personen, die sie in ihrem Denkmal verewigen soll, schnell fest, dass sie allesamt eines unnatürlichen Todes gestorben sind. 
 „Sie hatte eine Menge in Erfahrung gebracht, nur dass sich die Informationen nicht zu einem stimmigen Bild zusammenfügten, geschweige denn, einen gemeinsamen Nenner erkennen ließen, die Grundlage für ein Denkmal. Was das alles für den Auftraggeber bedeutete, blieb ihr vorerst schleierhaft.“ (S. 224) 
Je mehr sich Sloane mit ihrem Projekt auseinandersetzt, desto deutlicher wird ihr bewusst, dass ihre spurlos verschwundene, offensichtlich tote Mutter ebenfalls eine Rolle bei diesem geheimnisvollen Auftrag spielen muss … 
Der ehemalige Gerichtsreporter John Katzenbach hat mit Psycho-Thrillern wie „Die Anstalt“, „Der Patient“ und „Der Psychiater“ eindrucksvoll bewiesen, dass er außergewöhnliche Plots mit sorgfältig charakterisierten Figuren, sukzessivem Spannungsaufbau und raffinierten Wendungen zu kreieren versteht. Auch sein neues Werk „Der Bruder“ fasziniert mit einer mehr als ungewöhnlichen Ausgangssituation, die allerdings auch schon eine Schwäche in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Story offenbart. Lässt man sich als Leser aber erst einmal auf das Szenario ein, dass Katzenbachs sympathische Protagonistin sich gleichzeitig nicht nur gegen einen Stalker zur Wehr setzen und das Verschwinden ihrer Mutter verarbeiten muss, sondern es auch noch mit einem geheimnisvollen Auftraggeber zu tun bekommt, der ihr den Grundstein für eine beispiellose Karriere anbietet, wird man mit einer interessanten Schnitzeljagd belohnt, bei der die angehende Architektin nach und nach herausfindet, dass die sechs Personen, die durch ihr Denkmal geehrt werden sollen, nicht eines natürlichen Todes verschieden sind. 
Geschickt verwebt der Autor immer wieder Sloanes Ermittlungen mit den Querelen, die sie mit ihrem aufdringlichen Ex-Lover Roger hat, und den Kontakten zu ihrem Auftraggeber, die ausschließlich über dessen Anwalt laufen. Durch Katzenbachs detailreiche Schilderungen kommen dabei schon einige Längen auf, doch gipfelt der Plot in einem außergewöhnlichen Finale, das Psycho-Thriller-Fans begeistern dürfte. 

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