(Diogenes, 384 S., HC)
Mit seinem letzten, 2021 veröffentlichten Roman „The Great Mistake“ huldigte der in England geborene Schriftsteller Jonathan Lee seiner Wahlheimat New York und beschäftigte sich mit dem streitbaren Stadtplaner Andrew Haswell Green, dem die Stadt u.a. den Central Park und die öffentliche Bibliothek, den Zoo in der Bronx sowie das American Museum of Natural History und das Metropolitan Museum of Art verdankt und der am 13. Januar 1903 im Alter von 83 Jahren vor seiner Haustür erschossen wurde. Im Zuge der kriminalistischen Aufklärung des heimtückischen Mordes kommen einige Protagonisten zu Wort, die die Puzzleteile von Andrew Greens Leben und Wirken zusammenzusetzen helfen.
Nachdem Diogenes Jonathan Lees vierten Roman 2022 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der große Fehler“ veröffentlicht hatte, legt der renommierte Verlag nun mit Lees 2012 veröffentlichten Debüt „Joy“ nach. Bereits hier dient der gewaltsame Tod eines Menschen als Grundlage für eine facettenreiche Geschichte in einem Metier, in dem sich der Autor, der früher in einer Anwaltskanzlei sowohl in Tokio als auch in London gearbeitet hat, bestens auskennt.
Joy Stephens könnte sich glücklich schätzen. Mit Mitte dreißig steht sie kurz davor, zur ersten Partnerin in der Londoner Anwaltskanzlei Hanger, Slyde & Stein ernannt zu werden. Sie ist mit dem Akademiker Dennis verheiratet, der gerade ein Sabbatical einlegt, in Wahrheit aber wegen der Anschuldigungen sexuellen Missbrauchs auf unbestimmte Zeit von seiner Lehrtätigkeit suspendiert ist, bis der Vorfall aufgeklärt worden ist und die Zeit nutzt, an seinem hoffentlich überaus verkäuflichen Buch über Shakespeare zu arbeiten und es bei einem populärer verlegen zu lassen als wie bisher im Universitätsverlag.
Und sie unterhält eine Affäre mit Peter, einem ihrer Kollegen und zufälligerweise auch Mann ihrer besten Freundin Christine. Doch ausgerechnet bei ihrer Dankesrede stürzt sie sich vor aller Augen zehn Meter in die Tiefe. Der Schock der Zeugen sitzt tief. Und so bekommen alle, die Joy näher gekannt haben, die Gelegenheit, sich bei einem Psychotherapeuten auszusprechen, Dennis und Peter ebenso wie der hauseigene Fitnesstrainer Samir und die Persönliche Assistentin Barbara. Und dazwischen kommt Joy im Rückblick zu Wort, wenn sie den schicksalhaften Freitag von frühmorgens um 1:10 Uhr bis zum folgenreichen Sprung in die Tiefe Revue passieren lässt.
„Mitten in diesem ganzen Lügengespinst blieb Dennis verlässlich. Sie liebte den einfühlsamen, sanftmütigen Dennis. Sie trug diesen Hunger nach Risiko in sich, aber gleichzeitig die Sehnsucht nach jemandem, der ihr Sicherheit gab und nett war. Er brachte ihr alles Mögliche, als sie depressiv war: Blumen, Cracker, Dinge außerhalb ihrer selbst. Seine Sätze waren voller Außenwelt.“ (S. 182)
Mit seinem Debütroman hat sich Jonathan Lee auf vertrautes Terrain begeben und seine Kenntnisse des Alltags in einer modernen Anwaltskanzlei in seine Geschichte über das Leben einer Frau einfließen lassen, die offenbar mehr Geheimnisse mit sich herumtrug als ihre Mitmenschen vermutet haben. Der Autor erweist sich dabei als versierter Sprachkünstler. Wenn er die verschiedenen Protagonisten in kapitellangen Monologen zu Wort kommen lässt, verleiht er ihnen eine jeweils eigene Sprache. So spricht Samir ohne Interpunktionen, der nie aus dem Universitätsleben herausgekommene Dennis verliert sich dagegen in intellektuellen Ausschweifungen, die – bei aller sprachlicher Virtuosität gerade zu Anfang sehr ermüdend wirken.
Was die Geschichte so lesenswert macht, sind die verschiedenen Perspektiven, die nicht nur aufzeigen, wie ihr Ehemann, ihr Geliebter, ihr Fitnesstrainer und ihre Sekretärin Joy wahrgenommen haben, sondern auch dahingehend aufschlussreich wirken, wie sich nach und nach interessante Details aus Joys Leben aneinanderreihen und den jeweiligen Ich-Erzählern Charakter verleihen.
Dabei rückt vor allem ein Vorfall in den Vordergrund, bei dem Joy zusammen mit ihrem Neffen ein Tennis-Match besucht hat und ihn in der Warteschlange vor der Toilette verloren hat. Aber Jonathan Lee kramt auch die üblichen Klischees hervor, den Anwalt, der sich von einer seiner Trainees einen blasen lässt, oder die Vorurteile einer alternden Sekretärin gegenüber einem faulen Italiener, den die italienische Dependance abgestellt hat.
Durch die Form der ununterbrochenen Monologe gewinnen die unterschiedlichen Personen schnell an Profil, doch so richtig warm wird man mit den Figuren nicht. Bei all den unerfüllten Sehnsüchten und Begierden, Lügen und Affären hinterlässt „Joy“ vor allem ein Gefühl der Niedergeschlagenheit, das nicht durch alles Geld der Welt vertrieben werden kann.
Jonathan Lee ist mit „Joy“ ein zumindest interessantes, sprachlich virtuos inszeniertes Melodram gelungen, das Lust auf weitere Werke des Autors macht.
Mit „Who Is Mr Satoshi?“ und „High Dive“ warten zumindest noch zwei weitere Romane auf eine deutsche Übersetzung.
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