Der Mathematiker Jeremy Bremen verfügt über die seltene Gabe der Telepathie, die er glücklicherweise mit seiner Frau Gail teilt. Die intensive Art, wie sie einander Gedanken und Gefühle teilen, verbindet sie auf fast symbiotische Weise. Allein Gail ist auch in der Lage, mit den von ihr aufgebauten Gedankenschirmen für ihren Mann eine Art Schutzwall vor den unzähligen Gedankenströmen fremder Personen zu errichten, so dass er sich besser auf seine Arbeit konzentrieren kann. Als sie jedoch nach schwerer Krankheit stirbt und Bremen den Schutz durch seine Frau gegen das sogenannte Neurobrabbeln verliert, versinkt Bremen in eine tiefe Depression.
Er lässt sich von der mathematischen Fakultät in Haverford freistellen, zündet das gemeinsame Haus an und begibt sich auf eine abenteuerliche Odyssee, bei der vor allem mit den fürchterlichen Gedanken und Begierden von Gewalt, Misstrauen, Hass, Neid und Gier in den Gedankenströmen der Menschen konfrontiert wird. Als Bremen in Miami in einer Fischerhütte strandet, beobachtet er, wie der Mafioso Vanni Fucci eine Leiche im Fluss entsorgt. Fucci bringt Bremen in seine Gewalt und will ihn als Zeugen von seinen Kollegen töten lassen, doch gelingt es dem Chaosforscher, in Disney World seinem Peiniger zu entkommen und mit dem Bus weiter nach Denver zu reisen. Dort wird er aber nach seiner Ankunft beraubt und krankenhausreif geschlagen.
Mit Hilfe eines freundlichen Obdachlosen namens Soul Dad flieht er in einem geklauten 79er Pontiac, nachdem er den Vergewaltiger eines Mädchens fast zu Tode geprügelt hatte. Bremen landet schließlich auf der Farm von Miz Morgan, die ihn als Farmarbeiter anheuert, aber letztlich nur daran interessiert ist, Bremen mit ihrem Metallgebiss zu töten und in das Kühlhaus zu den anderen Leichen zu hängen. Erst als er nach Las Vegas flüchten kann und Dank seiner telepathischen Kräfte beim Pokern satte Gewinne einstreicht, scheint sich das Blatt für Bremen zu wenden. Doch in einem der Casinos erkennt Vanni Fucci den Zeugen aus Miami wieder und unternimmt einen zweiten Anlauf, Bremen unter die Erde zu bringen. Wieder einmal wird Bremen den schrecklich primitiven Gedanken menschlicher Wesen ausgesetzt …
„Die meisten brutalen Menschen, die Bremen mit seinem Geist berührte, waren dumm – viele erstaunlich dumm, viele unterstützten ihre Dummheit durch Drogen -, aber der Dunstkreis ihrer Gedanken und Gedächtniszentren war nichts im Vergleich mit der blutwitternden Klarheit des Jetzt, der Unmittelbarkeit dieser Sekunden der Gewalt, die sie suchten und genossen, die das Herz schneller schlagen ließen und Erektionen bescherten. Die Erinnerungen an solche Taten waren weniger in den Köpfen als vielmehr in den Händen und Muskeln und Lenden gespeichert. Gewalt bestätigte. Sie schuf einen Ausgleich für die vielen banalen Stunden des Wartens, der Beleidigung und Untätigkeit, die Stunden vor dem Fernseher, wohl wissend, dass man keines der strahlenden Wunder besitzen konnte, die dort vorgeführt wurden …“ (S. 136f.)
Nachdem sich Dan Simmons mit „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“ als preisgekrönter Horror-Autor etabliert hatte, der mit dem zweibändigen Epos um „Hyperion“ auch die Science-Fiction erfolgreich erobern konnte, legte er 1992 mit dem Roman „The Hollow Man“, der zwei Jahre darauf bei Heyne in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das leere Gesicht“ veröffentlicht wurde, ein weitaus schwerer zugängliches Werk vor. Das betrifft nicht nur den ungewöhnlichen Aufbau des Romans, der mit dem Sterben von Bremens Frau Gail beginnt und von der Schilderung von Erinnerungen sowie ungewöhnlichen Erzählperspektiven geprägt wird, sondern auch den sehr ausführlich dargelegten wissenschaftlichen Hintergrund, der Bremens Forschung betrifft. Eine besondere Rolle nimmt dabei die schicksalhafte Begegnung mit dem Neuroforscher Jacob Goldmann ein, dessen Arbeit sich wunderbar mit Bremens eigener Forschung zum menschlichen Gedächtnis als sich fortpflanzende Wellenfront ergänzt.
Simmons lässt Bremen und Goldmann endlos lange über die Probleme der Quantenmechanik, Parallelwelten, Kartographie des menschlichen Bewusstseins und Wahrscheinlichkeitswellen diskutieren, was den Fluss der Handlung nicht nur ausbremst, sondern in seiner Detailverliebtheit auch nicht unbedingt zum Verständnis der Geschichte nötig ist. So präsentiert sich „Das leere Gesicht“ als extrem heterogenes, höchst komplexes Werk, das sich als Road Trip mit Elementen aus Horror, Fantasy und Science-Fiction erweist, sich aber auch mit grundlegenden spirituellen und philosophischen Fragen beschäftigt.
Zum Ende hin gewinnt die Handlung an Tempo und Spannung, schließt auch einzelne Handlungsfäden und Überlegungen zusammen, doch erreicht „Das leere Gesicht“ letztlich nicht die bestechende Qualität früherer Simmons-Werke.
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