(Diogenes, 276 S., HC)
Bereits mit seinen drei vorangegangenen, oft preisgekrönten Büchern „Die Sache mit dem Dezember“, „Die Gesichter der Wahrheit“ und „Die Lieben der Melody Shee“ hat sich der 1976 geborene Ire Donal Ryan zu einer international gefeierten eigenständigen Stimme in der irischen Literatur entwickelt. Nachdem er mit seinem letzten Roman „Die Lieben der Melody Shee“ das Schicksal zweier Frauen erzählte, stehen in seinem neuen Werk drei Männer im Mittelpunkt, deren jeweilige Geschichten zunächst nacheinander in eigenen Kapiteln thematisiert werden, bevor sie im vierten und abschließenden Kapitel auf fast magische Weise zusammengeführt werden.
Der syrische Arzt Farouk kommt schwer damit klar, dass seine Frau sich nicht verhüllt und sich so offensichtlich der Begierde anderer Männer zur Schau stellt, während seine Tochter bereits die westliche Kultur mehr als die eigene wertzuschätzen scheint. Als sich die Zeichen für einen Bürgerkrieg mehren, die Polizei zur Miliz wird und immer mehr bewaffnete Fremde das Stadtbild prägen, lässt er sich von einem Schleuser überreden, sich und seine Familie in Sicherheit bringen zu lassen, bevor seine Frau und Tochter vergewaltigt werden und er selbst getötet wird. Doch das Schiff, in das Farouks Familie mit anderen gut gekleideten Passagieren steigt, entpuppt sich nicht als das sichere Boot, das sie nach Europa bringt, sondern dockt auf dem Meer an einen alten Holzkahn an, wo die Passagiere die Überfahrt unter Deck verbringen sollen, bis der Sturm das Boot zwischen den Wellen zerschellen lässt. In Irland muss sich Farouk schließlich damit abfinden, ein neues Leben ohne seine Frau und Tochter zu beginnen.
Der junge Laurence „Lampy“ Shanley lebt mit seiner Mutter Florence und seinem temperamentvollen Großvater Dixie in einer irischen Kleinstadt lebt, wo er als Busfahrer für ein Altenheim arbeitet und die Tatsache verkraften muss, dass seine Freundin Chloe mit ihm Schluss gemacht hat, weil sie in Dublin studieren will. Immerhin hat er mit Eleanor einen kurzfristigen Ersatz mit großen Brüsten aufgetan, begeht allerdings einen fürchterlichen Fehler, als er nach einer Panne den Bus wechseln muss.
„Wie sollte er seinem Großvater klarmachen, dass er doch nur nach einem Ort suchte, an dem an einen Mann andere Maßstäbe angelegt wurden. Die nichts mit Geld oder Sport oder einer Straße in einer Stadt zu tun hatten. Oder war das überall gleich? Er wollte keine Vergangenheit haben, keine Adresse, er wollte einfach nur irgendein Ire sein.“ (S. 140)
Das Trio ganz unterschiedlicher Männer wird durch den von Grund auf bösen John abgerundet, der sich schon bei der Beichte nicht an das Reuegebet erinnern konnte, obwohl er es wenige Stunden zuvor noch in der Schule gesungen hatte. Später sah er tatenlos zu, wie sein sechs Jahre älterer Bruder Edward zuhause nach der Hurling-County-Meisterschaft zusammenbrach und an einem Herzversagen verstarb. John setzte den Kindern in der Schule böse zu, verleumdete auch als Erwachsener Menschen, denen er nicht wohlgesonnen war, verfolgte als Lobbyist gnadenlos seine eigenen Interessen und die seiner Klienten, bis er selbst krank und reumütig wird …
Im letzten, „Seeinseln“ betitelten Kapitel führt Ryan die drei Männerschicksale auf furiose Weise zusammen und findet auch dafür eine eigene Sprache, so wie er für die Geschichten seiner Protagonisten mit je einer eigenen Stimme erzählte. Ryan ist ein Meister darin, sein Publikum mit eindringlichen Schilderungen in die Psyche seiner Figuren hineinzuziehen. Hier sind es vor allem die auch kulturell unterschiedlichen Vorstellungen von Männlichkeit, die die Handlungen von Farouk, Lampy und John prägen und ihr Schicksal bestimmen, und so sehr sie auch an ihren moralischen Grundsätzen festhalten, hadern sie früher oder später mit der Unausweichlichkeit ihres Tuns.
Donal Ryan ist mit „Die Stille des Meeres“ ein Buch gelungen, dessen Seelenfrieden, sehnsuchtsvoll verheißender Titel trügerisch wirkt, denn die Sehnsucht nach Erlösung bleibt für seine Protagonisten unerfüllt.
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