John Irving – „Der letzte Sessellift“

Sonntag, 7. Mai 2023

(Diogenes, 1088 S., HC) 
Der US-amerikanisch-kanadische Schriftsteller John Irving zählte noch nie zu den Bestseller-Autoren, die im Jahrestakt einen Roman veröffentlichen. So sind seit seinem 1968, hierzulande erst 1985 unter dem Titel „Lasst die Bären los!“ veröffentlichten Debüt meist im Abstand von drei bis vier Jahren bis 2015 insgesamt vierzehn Romane erschienen, einige davon sogar sehr erfolgreich verfilmt (u.a. „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“). Mittlerweile ist der Romancier 81 Jahre alt und legt sieben Jahre nach „Straße der Wunder“ mit „Der letzte Sessellift“ sein fast 1100 Seiten umfassendes Opus Magnum vor, ein Generationen und Präsidenten wie Ronald Reagan, Bill Clinton, Barack Obama und Donald Trump übergreifendes Werk, das im vertrauten Ton ebenso vertraute Themen wie Sport, Film, Sex, Gewalt und Tod miteinander vereint. 
Da seine ledige Mutter Rachel „Little Ray“ Brewster als Skilehrerin gerade in den Wintermonaten oft abwesend ist, wächst der am 18. Dezember 1941 und damit, wie seine Mutter immer wieder betont, zehn Tage zu spät geborene Adam bei seinen Großeltern in Exeter, New Hampshire, auf. Für Adam hat der Spruch, das Leben sei ein Film, deshalb eine besondere Bedeutung, weil sein Leben als Drehbuchautor für ihn tatsächlich ein Film ist, wenn auch ein nicht gedrehter. Während seine Mutter zusammen mit der Skiretterin Molly im gut zweihundert Meilen entfernten Stowe lebt, treibt Adam vor allem die Frage nach seinem ihm unbekannten Vater um. Alles, was er darüber weiß, lässt sich auf eine Nacht im Hotel „Jerome“ zurückführen, die seine Mutter dort mit Adams Erzeuger verbracht hat. 
Doch auch ohne die Identität seines Vaters zu kennen, gestalten sich Adams Familienverhältnisse unterhaltsam. Sein Großvater Lewis war einst Rektor an der Phillips Exeter Academy, spricht aber nicht, so dass der Junge früh den Eindruck gewann, sein Grandpa sei schon als Schuldirektor im Ruhestand auf die Welt gekommen. Adams wichtigtuerische Tanten Martha und Abigail haben ständig etwas zu nörgeln und wachen mit Argusaugen über das uneheliche Kind, während ihre Ehemänner, die beiden norwegischen Brüder Johan und Martin Vinter, letztlich dafür verantwortlich waren, dass die Brewster-Mädchen überhaupt erst zum Skifahren gekommen sind. Adam konnte sich allerdings nie fürs Skifahren begeistern und ließ sich stattdessen lieber von seiner Großmutter und Winter-Mom Mildred aus Melvilles „Moby-Dick“ vorlesen. Seine Mutter heiratet schließlich den kleinen Englischlehrer und Wrestling-Coach Elliot Barlow, der eine Geschlechtsumwandlung vollzieht und für Adam zum Ersatzvater wird. Seine lesbische ältere Cousine und Seelenverwandte Nora avanciert mit ihrer Freundin Emily „Em“ MacPherson, die sich zu sprechen weigert, in New York zum erfolgreichen Nischen-Comedy-Duo „Zwei Lesben, eine spricht“. Ein Attentat in der Gallows Lounge verändert das Leben aller Beteiligten für immer. Adam und Em verfolgen ihre Schriftstellerkarrieren und beobachten entsetzt, wie ihr Land erst unter republikanischen Präsidenten und Kardinal O’Connor vor die Hunde geht. 
„In den folgenden Jahren kamen harte Zeiten auf jede Art von Comedy zu. Für Em und mich als Schriftsteller wie für Nora und Em im Gallows würde es immer schwieriger werden, uns über irgendetwas lustig zu machen, egal, was. Stellen Sie sich nur mal vor, Sie wollten sich heutzutage Zwei Lesben, eine spricht nennen. Heute kann man keine Witze mehr über Hass machen. Ich sage Ihnen, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger, als der Hass von heute noch in den Kinderschuhen steckte, war die Gegenreaktion schon da.“ (S. 581) 
John Irving hat in seiner langen Schriftstellerkarriere schon einige sehr umfangreiche Romane veröffentlicht. Sowohl „Garp und wie er die Welt sah“ „Owen Meany“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ als auch „Zirkuskind“ und „Bis ich dich finde“ kommen locker über 800 Seiten. 
Nun soll „Der letzte Sessellift“ der letzte „große“ Roman des Bestseller-Autors sein, der einmal mehr eine interessante Sammlung skurriler Persönlichkeiten und ihre Leidenschaften wie Literatur, den Ski- und Ringer-Sport, den Film noir und das Leben an sich vereint. 
Irvings Ich-Erzähler Adam Brewster erweist sich als das große Verbindungsglied zwischen all den Figuren, die sich durch ihre sexuelle Orientierung ebenso auszeichnen wie durch ihren respektvollen, wertschätzenden Umgang miteinander. Natürlich stattet Irving seine Figuren traditionell mit bemerkenswerten Eigenschaften aus, so wird Em nicht nur durch ihre selbstauferlegte Sprachlosigkeit, sondern auch durch ihre ohrenbetäubend lauten Orgasmen beschrieben, Adams Freundinnen scheißen sich entweder ein, bluten ständig oder sind so schwer verletzt, dass der Sex zu einer schwierigen Akrobatik-Nummer wird. 
Irving nutzt die Lebensgeschichten seiner Figuren aber auch, um die gesellschaftlichen Zustände in den USA unter die Lupe zu nehmen. Hier stechen vor allem Präsident Reagan mit seiner Ignoranz zur AIDS-Pandemie heraus, aber generell wird an Republikanern und der katholischen Kirche, aber auch an Demokraten, die die Wahl Trumps (der vor allem als „Mösengrapscher“ tituliert wird) ermöglicht haben, kein gutes Wort gelassen. 
„Der letzte Sessellift“ thematisiert immer wieder das Filmemachen und die Botschaft, dass nicht realisierte Drehbücher besonders lange nachwirken. Irvings Spätwerk wirkt dagegen wie eine erfolgreiche Fernsehserie, die sich über mehrere Staffeln ausführlich mit den Problemen, Herausforderungen, Schlüsselerlebnissen und Reifeprozessen der Figuren beschäftigen kann. Zwar weist der Roman auch einige Längen auf, doch die Figuren schließt man schnell ins Herz, und es ist spannend zu verfolgen, wie sich die Art der Beziehungen zwischen ihnen verändert. Vor allem stellt „Der letzte Sessellift“ ein feinfühliges Plädoyer für mehr Toleranz in Bezug auf sexuelle Orientierungen und Meinungen dar. 

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