Anthony McCarten – „Englischer Harem“

Sonntag, 2. August 2020

(Diogenes, 582 S., HC)
Die Familie Pringle stammt aus einfachen Verhältnissen und lebt in einer hellhörigen Einheitswohnung im 23. Stock eines heruntergekommenen Wohnblocks in London, dessen Fahrstuhl seit Monaten defekt ist. Während Eric Pringle sein Geld damit verdient, immer wieder Reparaturen in diesem Gebäude auszuführen, setzt seine Frau Monica alles daran, mit einer Petition unter den Bewohnern dafür zu sorgen, dass die Stadt die Bruchbude ganz abreißt, allerdings haben ihre Bemühungen erst zu vier Unterschriften gebracht. Doch diese Alltagssorgen verblassen, als ihre zwanzigjährige Tochter Tracy zum vierten Mal in zwei Jahren ihren Job verliert. Als Kassiererin im Supermarkt hing sie den von ihren Leseabenteuern inspirierten Tagträumen so intensiv nach, dass sie einen offensichtlichen Ladendiebstahl übersah.
Auf der Suche nach einem neuen Job landet sie im vegetarischen Restaurant des Persers Saaman „Sam“ Sahar, Sohn des berühmtesten Schlachters in Teheran. Der recht kleine, aber rundliche Sam, der nach einer Lebensmittelvergiftung durch einen vergammelten Hamburger genug von Fleisch in seinem Leben hat, versucht, Tracy vergeblich abzuwimmeln, und lässt sich auf ein einwöchiges Probearbeiten mit der resoluten jungen Frau ein, und ist schnell von ihrer schnellen Auffassungsgabe begeistert. Auch seine beiden Frauen Yvette und Firouzeh schließen Tracy in ihre Herzen und drängen Saaman dazu, auch Tracy zur Frau zu nehmen, als sich die beiden ineinander verlieben. Das bringt nicht nur Tracys Eltern aus der Fassung, sondern auch Tracys Ex-Freund Ricky, der sich leider in flagranti mit einer anderen Frau hat von Tracy erwischen lassen, seinen Fehltritt aber bereut und Tracy aus den Fängen des offensichtlichen Polygamisten aus dem Orient befreien will.
Als das Jugendamt in Gestalt von Mr. Partridge einem anonymen Hinweis nachgeht, dass Firouzehs vier Kinder unter den wüsten Verhältnissen in Sams Harem leiden würden. Damit beginnt eine Auseinandersetzung, die alle Beteiligten in ihren Grundfesten erschüttert …
Wir verbringen unser Leben in einer Festung, sinnierte Sam, und lassen nur selten die Zugbrücke herunter. Was für eine Verschwendung! Was wir da alles verpassen! Wir halten nur Abstand voneinander, weil wir uns nicht trauen. Die großen Verführer, zu denen er sich nicht zählte, verstanden das und nutzten es aus. Diese Mauern gab es nur in der Phantasie. Jeder abgewandte Blick war in Wirklichkeit eine Einladung, jeder unerwiderte Anruf eine Bitte, jede Gehässigkeit eine Aufforderung zum Streicheln …“ (S. 185) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten ist nicht nur als Mit-Autor des erfolgreichen Theaterstücks, das später als „The Full Monty – Ganz oder gar nicht“ noch erfolgreicher verfilmt worden ist, populär geworden, sondern auch durch weitere Romane/Drehbücher wie zu „Die dunkelste Stunde“, „Die Entdeckung der Unendlichkeit“, „Bohemian Rhapsody“ und „Die zwei Päpste“. Mit „The English Harem“ legte er 2002 seinen zweiten Roman vor, der eindrucksvoll unterstreicht, dass McCarten nicht nur über eine feine Figurenzeichnung verfügt, sondern auch mit viel Sympathie, Humor und Toleranz ihre durchaus komplexen Dramen schildert.
„Englischer Harem“ zeichnet dabei außerdem das Bild einer multikulturellen Gesellschaft einer Weltmetropole, in der Menschen verschiedenster Hautfarben, Kulturen, religiöser Gesinnung und regionaler Herkunft zwar alltäglich miteinander zu tun haben, aber trotzdem voller Vorurteile stecken. McCarten treibt diese kulturellen Missverständnisse in seinem warmherzigen Roman gekonnt auf die Spitze, lässt auch den Leser über die wahre Beziehung der drei Frauen und ihrem Ehemann lange im Dunkeln, macht aber auch klar, dass Sams Zuhause alles andere als einen Harem darstellt.
Geradezu genüsslich beschreibt er die verschiedenen Versuche von Ricky und Eric, Tracy wieder zur Vernunft zu bringen und dem vermeintlichen persischen Haremsbetreiber eins auszuwischen. Auf der anderen Seite seziert der Autor gekonnt die Nöte und Sehnsüchte einer normalen britischen Familie sowie ebenso einfühlsam die jeweils ganz unterschiedlichen Umstände, unter denen sich Sam seiner drei Frauen angenommen hat. Wenn „Englischer Harem“ eine Botschaft vermittelt, dann die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit uns fremden Kulturen, so wie Tracy in einem Erwachsenenstudium versucht, den Koran zu verstehen.
Doch neben dem Appell an mehr Toleranz überzeugt der Roman auch als multikulturelle Liebesgeschichte mit ungewöhnlichen Figuren, die man als Leser einfach schnell ins Herz schließen muss.

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