Cormac McCarthy – „Grenzgänger“

Sonntag, 22. Dezember 2019

(Rowohlt, 448 S., Tb.)
Der 16-jährige Billy Perham und sein jüngerer Bruder Boyd wachsen im Grant County auf, von wo man noch auf direktem Weg nach Mexiko gelangen kann, ohne auf einen Zaun zu stoßen. Zusammen mit seinem Vater unternimmt Billy regelmäßig Jagdausflüge und stellt Fallen für die Wölfe aus, die ihre Viehherde bedrohen. Als Billy eines Tages eine trächtige Wölfin aus der Falle befreit, will er sie allein zurück in die mexikanische Sierra bringen, wobei er unterwegs mit anderen Reisenden und Einwohnern aus der Gegend von Chihuahua ins Gespräch kommt.
Als er Monate später aber zur elterlichen Farm zurückkehrt, findet er sie verlassen vor: Die Eltern wurden ermordet, die Pferde gestohlen, sein Bruder ist bei Pflegeeltern untergekommen. Die beiden Brüder machen sich auf die Reise nach Mexiko, wo sie die Pferdediebe vermuten, wobei sich Boyd mit einem gleichaltrigen mexikanischen Mädchen in Mexiko niederlässt. Mit 21 Jahren unternimmt Billy seine nächste Reise nach Mexiko, diesmal, um seinen Bruder zu suchen, dessen sterbliche Überreste er zurück nach New Mexiko bringen will. Einmal mehr beschäftigt sich Billy mit der Frage nach seiner Heimat und Identität …
„Die Welt kann sich nicht verirren. Nur wir. Und weil diese Namen und Gradnetze von uns stammen, können sie uns nicht helfen. Können sie uns die Suche nach dem richtigen Weg nicht abnehmen. Dein Bruder ist dort, wo die Welt ihn haben wollte. Er ist an dem Platz, der für ihn bestimmt war. Zugleich hat er sich diesen Platz selber ausgewählt. Und so einen glücklichen Zufall sollte man nicht geringschätzen.“ (S. 408) 
Mit dem Auftakt seiner sogenannten „Border-Trilogie“, „All die schönen Pferde“, gelang Cormac McCarthy 1992 der internationale Durchbruch, zwei Jahre später legte er mit dem epischen „Grenzgänger“ auf imponierende Weise nach. Minutiös schildert der Pulitzer-Preisträger in seiner ebenso archaischen wie poetischen Sprache die Mühsal des Lebens auf einer Ranch, wo Wölfe die Lebensgrundlage der Menschen bedrohen. Doch statt den ausgemachten und endlich gefangenen Übeltäter zu töten, erbarmt sich der 16-jährige Romanheld der trächtigen und geschundenen Wölfin und unternimmt mit ihr eine abenteuerliche Reise voller lebensbedrohlicher Gefahren, wobei sich Billy auch deshalb so um das Wohl der Wölfin bemüht, weil er sie für eine Botin aus einer anderen Welt betrachtet, in der die Natur nach eigenen Gesetzen funktioniert.
Immer wieder bringt McCarthy Gegensätze zusammen, Wildnis und Zivilisation, Gewalt und Güte, Einsamkeit und Geselligkeit, Mordlust und Vergebung, Hoffnung und Verzweiflung, Heimat und die Fremde. Es ist nichts Glorifizierendes, das der Autor zum Western-Genre beizutragen hat. Stattdessen beschreibt er eindrucksvoll die kleinen und großen Gesten, die den Unterschied zwischen Gut und Böse ausmachen.
Neben den fast schon manieristisch detaillierten Beschreibungen der Alltagsszenen, der Reisen und gefahrvollen Aufeinandertreffen mit Dieben und Mördern webt McCarthy aber immer wieder betörend eindringliche, mit lakonisch humorvollen Akzenten versehene Dialoge ein, die oft leider im spanischen Original belassen werden, so dass sich für den Leser der Sinn nur aus dem Kontext erschließt.
Wie brutal die Welt letztlich ist, stellt Billy am Ende seiner ersten Reise nach Mexiko fest, als er auf die verlassene Ranch seiner Familie zurückkehrt. Statt jedoch zu verzweifeln, macht sich Billy immer wieder auf den schicksalhaften Weg zu den Verursachern des Unglücks und wird dabei selbst mit den unterschiedlichsten Empfindungen konfrontiert. Wie McCarthy all diese Gegensätze zu großer Literatur vereint, ist nicht unbedingt leichtverdauliches Pageturner-Futter, bleibt aber nachhaltig in der Vorstellungskraft des Lesers haften.
Leseprobe Cormac McCarthy "Die Border-Trilogie"

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