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James Carlos Blake – „Red Grass River“

Sonntag, 25. Februar 2018

(Liebeskind, 528 S., HC)
Die Everglades werden von den Einheimischen wegen der mörderischen Mischung aus Treibsand, Zypressensümpfen, Zwergpalmetto-Gestrüpp, Alligatoren, Panther, Schlangen und Mücken als Devil’s Garden bezeichnet. Hier hilft im Dezember 1911 der achtzehnjährige John Ashley seinem Vater dabei, Alkohol an die Indianer zu verkaufen. Als er bei einer Auseinandersetzung den Indianer DeSoto Tiger erschießt, kommt er erstmals mit dem Gesetz und Sheriff Bobby Baker in Konflikt, dem er nicht nur das Mädchen wegnimmt, sondern der ihn und seine Familie von Gesetzesvertretern immer wieder herausfordert, zunächst mit Banküberfällen, zur Prohibition mit flächendeckendem Alkoholschmuggel und Morden.
Bei einem der Raubüberfälle schießt ihm der Chicagoer Gangster Kid Lowe versehentlich ein Auge aus. Zusammen mit seiner Geliebten, der blinden Loretta May, die er im Freudenhaus von Miss Lillian kennen- und lieben gelernt hat, lebt John Ashley mit seinen Brüdern und seinem Neffen Hanford Mobley in den Sümpfen, die er wie kein Zweiter in- und auswendig kennt. Kurz bevor Ashley eine Haftstrafe im Staatsgefängnis von Raiford antritt, lernt er die schöne Laura Upthegrove kennen und führt sie in seine Familie ein, die mit ein paar Freunden von John Vater Old Joe Ashley dafür sorgt, dass Ashley aus dem Gefängnis fliehen kann, worüber Bobby Baker alles andere als erfreut ist.
„Es schien, als warte er auf etwas, von dem er nicht genau wusste, was es war. Und viele Menschen teilten dieses Gefühl. Sie sagten, es fühle sich an wie ein schlimmer Sturm, der sich am Horizont zusammenbraute, auch wenn man die Anzeichen noch nicht benennen könne. Als braue er sich ohne Geräusch oder Geruch und ohne Windhauch zusammen, und doch wisse doch jeder, dass er da draußen lauere und unweigerlich heranziehen werde.“ (S. 398) 
Zwischen dem schnell zur Legende gewordenen Outlaw und dem liebevollen Familienvater und Gesetzeshüter Bobby Baker entwickelt sich ein tiefverwurzelter Hass, ein Krieg, der erst am 1. November 1924 beendet wird, als die Ashley-Gang auf dem Weg nach Jacksonville zu einem weiteren Bankraub ist und in eine Straßensperre auf dem Dixie Highway gerät.
Der in Mexiko geborene, in Texas aufgewachsene und heute in Arizona lebende Schriftsteller James Carlos Blake wurde hierzulande durch die mit dem Los Angeles Times Book Prize prämierte deutsche Erstveröffentlichung „Das Böse im Blut“ bekannt und hat schon in seinem Debütroman „Pistolero“ einer amerikanischen Gangster-Legende nachgespürt, dem Revolverhelden John Wesley Hardin (1853-1895).
Mit seinem im Original 1998, nun endlich in deutscher Übersetzung veröffentlichten Roman „Red Grass River“ rekapituliert er das Leben und Wirken des Outlaws John Ashley aus der Sicht des Liars Club, einer Gruppe von alten Männern, die als sogenannte „Cracker“, Viehtreiber, aus dem Süden nach Florida kamen und sich allerlei Geschichten über John Ashleys Gang und die Verbrechen, die sie begingen, erzählten.
Bereits aus dieser Erzählperspektive wird deutlich, wie sehr sich Fakt und Fiktion bei dem vorliegenden Werk vermischen. Blake bedient sich dabei einer ebenso rauen wie farbenprächtigen Sprache, die den harschen Umgangston unter den Männern ebenso pointiert wiedergibt wie die Schrecken der unbarmherzigen Natur, die allerdings zunehmend zurückgedrängt wird. Der Autor nutzt die epische Gangster-Ballade nicht nur für die Darstellung der über ein Jahrzehnt andauernden Fehde zwischen den Ashleys und Bakers, sondern auch zur Beschreibung von gewaltigen Veränderungen, von der Bezähmung der Natur, der Ausbreitung von wirtschaftlichen Interessen und Verbrechen, aber auch von der Leidenschaft, mit der Menschen sich lieben und zerstören.
Ähnlich wie Cormac McCarthy („Die Abendröte im Westen“) - wenn auch nicht ganz so düster - beleuchtet James Carlos Blake die dunklen Kapitel in der amerikanischen Geschichte. Detailliert beschreibt er, welche Wunden Messer, Pistolen, Gewehre und Fußtritte und Faustschläge anrichten, wie Rippen und Kiefer brechen, Haarbüschel von der Kopfhaut geschossen werden und Blut gespuckt wird. Auch bei der Schilderung der vielen Sexszenen fühlt sich der Leser eher an Raufereien als an liebevolle Zusammenkünfte erinnert.
Zwar stehen die Ashleys im Mittelpunkt der Geschichte, aber James Carlos Blake kommt auch immer wieder auf die Baker-Familie zurück, um so einen bürgerlichen Gegenentwurf zu dem Verbrecherdasein der Ashleys zu zeichnen, auch wenn dieser weitaus weniger interessant erscheint. Nachdem jetzt erst drei Romane des vielfach ausgezeichneten Autors auf Deutsch erhältlich sind, bleibt zu hoffen, dass auch die nach „Red Grass River“ veröffentlichten Romane und dabei vor allem die bereits vier Bände umfassende Wolfe-Reihe bald nachfolgen werden. 
Leseprobe James Carlos Blake - "Red Grass River"

Jon McGregor – „Speicher 13“

Mittwoch, 24. Januar 2018

(Liebeskind, 352 S., HC)
Die dreizehnjährige Rebecca Shaw, die mit ihren Eltern die Weihnachtsferien in einem kleinen Dorf in Mittelengland verbringt, verschwindet während einer Moorwanderung spurlos, bereits nach wenigen Stunden wird sie offiziell für vermisst erklärt und ein auch aus Freiwilligen organisierter Suchtrupp organisiert. Doch weder der Hubschrauber, der seine Runden über das Heidekraut zieht, noch die Taucher in den insgesamt dreizehn Speicherseen und im Fluss werden fündig. Reporter kommen und gehen, der Alltag nimmt wieder seinen Lauf. 
Die örtliche Pastorin Jane Hughes gibt in ihren Predigten ihrer Hoffnung Ausdruck, dass sich die Dorfgemeinde nicht von der Trauer überwältigen lässt, schließlich lässt die Polizei im Februar sogar mit Schauspielern aus Manchester die tragischen Ereignisse nachstellen. Doch über all die Jahre, die vergehen, bleibt das Verschwinden von Rebecca oder Becky oder Bex nach wie vor ungeklärt. Die Teenager James, Deepak, Sophie und Liam lernten das verschwundene Mädchen besser kennen als jeder andere und organisieren eine eigene Suchaktion, immerhin schien James der letzte Mensch gewesen zu sein, der Becky vor ihrem Verschwinden gesehen hatte. Ruth und Martin Fowler kämpfen mit ihrem Metzgerladen ums Überleben und letztlich auch um ihre Beziehung. Cathy Harris führt den Hund des alten Mr. Wilson regelmäßig spazieren, Su Cooper droht ihren Job bei der BBC zu verlieren. Beziehungen bahnen sich an, Begierden werden befriedigt, andere bleiben unerfüllt. Das Leben nimmt seinen Lauf, in der Natur ebenso wie bei den Menschen.
„Nach dem Mädchen war überall gesucht worden. Vielleicht hatte sie sich mit jemandem verabredet, war mit dem Auto weggefahren und befand sich in Sicherheit. Vielleicht war sie in ein Loch gefallen. Vielleicht hatten ihre Eltern einen schrecklichen Fehler begangen und sie verletzt. Vielleicht war das Mädchen weggerannt, weil es das wollte oder weil es keine andere Wahl hatte. Man wollte es trotzdem wissen.“ (S. 286) 
Obwohl der Booker Prize nominierte Roman des britischen Schriftstellers Jon McGregor mit dem Verschwinden eines dreizehnjährigen Mädchens eigentlich einen klassischen Krimi-Plot eröffnet, bildet das Rätsel um das Schicksal der Vermissten nur den Rahmen für die fein beobachtete Gesellschaftsstudie, die McGregor („Nach dem Regen“, „So oder so“) mit seinem preisgekrönten Roman „Speicher 13“ abliefert. Im Mittelpunkt seines sprachlich so ausgefeilten und atmosphärisch stimmigen Romans stehen nämlich die Schicksale der im Dorf Lebenden. Zwar bleiben auch die Eltern des vermissten Mädchens noch für unbestimmte Zeit dort, aber wie sie mit dem ungeklärten Verschwinden ihrer Tochter umgehen, wird nur am Rande thematisiert. Stattdessen begleitet der Autor ganz verschiedene Menschen in ihrem Alltagsleben mit ihrer von Existenzsorgen begleiteten Arbeit (als Metzger, Töpfer, Journalistin) und der Sehnsucht nach Liebe, die hier und da zu erhofften Beziehungen führt, aber nicht immer erfüllt wird.
Dabei behält die Dramaturgie einen eindringlichen, fast hypnotischen Rhythmus bei, in der immer wieder erwähnt wird, wie alt Becky zum Zeitpunkt der gerade geschilderten Ereignisse wäre, welches Gemüse gerade im Gemeinschaftsgarten zum Ernten ansteht und wie es um den Lauf der Natur mit ihren Rehen, Füchsen, Ringeltauben, Springschwänzen und Wintergoldhähnchen gerade so steht.
„Speicher 13“ lebt weniger von der Spannung, ob das Verschwinden von Rebecca Shaw aufgeklärt wird, sondern von der feinfühligen Beobachtung, wie die Dorfbewohner mit dem Ereignis und ihrem eigenen Leben umgehen. Dabei entwickelt der Roman einen so faszinierenden Sog, dass sich nach der letzten Seite fast schon Bedauern breitmacht, den ganz normalen Schicksalen in dem unbenannten Dorf nicht mehr folgen zu dürfen. 
Leseprobe Jon McGregor - "Speicher 13"

Hari Kunzru – „White Tears“

Sonntag, 14. Januar 2018

(Liebeskind, 352 S., HC)
Mit einem unauffällig versteckten Aufnahmegerät und zwei kleinen Mikros in den Ohren macht sich der 25-jährige Seth regelmäßig auf den Weg, Menschen und Orte aufzunehmen, die Welt mit ihren Gewittern, dem Lärm auf den Straßen und in den U-Bahnen festzuhalten, das Knarren eines Schaukelstuhls auf der Veranda und das Zirpen der Grillen in den Bäumen am Abend. Eines Tages beobachtet Seth den Schachspieler PJ am Washington Square Park und nimmt dabei eher zufällig einen Blues-Song auf, den PJs aufgeweckter Gegner vor sich hinsingt.
Als Carter, sein bester und aus wohlhabender Familie stammende Freund und Geschäftspartner, die Aufnahme zu hören bekommt, ist dieser völlig begeistert und bastelt daraus den Song „Graveyard Blues“, den er – von Nebengeräuschen bereinigt und mit uraltem analogen Knistern versehen – dem fiktiven Blues-Sänger Charlie Shaw zuschreibt und der sich um Internet zu einem gesuchten Sammlerstück entwickelt. Der besonders hartnäckige Sammler JumpJim behauptet sogar, dass es Charlie Shaw tatsächlich gegeben habe.
Als Carter von einem Unbekannten ins Koma geprügelt wird, machen sich Seth und Carters attraktive Schwester Leonie auf den Weg in den Süden, um das Geheimnis des unter mysteriösen Umständen verschwundenen Sängers und des einzigen Songs zu lüften, den er je aufgenommen haben soll …
„Der Himmel wird langsam grau, und in diesem grauen Licht komme ich zu der Erkenntnis, dass ich es nie schaffen werde, mich bis zu Charlie Shaw durchzugraben. Was erwarte ich überhaupt? Eine Leiche? Einen lebenden Mann in einem Sarg? Einen Mann, der singt und Gitarre spielt, mit dem ich verhandeln kann, den ich um Gnade bitten kann? Ist es das, wonach ich grabe? Dass ich mein Leben zurückbekomme?“ (S. 295) 
Seit seinem Debütroman „Die Wandlungen des Pran Nath“ (2002) hat sich der britische Journalist und Schriftsteller Hari Kunzru zu einem der interessantesten jungen Autoren der Literaturszene entwickelt. Mit seinem neuen Roman greift er ein überaus aktuelles Thema auf, nämlich die Retromanie, mit der die Hipster der Generation Y ihre eigene Identität dadurch formen, dass sie sich gefällige Artefakte vergangener Epochen zu eigen machen und es als eigene Kreation präsentieren. In Kunzrus bereits fünften Roman „White Tears“ ist es vor allem Carter, der als Spross eines mächtigen Familienclans vor allem eine Leidenschaft für alte Blues-Platten entwickelt hat und sich dadurch eine legitime schwarze Identität zulegen will. Tatsächlich ist es aber sein weitaus weniger coole und wohlhabende Kumpel Seth, der auf seiner Reise in die Vergangenheit die Identität des gesuchten Blues-Musikers Charlie Shaw anzunehmen scheint und dabei seine eigene Persönlichkeit zu verlieren droht.
Kunzru erweist sich vor allem in der ersten Hälfte des Romans als begnadeter Erzähler, der die Stimmungen und Leidenschaften seiner jungen Protagonisten stimmungsvoll einfängt und dabei auch die neurotischen Züge der Sammler wunderbar beschreibt. Der Duktus der Erzählung verändert sich mit der Reise, die Seth in den Süden antritt, mal mit Carters Schwester Leonie, mal mit Chester Bly, Seths Kollegen vom „Herald Tribune“. Mit der Fahrt nach Mississippi verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, Fantasie und Realität, letztlich ganze Identitäten miteinander.
„White Tears“ erweist sich als psychologisch vielschichtiger, atmosphärisch dichter und spannender Road-Trip, der geschickt, rätselhaft und verstörend eine von fehlgeleiterter Leidenschaft geprägte Suche thematisiert, an deren Ende die vollkommene Selbstauflösung steht.
Leseprobe Hari Kunzru - "White Tears"

Ottessa Moshfegh – „Eileen“

Donnerstag, 11. Januar 2018

(Liebeskind, 334 S., HC)
Die 24-jährige Eileen Dunlop blickt an Weihnachten 1964 in einer Kleinstadt, die sie selbst als X-ville bezeichnet, auf ein ganz unspektakuläres Leben zurück. Obwohl sie sich nicht gerade als hässlich, sondern als normal und durchschnittlich betrachtet, versteckt sie ihren unscheinbaren Körper unter einer dicken Schicht von Klamotten, bis oben hin zugeknöpft, schmort gern in ihrem eigenen Saft, so dass ihr auch ja niemand zu nahekommt. Sie ist ebenso prüde wie permanent unglücklich, extrem unbeholfen und auf alles und jeden zornig.
Zu allem Überfluss lebt sie mit ihrem alkoholsüchtigen und paranoiden Vater zusammen, einem ehemaligen Cop, der keine Gelegenheit auslässt, seine Tochter zu schikanieren, herunterzuputzen und loszuschicken, seine Gin-Vorräte aufzufüllen. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Sekretärin in der Jugendvollzugsanstalt Moorehead, wo sie vor allem damit beschäftigt ist, sich mit den wartenden Müttern abzuplagen, denen sie zum Zeitvertreib selbsterstellte Fragebögen aushändigt („Essen Sei lieber Erbsen aus der Dose oder Karotten aus der Dose?“, „Glauben Sie, dass es Leben auf dem Mars gibt?“), und den Wärtern die Besuchszeiten der Jungen mitteilt.
Am liebsten verbringt Eileen ihre Zeit damit, sich romantischen Phantasien hinzugeben, in denen der attraktive Wärter Randy die Hauptrolle spielt, rein platonisch natürlich. Erst als die elegant gekleidete, wunderschöne Harvard-Absolventin Rebecca Saint John als Erziehungsbeauftragte eingestellt wird, ändert sich Eileens Leben innerhalb einer Woche.
Völlig fasziniert von dem selbstbewussten, charismatischen Auftreten der attraktiven Frau, setzt Eileen alles daran, ihrer neuen Kollegin nicht nur zu gefallen, sondern auch ihre beste Freundin zu werden.
„Vielleicht hatte ich nichts Besseres verdient, als sie aus der Ferne zu bewundern, dachte ich. Es war vermessen von mir zu glauben, dass eine Frau wie Rebecca – unabhängig, schön, erfolgreich – sich für mich interessieren könnte. Was hatte ich schon zu bieten? Ich war ein Langweiler, ein Nobody. Ich konnte dankbar sein, dass ich nichts zu sagen brauchte.“ (S. 269) 
Doch kaum lernt Eileen Rebecca näher kennen, wird sie unvermittelt in ein Verbrechen hineingezogen …
Nach ihrem preisgekrönten Debüt mit der Novelle „McGlue“ legt die in Boston geborene Autorin mit kroatisch-persischen Wurzeln Ottessa Moshfegh mit „Eileen“ nun ihr ebenso gefeiertes Romandebüt vor und findet sich mittlerweile auf die Granta-Liste der zwanzig besten jungen Autoren aus den USA wieder.
Ihre eigentlich recht unsympathische, aber aufrichtige Protagonistin erzählt die Geschichte aus der lange zurückliegenden, aber erstaunlich akribischen Erinnerung heraus, die gerade mal eine Woche vor Heiligabend umfasst. In dieser Woche verwandelt sich die unscheinbare junge Frau allerdings zu einer selbstbewussten Frau, die zwar von ihrem Idol auf einen abtrünnigen Pfad der Gewalt geführt wird, aber dadurch zu einem selbstbestimmten, nicht mehr von Angst und Wut geprägten Leben findet.
Der Autorin gelingt es von Beginn an, einen erzählerischen Sog zu entwickeln, in dem Eileen ihre eigentlich absolut bemitleidenswerten Lebensumstände schildert, ohne dabei allerdings in Selbstmitleid zu verfallen. Die ausführliche Schilderung ihres Alltags und Lebensgefühls reicht völlig aus, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln. Eileens Schwärmereien für Randy und dann für Rebecca wirken wie nachvollziehbare Fluchten aus der erniedrigen, drögen Welt, in die Eileen hineingeboren wurde und die sie nur in ihrer Phantasie entfliehen kann.
Allerdings bietet ihr Rebecca im Gegensatz zu Randy erstmals die Möglichkeit, ihre Träume auch Wirklichkeit werden zu lassen, denn Rebecca scheint sich tatsächlich für Eileen zu interessieren. Sowohl Eileens problematische Beziehung zu ihrem Vater als auch ihr Verlangen, Rebecca als Freundin zu gewinnen, beschreibt Moshfegh jederzeit so glaubwürdig, als der Leser Teil von Eileens Leben, stets an ihrer Seite, ihre Gedanken und Gefühle teilend.
Erst zum Finale hin verliert der so sorgfältig inszenierte erzählerische Sog seine Kraft und Intensität. Die finale Begegnung zwischen Eileen und Rebecca wirkt etwas holprig und überhastet inszeniert. Doch für einen Erstlingsroman weist „Eileen“ eine erstaunliche hypnotische Kraft auf, die weitere Werke der jungen Autorin mit Spannung erwarten lässt.
 Leseprobe Ottessa Moshfegh - "Eileen"

Cynan Jones – „Alles, was ich am Strand gefunden habe“

Samstag, 11. März 2017

(Liebeskind, 237 S., HC)
Der polnische Emigrant Grzegorz hat in einer walisischen Küstenstadt auf ein besseres Leben für sich und seine Familie gehofft, kommt mit seiner Arbeit in einem Schlachthof aber mehr schlecht als recht gerade so über die Runden. Da kommt ihm das Angebot, als Fahrer eines Bootes für eine Kurierfahrt etwas hinzuzuverdienen, mehr als gelegen.
Auch der einheimische Garnelen-Fischer Hold träumt von einem glücklicheren Leben, trauert aber auch seinem besten Freund Danny nach, der vor drei Jahren gestorben ist und Hold das Versprechen abnahm, sich um seinen Sohn Jake zu kümmern, aber er kann nicht verhindern, dass das Haus, in dem der Junge mit seiner Mutter Cara lebte, wahrscheinlich verkauft werden muss.
Ebenso wie Grzegorz wartet Hold auf die einmalige Chance, aus seinem Leben etwas zu machen, genug Geld zu verdienen, um für Cara und Jake sorgen zu können. Als er am Strand ein Boot mit einer Männerleiche entdeckt, fallen ihm drei Drogen-Päckchen in die Hände.
„Er hatte dieses Bild von Cara vor sich gehabt, wie sie mit dem Hals in einem Netz steckte und sich bis zur Erschöpfung abkämpfte. Von seiner Mutter. Greif zu, dachte er. Greif zu und versuch, etwas daraus zu machen. Sonst stehst du wieder nur da und schaust zu.“ (S. 100) 
Doch als Hold die Drogen zu Geld machen will, läuft die Sache aus dem Ruder …
Aus der Perspektive zweier Männer, die nichts anderes vom Leben kennen, als zu arbeiten und mit ihrem kümmerlichen Lohn weit davon entfernt sind, ihre Träume verwirklichen zu können, beschreibt der walisische Schriftsteller Cynan Jones („Graben“) den harten Überlebenskampf und von den Träumen, irgendwie an so viel Geld zu kommen, dass das Elend hinter sich gelassen werden kann.
Die Handlung gerät dabei fast in den Hintergrund und wird auch nicht mit Tempo vorangetrieben. Der verpatzte Drogendeal dient nur als Aufhänger für das vermeintliche Glück, das Grzegorz und dann Hold unerwartet in die Hände fällt, aber letztlich nicht erfüllt wird. Jones fokussiert seine Erzählung eher auf die nachdenklich-melancholische Stimmung, in der die beiden Arbeiter verzweifelt nach einer Möglichkeit suchen, ihre Familien ordentlich versorgen zu können.
Indem Jones sein Figuren-Ensemble auf ein Minimum beschränkt und sehr tief in ihre emotionalen Gefilde eintaucht, entsteht ein Roman von fesselnder Eindringlichkeit, die vor allem durch die wunderbare Sprache evoziert wird.
Leseprobe Cynan Jones - "Alles, was ich am Strand gefunden habe"

China Miéville – „Dieser Volkszähler“

Freitag, 27. Januar 2017

(Liebeskind, 173 S., HC)
Ein Junge lebt mit seiner im Garten arbeitenden Mutter und seinem großen, blassen und besonnen wirkenden Vater abgeschieden auf dem Berg in einem dreistöckigen, irgendwie unfertig wirkenden Haus, gerade noch so in den Grenzen des dazugehörigen Dorfes. Der Vater fertigt magische Schlüssel für seine Kunden an, damit sie Liebe, Geld oder Einblick in die Zukunft bekamen, Dinge öffnen, Sachen reparieren oder Tiere heilen konnten. Nie kommen sie ein zweites Mal. Doch die Idylle trügt. Eines Tages rennt der Junge schreiend den Bergpfad herunter und berichtet den Leuten im Dorf, dass seine Mutter seinen Vater umgebracht habe. Als er berichten soll, was genau passiert sei, muss er feststellen, dass seine Erinnerungen ungenau sind. Hat nicht vielleicht andersherum der Vater die Mutter getötet?
Um dem geschilderten Vorfall auf den Grund zu gehen, suchen die Beamten das Haus des Jungen auf und finden den Vater vor, die Mutter sei – so ist auch einem handgeschriebenen Abschiedsbrief zu entnehmen – offensichtlich einfach weggegangen. Der Junge ist indes fest davon überzeugt, dass der Vater die Mutter ebenso ins unergründlich tiefe Loch im Berg geschmissen habe, wie er es sonst immer wieder mit verschiedenen Tieren getan hat. Da dafür allerdings kein Beweis gefunden werden kann, muss der Junge nun allein mit dem Vater auf dem Berg leben.
„Ich kann Ihnen nicht sagen, was mein Vater von mir wollte; vielleicht wollte er nur mich. Er liebte mich, aber er hatte ja auch meine Mutter geliebt, und diese Liebe hinderte mich nicht daran, ihn zu beobachten und darauf zu warten, dass sein Mienenspiel sich änderte. Sie hinderte mich nicht daran, mir darüber Gedanken zu machen.“ (S. 113) 
Der Vater schwört den Jungen auf die neue Lebenssituation ein und zwingt ihn dazu, in seiner Nähe zu bleiben, doch in dieser Atmosphäre von Angst und Zwang sucht er immer wieder die Gesellschaft seiner Freunde Samma und Drobe. Dann verschwindet auch Drobe …
Bereits mit seinem 1998 erschienenen Debütroman „King Rat“ wurde der in Norwich geborene China Miéville gleich für die renommierten Preise der International Horror Guild und für den Bram Stoker Award nominiert, seine weiteren Romane „Perdido Street Station“ und „The Scar“ (die hierzulande in jeweils zwei Romanen veröffentlich wurden) räumten ebenso wie „Die Stadt & Die Stadt“ oder „Der Eiserne Rat“ namhafte Auszeichnungen ab.
Mittlerweile darf Miéville zweifellos als einer der wichtigsten Erneuerer und Vertreter der Science-Fiction-Literatur betrachtet werden, der mit seinen Büchern stets die Konventionen des Genres durchbricht. Dafür ist auch seine Novelle „Dieser Volkszähler“ ein vorzügliches Beispiel.
Der titelgebende Volkszähler spielt hier eher eine Nebenrolle und taucht auch erst in den letzten dreißig Seiten des schmalen Bandes auf. Im Mittelpunkt steht der namenlose Junge in einem ebenso namenlosen Dorf, das nach einer nicht näher beschriebenen Apokalypse ganz auf Handel und Selbstversorgung angewiesen ist. Die einzige Maschine, die noch existiert, in eine Art Kraftwerk, mit dem die Straßenlaternen betrieben werden. Darüber hinaus wird einfach vieles der Imagination des Lesers überlassen.
Die Dorfbewohner werden eher unbestimmt als Fensterputzer, Offizielle und Fledermausangler beschrieben, ihre Tätigkeiten und ihre Art zu leben werden kaum näher definiert. Interessant ist vor allem die Erzählperspektive des Jungen, der seinen eigenen Erinnerungen kaum trauen kann, also wird auch der Leser stets im Ungewissen bleiben, wie die dargestellten Ereignisse und Schlussfolgerungen überhaupt zu bewerten sind.
Darüber hinaus gelingt es Miéville hervorragend, durch seinen einzigartigen Stil eine ausgeprägt unheimliche, unbestimmte und hypnotische Atmosphäre zu kreieren, die sich bis zum Schluss nicht auflöst und den Leser auch nach dem Umblättern der letzten Seite mit Unbehagen zurücklässt. Das vermag indes nur große Literatur.
Leseprobe China Miéville - "Dieser Volkszähler"

Daniel Woodrell – „Tomatenrot“

Donnerstag, 21. Juli 2016

(Liebeskind, 222 S., HC)
In dem kleinen Kaff West Table in Missouri zählt der junge Sammy Barlach zum Bodensatz der Gesellschaft. Er jobbt in einer Hundefutterfabrik und versetzt am Freitag seinen Lohn für Alkohol und Drogen, um sich im Laufe des Wochenendes mit irgendwelchen Mädchen abzugeben. Um aus seinem elendigen Leben mehr zu machen, bricht er in von Urlaubern verlassene Villen ein, die ihm noch bewusster machen, dass er ein Versager ist. Bei einem dieser Brüche stößt er auf die neunzehnjährige Jamalee mit ihren kurzen tomatenroten Haaren und ihren etwas jüngeren, hübschen Bruder Jason, bei dem die Frauen in dem Friseursalon, wo er seine Lehre macht, schon immer Schlange stehen. Sammy kommt bei den beiden unter und lernt dabei deren Mutter Bev kennen, die als Escortdame und Polizeispitzel ihr Geld verdient.
Sammy lässt sich auf eine Affäre mit der Frau ein, mag aber auch Jamalee, die nur davon träumt, aus dem miesen Viertel Venus Holler herauszukommen und etwas Großes aus ihrem Leben zu machen. Doch als ihr Bruder Jason tot in einem Teich gefischt wird, scheinen sich die Abgründe ihres Lebens nur noch zu vertiefen.
Um an den Autopsiebericht zu kommen, den der ortsansässige Automechaniker Abbott Dell verfasst hat, setzt Bev ihre legendären Reize ein, doch durch ihre Aktion bringen sie nur den Sheriff und die Mächtigen auf den Plan, die Jasons Tod nur unter den Teppich kehren wollen, um sich wieder ihrem Alltag widmen zu können. Doch so leicht lassen sich Bev, Jam und Sammy nicht einschüchtern …
„So ein Angst einflößendes Gesicht ist alles, was Leute wie ich in dieser anderen Welt vorzuzeigen haben, dieser Welt, die unsere beherrscht, das Einzige, was dort noch ein wenig Autorität vermittelt und irgendwelchen zögerlichen Respekt einheimst. Wenn wir niedrigen Elementen nicht Zähne zeigen und schnell zubeißen, dann sind wir nur weicher, lehmiger Dreck, über den alle jederzeit hinwegtrampeln können, und das würden die auch tun, denn selbst wenn wir Zähne zeigen, ist da schon ein ausgetretener Trampelpfad quer durch unseren Verstand und über unsere Rücken.“ (S. 118) 
Es ist ein tristes Bild, das der aus St. Louis und Kansas City stammende Bestseller-Autor Daniel Woodrell („Winters Knochen“) in seinem bereits 1998 veröffentlichten und ein Jahr später mit dem Preis des amerikanischen P.E.N. ausgezeichneten Romans „Tomatenrot“ zeichnet. Seine zumeist jugendlichen Protagonisten leben am Rand der Gesellschaft und sich voll und schmerzlich bewusst, dass es ihnen nicht vorbestimmt ist, allein durch harte Arbeit zu Ansehen und Wohlstand zu kommen. Stattdessen versinken sie weiter im Sumpf aus Drogen, Sex, Gewalt und Verbrechen.
Allein Jason hätte durch sein blendendes Aussehen etwas aus sich machen können, doch als er feststellt, dass er mit Frauen nichts anfangen kann, und seine Homosexualität entdeckt, ist er schon dem Untergang geweiht.
Vor allem Woodrells Ich-Erzähler Sammy analysiert die trostlose Situation immer wieder mit treffenden Worten und Vergleichen, doch ein Ausweg bleibt ihm ebenso verwehrt wie seinen Freunden, die für ihn für eine kurze Zeit wie eine Familie sind.
„Tomatenrot“ bildet nur eine kurze Episode aus dem unsteten Leben eines gesellschaftlichen Außenseiters, der sich seines Schicksals schmerzhaft bewusst ist und trotzdem verzweifelt versucht, mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, sein Gesicht in einer Welt zu wahren, die nur Verachtung für ihn übrig hat.
 Leseprobe Daniel Woodrell - "Tomatenrot"

Donald Ray Pollock – „Die himmlische Tafel“

Freitag, 8. Juli 2016

(Liebeskind, 431 S., HC)
An der Grenze zwischen Georgia und Alabama fristen der Farmer Pearl Jewett und seine drei Söhne Cane, Cob und Chimney ein trostloses Dasein, das ihnen, so das gläubige Familienoberhaupt, im Jenseits mit einem Platz an der himmlischen Tafel vergolten werde. Zu den wenigen erbaulichen Momenten im Leben der Jewett-Söhne zählen die Stunden, in denen Cane, mit dreiundzwanzig Jahren der älteste und bestaussehende Sohn, seinen jüngeren Brüdern aus dem Groschenroman „Das Leben von Bloody Bill Bucket“ vorliest, in dem die kriminellen Machenschaften eines ehemaligen Soldaten der Konföderierten verherrlicht werden.
Als ihr Vater nach all den selbsterwählten Entbehrungen ausgezehrt stirbt, haben die drei Brüder wenig Interesse, das heruntergewirtschaftete Farmland zu bestellen, und machen sich auf den Weg, ihrem Idol Bloody Bill Bucket nachzueifern, der als Bankräuber für Angst und Schrecken gesorgt hatte. Ihr Plan sieht vor, drei Pferde von Major Tardweller zu stehlen, eine Bank um tausend Dollar zu erleichtern und weiter nach Kanada zu ziehen. Nachdem ausgerechnet Cob, der jüngste und beschränkteste Jewett-Spross, Tardweller erschießen muss und die Jewetts-Brüder die ersten Banken überfallen haben, werden auf ihre Köpfe zunehmend höhere Belohnungen ausgesetzt.
Davon weiß Ellworth Fiddler, Farmer im Süden Ohios, nichts, als die drei jungen Männer großzügig für Kost und Logis bezahlen. Für Ellsworth, der durch einen Trickbetrüger all seine Ersparnisse verloren hat und mit seiner Frau Eula noch die Tatsache verarbeiten muss, dass ihr Sohn Eddie wahrscheinlich freiwillig in den Krieg gegen die Deutschen gezogen ist, scheint sich nun das Blatt endlich zum Guten zu wenden, aber der Traum von einem besseren Leben scheint für die Jewetts in immer weitere Ferne zu rücken. Allein Cane scheint zu begreifen, dass sie einem falschen Versprechen hinterherlaufen.
„Er hatte zwar immer gewusst, dass es sich um eine haarsträubende Geschichte handelte, die von jemandem (und vielleicht war Charles Foster Winthrop III. gar nicht sein richtiger Name) aufgeschrieben worden war, der womöglich nicht mehr über das Töten und Bankraub wusste als eine alte Jungfer, die ihr ganzes Leben in einem Zimmer im Haus ihres Vaters verbracht hatte, aber es hatte ihnen Hoffnung geschenkt, wenn es eigentlich keine mehr gab, etwas, wonach man streben konnte, das größer war als das Leben, das sie geführt hatten, selbst wenn es verrückt war zu glauben, dass sie jemals damit durchkommen würden. Wo wären sie jetzt, wenn sie das Buch niemals in dieser vergammelten Reisetasche gefunden hätten?“ (S. 202) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Donald Ray Pollock hat erst im reifen Alter von 45 Jahren seine erste Geschichte veröffentlicht und 2008 mit dem nach seiner Heimatstadt Knockemstiff, Ohio, benannten Kurzgeschichtensammlung international für Aufsehen gesorgt. Drei Jahre später erschien sein Debütroman „Das Handwerk des Teufels“, ein abgründiger Roman um Korruption, religiösen Fanatismus und die verlogene Hoffnung auf Erlösung. Mit diesen Themen beseelt Pollock auch seinen neuen Roman „Die himmlische Tafel“.
Im Mittelpunkt dieses wieder sehr abgründigen Romans stehen zwar vor allem die sehr unterschiedlichen Jewetts-Brüder, die die in einem Groschenroman erzählten Abenteuer eines Gesetzlosen als Inspiration für ihr eigenes Schicksal annehmen, aber Pollock stellt in seinem atmosphärisch dichten, psychologisch tiefgründigen wie schnörkellos geschriebenen Werk auch andere interessante Figuren vor.
Da ist vor allem das Fiddler-Ehepaar, das einem Betrüger auf dem Leim gegangen ist und für das nach dem plötzlichen Verschwinden ihres einzigen Sohnes Cob Jewett eine Art Ersatzsohn wird. Außerdem hat der junge Lieutenant Vincent Bovard nicht nur damit zu kämpfen, dass er von einer Horde Ungebildeter umgeben ist, sondern auch seine homosexuellen Neigungen nicht ausleben kann. Und schließlich wird noch das kleinstädtische Treiben in Meade aus der Sicht des Sanitärinspekteurs Jasper Cone beschrieben, wobei vor allem Einblicke in die häufig auch von Soldaten frequentierte Hurenscheune gewährt werden.
Pollock erweist sich einmal mehr als begnadeter Erzähler, der die Sorgen, Nöte, Träume und Hoffnungen seiner Figuren in einer kompromisslos klaren Sprache beschreibt und ihre zunächst lose aneinandergereihten Schicksale nach und nach geschickt miteinander verzahnt. Auch wenn die wachsende Fangemeinde des spät zum Schreiben berufenen Pollock stets drei, vier Jahre auf ein neues Werk des u.a. mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichneten Autors warten muss, wird sie durch die ausgeprägte Klasse seiner Geschichten hundertfach entschädigt.

James Carlos Blake – „Pistolero“

Sonntag, 4. Oktober 2015

(Liebeskind, 431S., HC)
Als am 19. August 1895 im Acme Saloon in El Paso der Polizist John Selman die Waffe auf den Hinterkopf von John Wesley Hardin richtete und abdrückte, ist das Leben des wohl berüchtigsten Revolverhelden in Texas zu Ende gegangen. Darauf weist der einen Tag später im El Paso Daily Herald erschienene Artikel hin, der zur Einstimmung auf die Lebensgeschichte von Wes Hardin den Augenzeugenberichten vorangestellt ist, die chronologisch in einzelnen Episoden, die sie mit Hardin verbracht haben, die aufregende Geschichte eines Mannes erzählen, der seine Waffe gegen jeden zückte, der sein Leben bedroht hat – und nur dann!
Beginnend mit dem Bericht der Hebamme, die Hardin „in einem blutigen Sturzbach“ im Jahr 1853 zur Welt gebracht hat, erfährt der Leser zunächst, wie die Familie von Reverend Hardin ungefähr 1855 vom Red River nach Polk County gezogen ist, wo der Reverend nicht nur das Wort Gottes predigte, sondern auch in der Schule lehrte und als Anwalt praktizierte.
Gregor Holtzman, der die Familiengeschichte auf zwei Seiten zusammenfasst, lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Hardins eine stolze Familie von guter Herkunft seien. Schon der Vater des Reverend, Benjamin Hardin, hat im Kongress von Texas gesessen und Augustine, ein Onkel des Reverends, hat die Unabhängigkeitserklärung mit unterschrieben.
In dieser geschichtsträchtigen Familie entwickelte auch Wes einen außerordentlichen Familien- und Gerechtigkeitssinn. Der wissbegierige Junge entwickelte früh ein Talent für die Arbeit der Cowboys, machte auch als Lehrer eine gute Figur und faszinierte die Frauen. Vor allem war er unglaublich schnell mit seinen Pistolen. Doch als er den Deputy Sheriff Morgan in DeWitt County tötet, wird aus dem geachteten Revolverhelden ein gesuchter Mann, der sich schließlich vor Gericht verantworten muss.
„Die Geschichte von Wes‘ Kampf mit der San-Antonio-Bande verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Sie stand in allen Zeitungen. Manche Leitartikel nannten ihn einen Helden, weil er sich der verhassten State Police und den feigen Vigilanten, den Bürgerwehrlern, die das Recht selbst in die Hand nahmen, gestellt hatte – andere hielten ihn für einen blutigen Desperado, der wie ein räudiger Hund abgeknallt oder an der größten Eiche in Texas aufgehängt gehöre.“ (S. 207) 
Nachdem der Münchener Liebeskind Verlag bereits den mit dem Los Angeles Times Book Prize ausgezeichnete Buch „Das Böse im Blut“ des in Mexiko geborenen und in Texas lebenden Autors James Carlos Blake erstmals der deutschen Leserschaft bekannt gemacht hatte, erscheint dort nun auch das 1995er Debüt „Pistolero“.
Obwohl diese fiktionale Biografie aus der Perspektive von gut fünfzig Zeitzeugen des berüchtigten Revolverhelden erzählt wird, wirkt die Collage aus Erinnerungen, Zeitungsberichten und autobiografischen Bemerkungen wie aus einem Guss. Blake lässt in den Ausführungen von Verwandten, Prostituierten, Lehrern, Richtern, Anwälten, Barkeepern, Freunden und Verwandten das lebendige Portrait eines Mannes entstehen, der seine außergewöhnlichen Begabungen vor allem zum Wohl seiner Mitmenschen einsetzte und jedem Streit möglichst ohne Einsatz von Waffen aus dem Wege ging. In diesen Beschreibungen wird aber nicht nur das abenteuerliche Leben des Protagonisten dargelegt, sondern auch das raue Leben im Texas des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den beschwerlichen Trecks, den Glücksspielen in den Hinterzimmern der Saloons und den Freuden, die Prostituierte den Männern bereiten konnten, facettenreich dokumentiert. Daran werden nicht nur Western-Fans ihre Freude haben.
Leseprobe James Carlos Blake - "Pistolero"