Stephen King – „Doctor Sleep“

Mittwoch, 11. Dezember 2013

(Heyne, 704 S., HC.)
“Shining” ist nicht nur eines der ältesten (1977 erstmals von Doubleday veröffentlicht) Werke des Horror-Schriftstellers Stephen King, sondern wurde auch 1980 kongenial von Stanley Kubrick mit Jack Nicholson in der Hauptrolle verfilmt. Nach über 35 Jahren legt King mit „Doctor Sleep“ nun eine packende Fortsetzung vor, in der das Schicksal von Daniel Torrance im Mittelpunkt des Geschehens steht.
Er muss ein noch stärker mit dem „Shining“ gesegneten Mädchen vor einer besonderen Art von Vampiren retten. Nachdem das Overlook-Hotel wegen eines defekten Heizkessels – so das Fazit des Brandinspektors von Jicarilla County - bis auf die Grundmauern abgebrannt war und unter anderem der für den Winter eingestellte Hausmeister John Torrance dabei ums Leben kam, lebten seine Frau Wendy und ihr gemeinsamer Sohn Daniel von der Abfindung, die ihnen die Besitzerfirma des Hotels zahlten, im mittleren Süden und dann im sonnigen Tampa.
Mittlerweile ist Dan erwachsen und wie sein Vater dem Alkohol verfallen. Er reist durch die Staaten und nimmt Gelegenheitsjobs als Hausmeister und Krankenpfleger an, bis er in Frazier landet und die Bekanntschaft mit Billy Freeman macht, der ihm einen Job in der Freizeitanlage Teenytown vermittelt. Deren Boss erkennt sofort, dass Dan ein Alkoholiker ist und legt ihm ein strenges Programm auf. Doch kaum hat sich Dan eingelebt, erhält er Botschaften von einem Mädchen namens Abra, das schon als Baby starke „Shining“-Kräfte zum Ausdruck gebracht hat. Während die beiden miteinander kommunizieren, kommen sie einer Vampir-ähnlichen Sekte auf die Spur, die sich der Wahre Knoten nennt und seit Jahrhunderten unauffällig in Wohnmobilen durch die Lande zieht und sich von dem sogenannten Steam ernährt, dem letzten Odem von Menschen, die das „Shining“ besitzen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn der Wahre Knoten hat längst die Spur von Abra aufgenommen …
„Rose wollte das Mädchen nicht nur, weil es – mithilfe des richtigen Drogencocktails und kraftvoller übersinnlicher Beruhigungsmaßnahmen – einen fast endlosen Vorrat an Steam liefern konnte. Die Sache hatte einen persönlicheren Aspekt. So jemand umwandeln? Zum Teil des Wahren Knotens machen? Niemals. Die Kleine hatte Rose the Hat aus ihrem Kopf gescheucht wie eine lästige Sektenanhängerin, die von Tür zu Tür ging, um Broschüren über das Ende der Welt zu verteilen. So war Rose noch von niemand rausgeschmissen worden. Egal wie kraftvoll die Kleine war, man musste ihr eine Lektion erteilen. Und dafür bin ich genau die Richtige.“ (S. 294f.) 
Ebenso wie sich viele Leser gefragt haben, was mit dem kleinen Danny passiert ist, nachdem er mit seiner Mutter Wendy und dem Koch Dick Hallorann in den nächstgelegenen Ort Sidewinder geflüchtet ist, ließ auch den Autor die Frage nie los. 35 Jahre nach "Shining" legt Stephen King mit „Doctor Sleep“ eine Fortsetzung vor, die wie in Kings epochalen Meisterwerken „The Stand - Das letzte Gefecht“ und „Der dunkle Turm“ nicht weniger als den Kampf des Guten gegen das Böse in epischen Dimensionen thematisiert.
Die 700 Seiten werden dabei vor allem von der innigen – durch das „Shining“ geprägte - Beziehung zwischen der jungen Abra und dem Alkoholiker Danny geprägt, von Danny schwerem Weg, die Alkoholsucht zu besiegen und ein neues Leben zu beginnen, von seiner Fähigkeit, als „Doctor Sleep“ im Pflegeheim die Sterbenden zur letzten Ruhe zu begleiten, aber auch von Abras Unsicherheit im Umgang mit ihren außergewöhnlichen mentalen Kräften und natürlich der Konfrontation zwischen dem Wahren Knoten und Abra mit ihren Freunden und Angehörigen.
Der Roman überzeugt dabei durch seine sorgfältig gezeichneten Figuren und den dramaturgisch geschickt inszenierten Spannungsaufbau, der sich in einem furiosen Finale entlädt.
Leseprobe: Stephen King – “Doctor Sleep”

Ian McEwan – „Honig“

Sonntag, 17. November 2013

(Diogenes, 463 S., HC.)
Eigentlich wollte die hübsche wie kluge Bischofstochter Serena Frome bei ihrer Vorliebe für das Lesen von Romanen ein gemächliches Englischstudium an irgendeiner Provinzuniversität absolvieren, doch ihr ausgeprägtes Talent für die Mathematik ließ sie nach Cambridge aufs Newnham College gehen, wo sie nur noch ein kleines Licht auf diesem Gebiet war. Während ihrer wenig aufregenden Studienzeit, in der sie immerhin ihre Unschuld verlor und eine Reihe von Liebhabern hatte, las sie weiterhin Bücher und begann für die Wochenzeitschrift „?Quis?“, die ihre Freundin Rona Kemp ins Leben rief, regelmäßige Kolumnen zu schreiben, zunächst Zusammenfassungen der von ihr verschlungenen Romane mit selbstparodierenden Urteilen, dann – als sie mit einem russischen Schriftsteller liiert war – zunehmend ernsthafte antikommunistische Artikel.
Mit Tony Canning tritt schließlich 1972 der Geschichtstutor ihres aktuellen Freundes Jeremy auf den Plan und rekrutiert Serena für den MI5, wo sie allerdings langweiligen Dienst als Büroangestellte der untersten Dienststufe leistet. Doch dann initiiert der MI5 analog zur CIA, die jahrelang kulturelle Projekte in Europa förderte, das Unternehmen „Honig“. Unter dem Tarnnamen und über den Umweg verschiedener vom britischen Geheimdienst finanzierten Stiftungen sollen junge Schriftsteller und Journalisten gefördert werden, die sich öffentlich für die freie Welt engagieren. Serena bekommt den Auftrag, für dieses Projekt Thomas Haley zu begutachten und schließlich zu rekrutieren.
„Ich hatte seinen Hunger nach Anerkennung freigelegt, nach Lob, nach allem, was ich ihm geben konnte. Daran lag ihm wohl am meisten. Seine Erzählungen waren vermutlich, abgesehen vom routinemäßigen Dank und Schulterklopfen irgendeines Redakteurs, sang- und klanglos untergegangen. Wahrscheinlich hatte keiner, zumindest kein Fremder, ihm jemals gesagt, wie phantastisch seine Prosa war. Jetzt hörte er es und erkannte, dass er das schon immer vermutet hatte. Ich hatte ihm eine umwerfende Nachricht überbracht. Wie konnte er wissen, dass er etwas taugte, wenn niemand es ihm bestätigte? Und jetzt wusste er es, es stimmte tatsächlich, und er war dankbar.“ (S. 207) 
Der Coup gelingt, doch indem sie eine leidenschaftliche Affäre mit dem vielversprechenden Autor beginnt, setzt sie einiges aufs Spiel …
Ian McEwan („Abbitte“) hat die interessante Zeit des Kalten Krieges, in der sowohl der demokratische Westen als auch der kommunistische Osten nichts unversucht ließen, die Überlegenheit ihrer Ideologien zu propagieren, als Szenario für eine außergewöhnliche Love- und Agentenstory gewählt und dabei weniger das Spionieren an sich als vielmehr die emotionalen Verquickungen ins Zentrum seines Romans „Honig“ gestellt. Fachkundig bekommt der Leser zwar einen wunderbar unterhaltsam geschilderten Einblick in die politischen Machenschaften und undurchsichtigen Geheimdienst-Praktiken der damaligen Zeit, aber dem britischen Meistererzähler geht es wie immer vor allem darum, wie sich seine Protagonisten in ihrem jeweiligen Umfeld bewegen und was sie zu ihrem Tun antreibt. Mit Serena Frome beschreibt er eine durchweg sympathische Heldin mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die sie durchaus gewinnbringend einzusetzen versteht.
Was „Honig“ dabei auszeichnet, ist nicht nur die sprachliche Geschliffenheit, mit der McEwan minutiös Geschehen und Befindlichkeiten beschreibt, sondern die elegante Verquickung von Realität und Fiktion, wie sie vor allem in den Zusammenfassungen von Haleys Erzählungen und Serenas Interpretationen und Übertragungen auf den Autor zum Ausdruck kommen. Aber auch die fein gesponnene Symbiose aus Spionage-Roman und Liebes-Drama, der immer wieder durchblitzende feine Humor und die überraschenden Wendungen machen „Honig“ zu einem kurzweiligen, tiefsinnigen und amüsanten Lesegenuss.
Leseprobe Ian McEwan - "Honig"

Philippe Djian – „Wie die wilden Tiere“

Samstag, 2. November 2013

(Diogenes, 227 S., HC)
Als der bildende Künstler Marc in einer Metro ein völlig betrunkenes und vollgekotztes Mädchen aufliest und mit nach Hause in seine am Strand liegende Villa nimmt, füllt er damit nicht nur den geräumigen Wohnsitz, sondern auch die Leere, die dort nach dem Aufsehen erregenden Selbstmord seines achtzehnjährigen Sohnes Alexandre und der Trennung von seiner Frau Elisabeth entstanden ist.
Marc versteht selbst nicht, warum er die junge Frau unter seine Fittiche genommen hat, zumal sie am nächsten Tag schon wieder verschwunden ist und sein Haus völlig verwüstet zurückgelassen hat, aber er ahnt wohl, dass ihr gutes Aussehen sicherlich eine Rolle spielte. Kaum taucht Gloria wieder auf, zieht sie bei Marc ein. Er erfährt, dass sie die Alexandres Freundin gewesen ist, und bekommt durch ihre Erzählungen endlich einen Einblick in das Leben seines Sohnes, um den er sich zu wenig gekümmert hat. Marcs beste Freunde Michel und Anne warnen ihn allerdings vor dem Mädchen, von der niemand etwas weiß. Michel ist nicht nur Marcs Agent, mit seiner Frau Anne unterhielt Marc eine leidenschaftliche Affäre, bevor sie mit Michel zusammengekommen ist. Nun sehnt sie sich nach dem großartigen Sex mit Marc zurück, während sich Michel mit Erektionsstörungen herumplagt. Marc fällt es sichtlich schwer, ein besonnenes Verhältnis zu ihnen zu bewahren.
„Ich beobachtete sie einen Moment von draußen, Anne, wie sie Kartons mit dem Cutter aufschnitt, und ihn, wie er sich den Inhalt besah, und beide zusammen, wie sie beeindruckt den Kopf schüttelten, bevor sie sich dem nächsten Foto zuwandten. Michel kauerte auf dem Boden, und Anne ließ eine Hand auf seiner Schulter ruhen. Wenn ich an den Weg zurückdachte, den wir gemeinsam gegangen waren, eine dreißig Jahre lange Reise, erfüllte mich diese Hand mit Zuneigung für die zwei – ich erinnerte mich vor allem daran, wie sie mir geholfen hatten, alle möglichen Schicksalsschläge zu überwinden, wie wir uns stets gegenseitig zur Seite gestanden waren und was für ein phantastisches Bollwerk wir damit um uns aufgebaut hatten. Danach überkam mich ein anderes Gefühl, nämlich, dass diese Dreiecksbeziehung uns erdrückte, lähmte, blind machte – Julia hatte sich trotz ständiger Vorsichtsmaßnahmen immer ausgeschlossen und gekränkt gefühlt -, dass dieses Trio gar nicht so gut funktionierte, wenn man bedachte, wie extrem kräftezehrend unser Verhältnis letztlich war.“ (S. 144) 
Michel und Anne bedrängen Marc zunehmend, Gloria nicht zu nah an sich heranzulassen. Während Michel schon Ermittlungen über sie anstellen will, kann Anne die Vorstellung nicht ertragen, dass Marc mit der jungen Frau vielleicht sogar das Bett teilt. Als Gloria erneut spurlos verschwindet, verdächtigt Marc sogar seinen besten Freund, etwas damit zu tun zu haben …
Seit dem Durchbruch mit seinem dritten Roman „37,2° am Morgen“ (1985) haben es dem französischen Autor Philippe Djian vor allem die Lebenskünstler angetan, die unter Drogen- und Alkoholeinfluss ihre Schreibblockaden, emotionalen Irrungen und Wirrungen und vorwiegend sexuellen Leidenschaften in den Griff zu bekommen versuchen. Daran hat sich auch ein Vierteljahrhundert später nicht viel verändert. Wie in vielen seiner Werke funktioniert auch in Djians „Wie die wilden Tiere“ der Ich-Erzähler Marc nur in der Ausübung seiner Kunst, scheitert aber kläglich auf sozialem Terrain. In dieser Hinsicht bietet „Wie die wilden Tiere“ wenig Neues. Das Setting ist ganz vertraut, die Geschichte geht schon mal merkwürdige, nicht immer nachvollziehbare Wege, der Ton ist von Djian-typischer Deutlichkeit, der Stil unverblümt und rasant. Große psychologische Einsichten in die einzelnen Figuren darf man auf den gut 220 Seiten ebenso wenig erwarten wie überraschende Wendungen und Erkenntnisse. Das ist trotz des hohen Tempos nicht wirklich berauschend, aber ein kurzweiliges Lesevergnügen bietet auch dieses kleine Buch allemal. Leseprobe Philippe Djian - "Wie die wilden Tiere"

Neil Gaiman – „Das Graveyard Buch“

Samstag, 26. Oktober 2013

(Arena, 309 S., HC)
Seit Neil Gaiman Ende der 80er Jahre in Zusammenarbeit mit seinem Freund Dave McKean und Werken wie „Violent Cases“, „Black Orchid“, „Signal To Noise“ und vor allem der wegweisenden „The Sandman“-Reihe zu einem der wichtigsten Comic-Autoren der Gegenwart geworden ist, hat sich der vielseitige Autor ähnlich wie sein Kollege Clive Barker („Hellraiser“) die verschiedensten künstlerischen Disziplinen angeeignet. Zwar ist er noch nicht als Maler oder Regisseur in Erscheinung getreten, aber auf literarischem Gebiet hat er bereits einige Gattungen erfolgreich erobert.
In den vergangenen Jahren sind es immer weniger Comics, sondern Fantasy-Romane („Anansi Boys“, „American Gods“), Film-Drehbücher („Sternwanderer“, „Beowolf“) und Kinder- und Jugendbücher („Coraline“, „Der lächelnde Odd und die Reise nach Asgard“) gewesen, mit denen Gaiman sein Publikum faszinierte. In die letztgenannte Kategorie fällt auch „Das Graveyard Buch“, das zwar in der deutschen Ausgabe leider ohne die Zeichnungen von Dave McKean, dafür aber – als limitierte Ausgabe - in einer schmucken Blechschatulle präsentiert wird.
Ein Killer sticht in der Nacht eine ganze Familie nieder. Nur der gerade mal 18 Monate alte Sohn kann dem Mörder entwischen und findet auf dem nahegelegenen Friedhof einen ungewöhnlichen Unterschlupf: Als die seit Jahrhunderten tote Mrs. Owens auf dem Weg zu einer Ansammlung halb zerfallener Grabsteine den Jungen erblickt, nehmen sie und ihr Mann das Kleinkind bei sich auf und verpassen ihm den Namen Nobody „Bod“ Owens. Nachdem sich die Gemeinde der toten Seelen, die den Friedhof bevölkert, sich darauf verständigt hat, das lebende Menschenkind bei sich aufzunehmen, erklärt sich Silas zu seinem Vormund. Als Wanderer zwischen den Welten der Toten und der Lebenden ist es ihm als Einziger erlaubt, den Friedhof zu verlassen. Nobody lässt sich von den Toten alles Wissenswerte beibringen, bis es auch ihm gelingt, sich im rechten unbeobachteten Moment unsichtbar zu machen. Im Alter von fünf Jahren lernt er die gleichaltrige Scarlett kennen, die ihm eine treue Freundin wird, und Nobody erlebt so einige Abenteuer, wenn er eine normale Menschenschule besucht oder in die Welt der Ghoule eintritt.
„Bod fiel in die Dunkelheit wie ein Klumpen Stein. Er war viel zu verblüfft, um sich zu fürchten, und fragte sich nur, wie tief das Loch unter diesem Grab wohl war, als zwei starke Arme ihn unter den Achseln packten und ihn durch die Dunkelheit schwangen. Bos wusste seit Jahren nicht mehr, was völlige Dunkelheit war. Auf dem Friedhof konnte er sehen wie die Toten, für ihn war kein Grab und keine Gruft wirklich schwarz. Nun lernte er völlige Dunkelheit kennen und obendrein spürte er durch Nacht und Wind geworfen wurde. Ein angsteinflößendes, aber auch wahnsinnig aufregendes Erlebnis.“ (S. 76f.) 
Das größte Abenteuer steht Bod allerdings bevor, als er erfährt, dass der Mörder, der damals seine Familie abgeschlachtet hat, noch immer auf der Suche nach dem Jungen ist, um sein Werk zu vollenden …
Bei der schaurigen Eröffnungssequenz, in der Nobodys Familie hingerichtet wird, mag man schwer glauben, dass das der Beginn eines Kinder- und Jugendbuches sein soll, doch von Neil Gaiman ist man unorthodoxe Erzählstrukturen und ungewöhnliche Geschichten gewohnt. Schnell wird dann auch die besondere Fähigkeit des Autors sichtbar, außergewöhnliche Figuren in noch außergewöhnlicheren Situationen zu zeichnen und sie eine Entwicklung durchmachen zu lassen, die der ganz gewöhnlicher Menschen nicht unähnlich ist. Obwohl sich Nobody im Reich der Toten bewegt, zieht es ihn seiner Natur nach immer wieder zu den Menschen, muss sich aber mit den Ängsten auseinandersetzen, die der menschlichen Natur innewohnen, der Angst vor dem Tod ebenso wie die Sorge, geliebte Menschen zu verlieren. Letztlich geht es für Nobody darum, den Schritt ins wirkliche Leben zu wagen. Wie Gaiman diese Entwicklung beschreibt, ist einfach nur zauberhaft, voller atmosphärischer Geheimnisse, dunkler Bedrohungen und magischer Momente.

Steve Mosby – „Kind des Bösen“

Sonntag, 13. Oktober 2013

(Knaur, 431 S., Tb.)
Ausgerechnet an seinem freien Vormittag, als er mit seiner Frau Rachel einen Termin bei ihrer Hebamme wahrnehmen wollte, bekommt Detective Andrew Hicks von seiner Partnerin Laura Fellowes zu einem Tatort gerufen wird. Scheinbar ohne Grund wurde der 32-jährigen Vicky Gibson vor ihrer Wohnung, die sie mit ihrer Mutter bewohnt hat, der Kopf zu Brei geschlagen. Wenig später wird ein Obdachloser aufgefunden, der auf ähnliche Weise ermordet worden ist, doch Hicks und seiner Truppe gelingt es einfach nicht, einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen herzustellen. Schließlich werden im abgelegenen Garth-Komplex gleich drei weitere ähnlich zugerichtete Leichen lokalisiert.
Einem Bekennerbrief zufolge spielt der Täter mit der Macht des Zufalls. Die Opfer an sich bedeuten ihm nichts. Es zählt allein ausgetüftelter Code, nach dem die grausamen Taten verübt werden. Während der Ermittlungen hat Hicks aber nicht nur einen Serienkiller zu fassen, der ohne erkennbares Schema äußerst brutal zu Werke geht, sondern muss auch mit einem Kommissar aus einem Nachbarbezirk zusammenarbeiten, bei dem Hicks ein merkwürdiges Gefühl hat. Dazu wird er immer wieder von Erinnerungen an seine Kindheit heimgesucht und besucht mit seiner hochschwangeren Frau eine Paartherapie. Die Probleme werden nicht einfacher, als weitere Morde verübt werden, unter anderem an einem Mann, den Hicks von einem früheren Fall her kennt, der ihm noch immer nachhängt. Ein Hoffnungsschimmer tut sich auf, als die Ermittler auf ein Internet-Forum stoßen, auf dem Videos mit vertrautem Modus Operandi zu sehen sind.
„Was hatte jemanden dazu gebracht, so etwas zu tun? Wenn man den Briefen Glauben schenkte, gab es einen Grund – ein Muster, das es zu suchen galt -, die Wirklichkeit war aber eine andere. Also mussten die Briefe eine Lüge sein. Schon allein die Szene hinter mir im Wald war nicht das Produkt rationalen Denkens. Das dahinten war nicht das Werk eines gesunden Menschen: nacheinander seine Opfer in eine übelriechende Grube zu zerren, um ihren langsamen, qualvollen Tod zu filmen. So handelt keine Person, die einen Code erstellt und der Morde nichts bedeuteten. Nein, das war das Werk eines Mannes, der das Leiden genießt und Kraft daraus gewinnt. Keinesfalls jemand, dem der Tod gleichgültig war. Es war jemand, der sich daran ergötzte. Und das passte nicht zusammen.“ (S. 325) 
Der britische Thriller-Autor Steve Mosby hat seit seinem Hardcover-Erfolg mit „Der 50/50-Killer“ auch in Deutschland schnell eine Fangemeinde erschließen können. Seither sind mit „Spur ins Dunkel“, „Tote Stimmen“ und „Schwarze Blumen“ Romane erschienen, die nicht immer die Erwartungen erfüllt haben, die das gefeierte Debüt geweckt hat.
Auch „Kind des Bösen“ beginnt etwas schwerfällig, indem Mosby etliche Episoden einführt, deren Zusammenhang sich erst nach und nach erschließt. Dazu fällt es schwer, Inspektor Hicks, der die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt, wirklich Sympathien entgegenzubringen, zumal auch die Ehekrise nur aus seiner Sicht dargestellt wird und kaum eine Weiterentwicklung erfährt. Wenn die Story aber an Fahrt aufnimmt, erweist sich Mosby durchaus als Meister der Dramaturgie und atmosphärischer Erzählweise. Am Ende werden all die losen Fäden, die im Laufe des Romans gesponnen wurden, zwar schlüssig zusammengeführt, doch wirklich überzeugend kommt der Plot nicht immer rüber, zumal die Motivation des Täters eher unbefriedigend erläutert wird. So besticht „Kind des Bösen“ vor allem durch die extrem brutal ausgeführten Mordtaten, weniger durch psychologisch nachvollziehbare Figurenzeichnung.
Leseprobe Steve Mosby – “Kind des Bösen”

Gaetano Cappelli – „Ferne Verwandte“

Sonntag, 6. Oktober 2013

(C. Bertelsmann, 511 S., HC)
Seit seine Eltern bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren und auch Großvater Carlo das Zeitliche gesegnet hatte, wächst Carlino di Lontrone unter dem strengen Regiment von Großmutter Nonnilde auf, die nicht nur über eine gut dreißigköpfige Familie herrscht, sondern auch den Olivenöl produzierenden Familienbetrieb Premiata F.lli Di Lontrone Olii Superfini in einem süditalienischen Dorf führt. Als Vollwaise kommt dem kleinen Carlino die Zuwendung aller Frauen im Dorfe zugute, der Nonnen ebenso wie all der Tanten und Cousinen. Vor allem die üppig ausgestattete, 17-jährige Cousine Tea hat es dem Jungen angetan, an deren Brüste er sich eines Nachts verstohlen schmiegt.
Früh reift in ihm die Erkenntnis, dass er die Frauen liebt, und so genießt er die Sechziger in vollen Zügen. Obwohl er eine Lehre als Landvermesser beginnt und sich als versierter Organist erweist, träumt Carlino von einer Schriftsteller-Karriere im verheißungsvollen Amerika, wo schon sein Vater sein Glück versuchen wollte. Vor allem erweist sich Carlino als geschickter Frauenbeglücker, der von einer seiner Liebsten zur nächsten pendelt. Da kommt ihm der Trip nach Christiana, ins Hippie-Viertel von Kopenhagen gerade Recht, wo Carlino und seine Freunde mit ihren fünfzig Kilo Himalaja-Kraut wie die Könige behandelt werden. Doch letztlich treibt es den jungen Mann wieder nach Hause.
„Die hier konnte nicht mein Leben sein. Ich brauchte Gewissheiten, feste Bezugspunkte, und in den letzten Monaten hatte ich jeden Sinn für die Realität verloren. Außerdem war mir doch tatsächlich die allgemeine Promiskuität auf die Nerven gegangen – seit wann hatte ich nicht mehr allein in einem Zimmer geschlafen? Und um ganz ehrlich zu sein: Das Haus am Fluss war ja im Sommer ganz schön, aber im Winter beispielsweise, wie wusch man sich da, wo es doch nicht einmal eine Dusche gab? Ganz zu schweigen von dem verdreckten Lokus, der schlimmer war als die Aborte in den Zügen. Jetzt erschien mir sogar die Aussicht, mit der Großmutter zu arbeiten, in rosigem Licht. Und Incoronata wieder in die Arme zu schließen, konnte ich kaum erwarten: Nach all den Frauen, die ich gehabt hatte, war dies das eindeutigste Zeichen dafür, dass ich sie wirklich liebte.“ (S. 297) 
Schließlich scheint Carlìs Traum von einer Karriere in Amerika in Erfüllung zu gehen. Von seinem Vetter Charles eingeladen, wird Carlino in der Firma seines Onkels Richard angestellt. Ohne wirklich arbeiten zu müssen, aber stets unter der Kontrolle seines Onkels, kann sich Carlino endlich alles leisten, was er sich je gewünscht hat und auch Dinge, von deren Existenz er bislang nichts wusste. Aber in einer Hinsicht ist er sich treu geblieben – der Liebe zu den Frauen. Doch diese Eigenschaft lässt den jungen Mann tief fallen …
Der italienische Schriftsteller Gaetano Cappelli hat mit „Ferne Verwandte“ einen herrlich sinnlichen Roman über das Leben und die Träume eines ganz gewöhnlichen Jungen aus der süditalienischen Provinz verfasst, der aus jeder Zeile die unbändige Lebenslust spüren lässt, die ein verträumter und verliebter junger Mann in sich tragen kann. Die amourösen Abenteuer werden dabei ebenso humorvoll wie unverblümt beschrieben, all den Erfolgen stehen aber auch immer wieder Rückschläge und Verzweiflung gegenüber, wenn die begehrten Frauen mit anderen Männern liiert sind. Doch über den gefälligen Liebesreigen hinaus schildert das Epos auch das Leben auf dem italienischen Lande an sich und präsentiert ein stimmiges Gesellschaftsportrait der 60er Jahre bis zur kapitalistischen Aufbruchsstimmung in den 80ern, spirituelle Sinnsuchen eingeschlossen.

Ray Bradbury – „Löwenzahnwein“

Sonntag, 29. September 2013

(Diogenes, 280 S., Tb.)
Mit einem Fingerschnippen an einem Junimorgen begrüßt der zwölfjährige Douglas Spaulding in Green Town, Illinois, den Sommer 1928. Es ist ein Sommer, in dem Doug wie jedes Jahr mit seinem Statistiken erstellenden Bruder Tom und seinem Großvater säckeweise Löwenzahn pflückt, um ihn zu Wein zu verarbeiten, in Ketchupflaschen abgefüllt und feinsäuberlich nummeriert. Es ist ein Sommer, der nach neuen Tennisschuhen schreit und in dem Leo Auffmann eine Glück-Maschine baut, die ihre Anwender mit unerfüllbaren Träumen konfrontiert und weinend zurücklässt. Es ist aber vor allem auch ein Sommer, der Doug mit seiner eigenen Sterblichkeit vertraut macht.
Der alten Mrs. Bentley nehmen die Mädchen Jane und Alice nicht ab, dass auch sie mal jung und hübsch gewesen ist. Die Jungs unternehmen mit dem alten Colonel Freeman eine Reise in die Vergangenheit, wenn er lebendig von den Schlachten des letzten Jahrhunderts erzählt. Es ist es das Ende der Straßenbahn, die von Bussen abgelöst wird, es ist das Lebensende von einigen Mädchen, die von dem „Einsamen“ in der alten Schlucht ermordet werden. Und der junge Billy Forester sitzt Nachmittag für Nachmittag mit der alten Miss Helen Loomis zusammen, um sich von ihren Erzählungen an die entferntesten Orte entführen zu lassen. All diese Episoden spielen sich in einem wahrhaft denkwürdigen Sommer ab, den der kleine Douglas auf ungewohnt bewusste Weise erlebt.
„Oh, dieser Luxus, in der Farnnacht zu liegen, in der Grasnacht und der Nacht der murmelnden, schlummrigen Stimmen, die das Dunkel zusammenwoben. Die Großen hatten vergessen, dass er da war, so reglos, so still lag Douglas da und hörte von den Plänen, die sie für seine und für ihre eigene Zukunft schmiedeten. Und die Stimmen sangen, trieben dahin, in monderhellten Wolken aus Zigarettenrauch, währen die Motten wie verspätete, wieder lebendig gewordene Apfelblüten die fernen Straßenlaternen antippten, und die Stimmen trieben voran, voran in die kommenden Jahre …“ (S. 40) 
Ray Bradbury erweist sich in dem Roman „Löwenzahnwein“, der schon in Teilen zwischen 1946 und 1957 in verschiedenen Publikationen erschienen ist, einmal mehr als betörender Zauberer, der aus Worten zeitlose Märchen zu formen versteht. Im Grunde genommen ist „Löwenzahnwein“ die Geschichte eines Zwölfjährigen, der durch verschiedene Erlebnisse mit dem Tod konfrontiert wird und dadurch sein eigenes Leben bewusster zu leben versucht. Die Reise zu dieser Erkenntnis schildert Bradbury mit episodenhaften Geschichten, die jede für sich einen eigenartigen Zauber versprühen, wie es nur Bradbury vermag, und so entführt er den Leser in seine eigene Kindheit, weckt Erinnerungen und entzündet bestenfalls einen Lebensfunken, der unter der Last des Alltags manchmal zu ersticken droht.