(Heyne, 346 S., Jumbo)
Es muss kein mörderischer Clown in der Kanalisation von
Derry („Es“), ein verwunschener „Friedhof der Kuscheltiere“ oder
ein mit durchaus menschlichen Gefühlen versehenes Auto („Christine“)
sein, das bei dem „King of Horror“ für gruselige Stimmung sorgt. Bereits mit „Sie“
hat Stephen King eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass Horror auch
ohne übernatürliche Elemente funktionieren kann. Mit dem 1992 veröffentlichten
Roman „Das Spiel“ treibt der US-amerikanische Bestseller-Autor seine
Kunst auf die Spitze.
Nach siebzehn Ehejahren ist bei Gerald und Jessie Burlingame
die Lauft aus dem Liebesleben raus. Doch der erfolgreiche Anwalt Gerald hat
sich etwas einfallen lassen, dass wieder für etwas Pepp beim Sex sorgt. Sie verbringen
ein Wochenende in ihrem abgeschiedenen Sommerhaus am Lake Kashwakamak im Westen
Maines, wo Gerald nach ersten Versuchen mit Schals mittlerweile dazu übergegangen
ist, die Hände seiner Frau mit Handschellen ans Bett zu fesseln, bevor er so richtig
in Fahrt kommt. Doch Jessie hat längst die Lust an diesen für sie öden und
erniedrigenden Spielen verloren, doch will Gerald natürlich nichts davon hören.
Selbst als sie diesmal ihrem Abscheu lautstark Ausdruck verleiht, will Gerald
nicht von ihr ablassen, bis sie ihm mit ihren Füßen einen kräftigen Tritt in
die Eier verpasst. Doch ihr Mann klappt nicht nur mit schmerzverzerrtem Gesicht
zusammen, sondern erleidet auch einen tödlichen Herzinfarkt. Da hängt sie nun, nahezu
nackt, mit nur einem hauchdünnen Höschen bekleidet, ans massive Holzbett
gefesselt, ohne Chance, sich selbst daraus zu befreien, mitten im Nirgendwo.
Ein streunender Hund macht sich an Gerald zu schaffen, der Durst und die
Krämpfe machen Jessie zu schaffen. Verzweifelt versucht sie, an das Glas Wasser
am Kopfende des Bettes zu gelangen, und während sie immer wieder in die Bewusstlosigkeit
abdriftet, denkt sie an die Sonnenfinsternis in ihrer Kindheit zurück, die sie
mit ihrem Vater beobachtete, und während sie auf seinem Schoß saß, ergoss er seinen
Samen auf ihr Unterhöschen. Doch mehr noch als diese schmerzlichen Erinnerungen
an den Missbrauch macht ihr der Besuch eines nächtlichen Eindringlings zu
schaffen…
„Sie konnte den Wind wehen und den Hund bellen hören, war wach, aber nicht wissend, hörte, aber verstand nicht, verlor alles im Grauen des halb erblickten Schemens, des grässlichen Besuchers, des ungebetenen Gasts. Sie konnte nicht aufhören, über den schmalen, missgestalteten Kopf nachzudenken, die weißen Wangen, die hängenden Schultern … aber ihre Augen wurden immer häufiger zu den Händen der Kreatur gezogen: den baumelnden, langfingrigen Händen, die weiter an den Beinen hinabreichten als es normale Hände eigentlich dürften.“ (S. 140)
Mit „Das Spiel“ hat es Stephen King
tatsächlich geschafft, ein Ein-Personen-Stück mit wenigen weiteren Nebenfiguren
zu einem Schreckensszenario der besonders intensiven Art zu inszenieren, das
2017 sogar als Netflix-Film adaptiert worden ist. Die Qualen, die die tapfere,
bereits in ihrer Kindheit missbrauchte Jessie in der Einsamkeit eines idyllisch
gelegenen Landhauses erleben muss, beschreibt Stephen King so intensiv, als
erlebe man selbst diese Schmerzen, den quälenden Durst, die Muskelkrämpfe, die
Erinnerungen und Halluzinationen (?) und die verzweifelten Befreiungsversuche
und ungehörten Hilfeschreie. Der Roman zeigt mit viel Empathie für die
weibliche Protagonistin auf, wie die Macht und Gewalt, die Männer gegenüber
Frauen ohne Rücksicht auf deren Gefühle ausüben, zu langanhaltenden Traumata
führt, die die Opfer nur schwer verarbeiten.
Vor allem in den Selbstgesprächen mit ihren „Freundinnen“,
aber auch mit den einfühlsam geschilderten Erinnerungen an den Missbrauch durch
Jessies Vater bringt uns King die Figur näher, macht sie zu einem
Menschen, mit dem wir mitfühlen und dem wir wünschen, sich aus der tödlichen
Notlage befreien zu können. Allerdings kommt „Das Spiel“ nicht ganz ohne
Längen aus und verliert zum Ende hin an Überzeugungskraft. Doch der psychische
Horror, den King so eindringlich beschreibt, hallt lange nach.
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