Die dreizehnjährige Rebecca Shaw, die mit ihren Eltern die Weihnachtsferien in einem kleinen Dorf in Mittelengland verbringt, verschwindet während einer Moorwanderung spurlos, bereits nach wenigen Stunden wird sie offiziell für vermisst erklärt und ein auch aus Freiwilligen organisierter Suchtrupp organisiert. Doch weder der Hubschrauber, der seine Runden über das Heidekraut zieht, noch die Taucher in den insgesamt dreizehn Speicherseen und im Fluss werden fündig. Reporter kommen und gehen, der Alltag nimmt wieder seinen Lauf.
Die örtliche Pastorin Jane Hughes gibt in ihren Predigten ihrer Hoffnung Ausdruck, dass sich die Dorfgemeinde nicht von der Trauer überwältigen lässt, schließlich lässt die Polizei im Februar sogar mit Schauspielern aus Manchester die tragischen Ereignisse nachstellen. Doch über all die Jahre, die vergehen, bleibt das Verschwinden von Rebecca oder Becky oder Bex nach wie vor ungeklärt. Die Teenager James, Deepak, Sophie und Liam lernten das verschwundene Mädchen besser kennen als jeder andere und organisieren eine eigene Suchaktion, immerhin schien James der letzte Mensch gewesen zu sein, der Becky vor ihrem Verschwinden gesehen hatte. Ruth und Martin Fowler kämpfen mit ihrem Metzgerladen ums Überleben und letztlich auch um ihre Beziehung. Cathy Harris führt den Hund des alten Mr. Wilson regelmäßig spazieren, Su Cooper droht ihren Job bei der BBC zu verlieren. Beziehungen bahnen sich an, Begierden werden befriedigt, andere bleiben unerfüllt. Das Leben nimmt seinen Lauf, in der Natur ebenso wie bei den Menschen.
„Nach dem Mädchen war überall gesucht worden. Vielleicht hatte sie sich mit jemandem verabredet, war mit dem Auto weggefahren und befand sich in Sicherheit. Vielleicht war sie in ein Loch gefallen. Vielleicht hatten ihre Eltern einen schrecklichen Fehler begangen und sie verletzt. Vielleicht war das Mädchen weggerannt, weil es das wollte oder weil es keine andere Wahl hatte. Man wollte es trotzdem wissen.“ (S. 286)Obwohl der Booker Prize nominierte Roman des britischen Schriftstellers Jon McGregor mit dem Verschwinden eines dreizehnjährigen Mädchens eigentlich einen klassischen Krimi-Plot eröffnet, bildet das Rätsel um das Schicksal der Vermissten nur den Rahmen für die fein beobachtete Gesellschaftsstudie, die McGregor („Nach dem Regen“, „So oder so“) mit seinem preisgekrönten Roman „Speicher 13“ abliefert. Im Mittelpunkt seines sprachlich so ausgefeilten und atmosphärisch stimmigen Romans stehen nämlich die Schicksale der im Dorf Lebenden. Zwar bleiben auch die Eltern des vermissten Mädchens noch für unbestimmte Zeit dort, aber wie sie mit dem ungeklärten Verschwinden ihrer Tochter umgehen, wird nur am Rande thematisiert. Stattdessen begleitet der Autor ganz verschiedene Menschen in ihrem Alltagsleben mit ihrer von Existenzsorgen begleiteten Arbeit (als Metzger, Töpfer, Journalistin) und der Sehnsucht nach Liebe, die hier und da zu erhofften Beziehungen führt, aber nicht immer erfüllt wird.
Dabei behält die Dramaturgie einen eindringlichen, fast hypnotischen Rhythmus bei, in der immer wieder erwähnt wird, wie alt Becky zum Zeitpunkt der gerade geschilderten Ereignisse wäre, welches Gemüse gerade im Gemeinschaftsgarten zum Ernten ansteht und wie es um den Lauf der Natur mit ihren Rehen, Füchsen, Ringeltauben, Springschwänzen und Wintergoldhähnchen gerade so steht.
„Speicher 13“ lebt weniger von der Spannung, ob das Verschwinden von Rebecca Shaw aufgeklärt wird, sondern von der feinfühligen Beobachtung, wie die Dorfbewohner mit dem Ereignis und ihrem eigenen Leben umgehen. Dabei entwickelt der Roman einen so faszinierenden Sog, dass sich nach der letzten Seite fast schon Bedauern breitmacht, den ganz normalen Schicksalen in dem unbenannten Dorf nicht mehr folgen zu dürfen.
Leseprobe Jon McGregor - "Speicher 13"
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