Stephen King – „Das Spiel“

Sonntag, 24. August 2025

(Heyne, 346 S., Jumbo)
Es muss kein mörderischer Clown in der Kanalisation von Derry („Es“), ein verwunschener „Friedhof der Kuscheltiere“ oder ein mit durchaus menschlichen Gefühlen versehenes Auto („Christine“) sein, das bei dem „King of Horror“ für gruselige Stimmung sorgt. Bereits mit „Sie“ hat Stephen King eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass Horror auch ohne übernatürliche Elemente funktionieren kann. Mit dem 1992 veröffentlichten Roman „Das Spiel“ treibt der US-amerikanische Bestseller-Autor seine Kunst auf die Spitze.
Nach siebzehn Ehejahren ist bei Gerald und Jessie Burlingame die Lauft aus dem Liebesleben raus. Doch der erfolgreiche Anwalt Gerald hat sich etwas einfallen lassen, dass wieder für etwas Pepp beim Sex sorgt. Sie verbringen ein Wochenende in ihrem abgeschiedenen Sommerhaus am Lake Kashwakamak im Westen Maines, wo Gerald nach ersten Versuchen mit Schals mittlerweile dazu übergegangen ist, die Hände seiner Frau mit Handschellen ans Bett zu fesseln, bevor er so richtig in Fahrt kommt. Doch Jessie hat längst die Lust an diesen für sie öden und erniedrigenden Spielen verloren, doch will Gerald natürlich nichts davon hören. Selbst als sie diesmal ihrem Abscheu lautstark Ausdruck verleiht, will Gerald nicht von ihr ablassen, bis sie ihm mit ihren Füßen einen kräftigen Tritt in die Eier verpasst. Doch ihr Mann klappt nicht nur mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen, sondern erleidet auch einen tödlichen Herzinfarkt. Da hängt sie nun, nahezu nackt, mit nur einem hauchdünnen Höschen bekleidet, ans massive Holzbett gefesselt, ohne Chance, sich selbst daraus zu befreien, mitten im Nirgendwo. Ein streunender Hund macht sich an Gerald zu schaffen, der Durst und die Krämpfe machen Jessie zu schaffen. Verzweifelt versucht sie, an das Glas Wasser am Kopfende des Bettes zu gelangen, und während sie immer wieder in die Bewusstlosigkeit abdriftet, denkt sie an die Sonnenfinsternis in ihrer Kindheit zurück, die sie mit ihrem Vater beobachtete, und während sie auf seinem Schoß saß, ergoss er seinen Samen auf ihr Unterhöschen. Doch mehr noch als diese schmerzlichen Erinnerungen an den Missbrauch macht ihr der Besuch eines nächtlichen Eindringlings zu schaffen…

„Sie konnte den Wind wehen und den Hund bellen hören, war wach, aber nicht wissend, hörte, aber verstand nicht, verlor alles im Grauen des halb erblickten Schemens, des grässlichen Besuchers, des ungebetenen Gasts. Sie konnte nicht aufhören, über den schmalen, missgestalteten Kopf nachzudenken, die weißen Wangen, die hängenden Schultern … aber ihre Augen wurden immer häufiger zu den Händen der Kreatur gezogen: den baumelnden, langfingrigen Händen, die weiter an den Beinen hinabreichten als es normale Hände eigentlich dürften.“ (S. 140)

Mit „Das Spiel“ hat es Stephen King tatsächlich geschafft, ein Ein-Personen-Stück mit wenigen weiteren Nebenfiguren zu einem Schreckensszenario der besonders intensiven Art zu inszenieren, das 2017 sogar als Netflix-Film adaptiert worden ist. Die Qualen, die die tapfere, bereits in ihrer Kindheit missbrauchte Jessie in der Einsamkeit eines idyllisch gelegenen Landhauses erleben muss, beschreibt Stephen King so intensiv, als erlebe man selbst diese Schmerzen, den quälenden Durst, die Muskelkrämpfe, die Erinnerungen und Halluzinationen (?) und die verzweifelten Befreiungsversuche und ungehörten Hilfeschreie. Der Roman zeigt mit viel Empathie für die weibliche Protagonistin auf, wie die Macht und Gewalt, die Männer gegenüber Frauen ohne Rücksicht auf deren Gefühle ausüben, zu langanhaltenden Traumata führt, die die Opfer nur schwer verarbeiten.
Vor allem in den Selbstgesprächen mit ihren „Freundinnen“, aber auch mit den einfühlsam geschilderten Erinnerungen an den Missbrauch durch Jessies Vater bringt uns King die Figur näher, macht sie zu einem Menschen, mit dem wir mitfühlen und dem wir wünschen, sich aus der tödlichen Notlage befreien zu können. Allerdings kommt „Das Spiel“ nicht ganz ohne Längen aus und verliert zum Ende hin an Überzeugungskraft. Doch der psychische Horror, den King so eindringlich beschreibt, hallt lange nach.

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