Als am helllichten Tag der Geschäftsmann Robert Ellis in der New Yorker Upper East Side niedergeschlagen und in den Kofferraum einer dunklen Limousine geworfen wird, ist nur die neunjährige Morgynn Zeuge des Vorfalls. Allein die Tatsache, dass das Mädchen am Tatort einen Galgenstrick in Miniaturgröße gefunden hat, ruft den weltberühmten, aber seit einem Unfall vom Hals abwärts gelähmten Forensik-Experten Lincoln Rhyme auf den Plan. Wenig später ist auf einer Streamingseite das Live-Video eines Mannes zu sehen, der mit einer Schlinge erdrosselt wird. Besonders schaurig wirkt die Übertragung durch die musikalische Untermalung, bei der ein menschliches Keuchen aufgenommen und zur Melodie von „An der schönen blauen Donau“ eingespielt worden ist. Am Ende des Videos erscheint auf dem Bildschirm eine Signatur: Der Komponist.
Mit der Unterstützung von Rhymes Verlobten Amelia Sachs, seinem ehemaligen NYPD-Partner Lon Sellitto und FBI-Special Agent Frank Dellray kann Ellis gerade noch ausfindig gemacht und gerettet werden, aber vom Komponisten fehlt jede Spur.
Als kurz darauf in Neapel ein ähnlicher Entführungsfall durch den Forstwachtmeister Ercole Benelli gemeldet wird, fliegen Rhyme und Sachs umgehend nach Italien, um die dortigen Behörden zu unterstützen. Während sich vor allem Oberstaatsanwalt Dante Spiro gegen die amerikanische Einmischung sträubt, erweist sich Benelli als sehr pfiffiger Ermittler.
Rhyme, Sachs und die italienischen Strafverfolgungsbehörden bekommen es in der Folge aber nicht nur mit Entführungen aus einem Flüchtlingslager, sondern auch mit einem sexuellen Übergriff durch einen Amerikaner und schließlich einem bislang unbekannten amerikanischen Geheimdienst zu tun. Als der Komponist erfährt, wer ihm in Italien auf der Fährte ist, ist er vor allem von Amelia Sachs besonders angetan, die er mit der griechischen Göttin Artemis vergleicht …
„Er wusste, er durfte hier nicht bleiben, lag aber trotzdem verkrümmt am Boden und zitterte vor Verzweiflung. Irgendwo in der Nähe zirpte ein Insekt, rief eine Eule, zerbrach ein großes Tier einen Zweig und ließ das trockene Gras rascheln. Doch die Geräusche brachten ihm keine Linderung …“ (S. 305)Seit ihm vor einigen Jahren an einem Tatort ein Balken ins Genick gefallen war und ihn querschnittsgelähmt machte, hat Lincoln Rhyme sich zu einem genialen Forensik-Experten ausgebildet, dessen Grundlagenwerk auch in Italien bekannt ist (wo es allerdings noch auf seine Übersetzung wartet). Doch die beratenen Tätigkeiten, die er in der Regel im Auftrag seines alten Partners Lon Silletto erledigt, führte er bislang - von seltenen Ausnahmen abgesehen – von zuhause aus, während Amelia Sachs die Laufarbeit übernahm.
Die besonderen Umstände führen Rhyme und Sachs in ihrem dreizehnten Abenteuer erstmals nach Italien. Immerhin kann Rhyme nach einigen operativen Eingriffen mittlerweile wieder Teile seines rechten Arms und der Hand bewegen, aber er ist nach wie vor auf die Hilfe körperlich voll funktionsfähiger Ermittler angewiesen, um die ihm angetragenen Fälle lösen zu können. Das gestaltet sich in Neapel besonders schwierig, weil der eigensinnige Staatsanwalt hier besondere Befugnisse besitzt, aktiv an den Ermittlungen teilzunehmen und Befugnisse einzugrenzen. Doch Rhyme & Co. wird während der Jagd nach dem Komponisten klar, dass der Fall viel komplexer liegt, als zunächst angenommen.
Jeffery Deaver erweist sich einmal mehr als versierter Spannungsautor, der einen komplexen Fall zu konstruieren versteht. Dabei wechselt er gelegentlich die Erzählperspektive von Rhyme und Benelli zu der des Komponisten, der aber bis auf wenige Momente ebenso blass bleibt wie die Hauptfiguren Rhyme und Sachs. Außer der Tatsache, dass Rhyme mit seinem Pfleger Thom Reston mögliche Ziele für seine Hochzeitsreise diskutiert und italienische Spirituosen zu schätzen lernt, bleiben private Momente des außergewöhnlichen Ermittler-Duos nämlich außen vor. Die besser konturierte Figur in diesem Roman ist nämlich der Forstwachtmeister Benelli, der diesen Fall als Chance sieht, zur Staatspolizei wechseln zu können.
Zum Ende hin übertreibt es Deaver etwas mit seinen für das Genre obligatorischen Wendungen, doch bietet „Der Komponist“ nicht nur für Fans von Rhyme und Sachs unterhaltsamen Thrill vor der außergewöhnlichen Kulisse Neapels.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der Komponist"
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