(Wunderlich, 416 S., HC)
Zwar veröffentlichte der in Sheffield geborene und lebende Schriftsteller Simon Beckett auch schon seit Mitte der 1990er Jahre einige Romane, doch erst mit „Die Chemie des Todes“, dem 2006 inszenierten Auftakt seiner Reihe um den Forensiker David Hunter, gelang Beckett der internationale Durchbruch. Nach fünf weiteren Hunter-Romanen und dem davon unabhängigen Bestseller „Der Hof“ markiert „Die Verlorenen“ nun den Beginn einer neuen Reihe des britischen Erfolgsautors.
Vor zehn Jahren geriet das Leben von Jonah Colley, Mitglied einer bewaffneten Spezialeinheit der Londoner Polizei, völlig aus den Fugen, als sein damals vierjähriger Sohn Theo spurlos von dem Spielplatz verschwindet, den Colley mit ihm aufsuchte. Die Polizei vermutete, dass Theo durch ein Kanalgitter gerutscht und ertrunken sei, und schloss den Fall mangels weiterführender Hinweise ab. Über den Verlust ihres gemeinsamen Sohnes trennte sich Jonah von seiner Frau Chrissie, auch der Kontakt zu Jonahs bestem Freund Gavin McKinney - ebenfalls im Polizeidienst, aber in einer anderen Einheit – brach abrupt ab.
Umso überraschter ist Colley, als sich Gavin nach so langer Zeit bei ihm meldet und um ein dringliches Treffen bittet, um Mitternacht am Slaughter Quay. Doch als Colley dort mit mulmigem Gefühl auftaucht, ist von seinem ehemals besten Freund nichts zu sehen, sein auf dem Boden liegender Dienstausweis und der unverkennbare Geruch von Blut lassen aber das Schlimmste befürchten. Tatsächlich findet Colley eine völlig entstellte Leiche, dann bei näherer Untersuchung der Umgebung drei weitere in Plastikfolie eingewickelte Körper. Bei einem der Plastikkokons entdeckt Colley sogar noch Lebenszeichen, doch erfährt er nur den Namen der Frau – Nadine -, bevor er selbst niedergeschlagen wird.
Als Colley später im Krankenhaus wieder zu sich kommt und von Detective Inspector Jack Fletcher befragt wird, erfährt er, dass Gavins mutmaßliche Leiche verschwunden ist, die Frau nicht überlebt hat und die anderen beiden, männlichen Opfer ebenfalls noch nicht identifiziert werden konnten. Während Colley selbst in Verdacht gerät, etwas mit den Morden am Slaughter Quay zu tun zu haben, ermittelt Colley mit zertrümmerter Kniescheibe und Krücken auf eigene Faust.
Er stellt fest, dass der damals 34-jährige, vielmals vorbestrafte Owen Stokes, den die Cops nach Colleys Beschreibung als Verdächtigen aus dem Park identifiziert haben, auch in den aktuellen Fall verwickelt zu sein scheint, denn offenbar haben Gavin und Stokes Kontakt miteinander gepflegt. Mit der Hilfe von Gavins ehemaligem Partner, dem abgehalfterten Ex-Detective Wilkes, versucht Colley, Hinweise auf Gavins Verwicklungen in die Morde am Slaughter Quay zu finden, doch erst die attraktive Journalistin Corinne Daly kann ihm Namen nennen, die Colley auf die richtige Spur bringen. Als er in einer geheimen Absteige von Gavin McKinney eine vollgestopfte Geldtasche entdeckt, fragt sich Colley, wie tief sein alter Freund wohl in diese Sache verwickelt gewesen ist …
„Eine Dreiviertelmillion Pfund war ein handfestes Motiv. Es waren schon Menschen für weit weniger gestorben. Das ließ lauter neue und beunruhigende Schlussfolgerungen zu. Falls Gavin mit Stokes gemeinsame Sache gemacht hatte, war es dann nicht möglich, dass er dabei über irgendetwas gestolpert war, das ihn die Ereignisse vor zehn Jahren in einem neuen Licht hatte sehen lassen? Also etwas, das mit Theo zu tun hatte? Womit sich der Kreis schloss und Jonah erneut vor der Frage stand, warum ihn Gavin an jenem Abend angerufen hatte.“ (S. 253)
Mit dem forensischen Anthropologen David Hunter hatte Beckett Mitte der 2000er Jahre einen Protagonisten geschaffen, der durch den Unfalltod seiner Frau und seiner Tochter schwer traumatisiert aus London wegzog, um als Assistenz eines Landarztes ein neues Leben zu beginnen. Sein neuer Seriencharakter Jonah Colley trägt eine ähnlich schwere Last mit sich herum. Dabei hat er nicht nur das Verschwinden seines Sohnes vor zehn Jahren, die Trennung von seiner Frau und das Ende seiner Freundschaft mit Gavin zu verkraften, sondern auch die Ungewissheit, ob Theo vielleicht noch lebt. Beckett mag dieser Hintergrund genügen, um seinem Helden eine tiefgründige Persönlichkeit zu verleihen, doch außer harten Fakten bekommt der Leser kein wirkliches Gefühl für Colleys seelische Nöte. Statt seinen Protagonisten sorgfältig einzuführen, legt Beckett gleich mit der Action los und lässt seine auf Dauer zunehmend überkonstruiert wirkende Geschichte auch eher vom Tempo als von psychologischer Tiefe bestimmen.
So fällt es einem als Leser schwer, eine Beziehung zu Colley aufzubauen, und auch die Nebenfiguren, von dem trinksüchtig-schmuddeligen Ex-Cop über die attraktive Journalistin bis zu den skeptischen Ermittlern, wirken erschreckend eindimensional und wie ausgelutschte Klischees. Es ist einzig dem ausgeklügelten, nicht immer glaubwürdigen, aber mit durchgängig straffem Tempo inszenierten Plot zu verdanken, dass „Die Verlorenen“ nicht ganz in die Mittelmäßigkeit abrutscht. Für die Fortsetzungen ist auf jeden Fall sehr viel Luft nach oben.
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