Jim Thompson – „Blind vor Wut“

Mittwoch, 31. Dezember 2014

(Heyne, 369 S., Tb.)
Nach seinem Verweis von der Militärschule ist der achtzehnjährige Allen Smith mit seiner Mutter gerade in eine schicke Wohngegend am East River gezogen. Wenn er mit ihr zu Fuß zur Schule am Fluss entlanggeht, kann er hinter Hell Gate die Skyline Manhattans sehen. Doch statt sich der Annehmlichkeiten seines Lebens zu erfreuen, macht ihm der Umstand, dass er der Mischlingssohn eines schwarzen Vaters und einer weißen Mutter ist, rasend vor Wut.
Mit ihrer koketten Art wickelt seine als Edelprostituierte arbeitende Mutter zunächst den Direktor von Allens Schule um den Finger, doch auch von ihrem Sohn holt sie sich immer wieder die Art von Zuneigung, die sie braucht, während sie Allen diese Lust versagt. Allen reagiert seinen Frust an seinen Mitmenschen ab, an den einfältigen Geschwistern Steve und Liz Hadley ebenso wie an Schuldirektor Velie und dem schwarzen Mitschüler Doozy, der eine Art Black-Power-Club gründen will. Einzig die Polizistentochter Josie Blair, die im Vorzimmer des Schuldirektors aushilft, scheint es gut mit Allen zu meinen. Doch das hält den Jungen nicht davon ab, alle um sich herum in den Abgrund zu schicken, in dem er sich seiner eigenen Meinung nach schon längst befindet …
„Ich hatte mir endlose Entschuldigungen für Mutter zurechtgelegt, hatte ihr zigtausend Mal verziehen; hatte mir die Schuld gegeben, mir selbst nie verziehen. Und gleichzeitig hatte ich sie gehasst, ihr nichts verziehen und mir dagegen alles. Ich hatte versucht, wann und wo auch immer alles recht zu machen. Doch in meinem Verstand sind Recht und Unrecht so miteinander verwoben, dass man sie nicht auseinanderhalten kann, also hatte ich mir meine eigenen Vorstellungen davon zurechtlegen müssen.“ (S. 265) 
Bevor der 1906 geborene Jim Thompson von der Schriftstellerei leben konnte, hat er sich mehr schlecht als recht als Glücksspieler, Alkoholschmuggler, Ölarbeiter und Sprengstoffexperte durchgeschlagen, war selbst dem Alkohol sehr zugetan und immer wieder von Depressionen geplagt. Später verfasste er Drehbücher für Regisseure wie Stanley Kubrick („Wege zum Ruhm“, „Die Rechnung ging nicht auf“) und lieferte die Romanvorlagen für die Filme „Getaway“ (1972 und 1994), „Der Mörder in mir“ (1976 und 2009), „After Dark, My Sweet“ (1990) und „Grifters“ (1990). Doch berühmt wurde er vor allem durch seine Noir-Romane, mit denen Thompson die dunkle Seite des amerikanischen Lebens beschrieb.
In dieser Hinsicht bildet sein 1972 veröffentlichtes Spätwerk „Blind vor Wut“ zwar keine Ausnahme, bemerkenswert ist allerdings die Hinterhältigkeit, mit der sein Protagonist Allen Smith agiert und seine Mitmenschen böswillig genau dorthin manövriert, wo er sie hinhaben will. Dabei berührt Thompson jedes Tabu, das ihm in den Sinn kam. Inzest, Rassismus, Schwulenfeindlichkeit und sexuelle Perversionen vermischt Thompson zu einem politisch ebenso fragwürdigen wie diskussionswürdigen Psycho-Thriller, der die Ausnahmestellung des Autors eindrucksvoll unterstreicht, aber sicherlich nicht jedermanns Sache ist.
Als Bonus ist dem Roman noch die gut 90-seitige Novelle „Ein Pferd in der Badewanne“ beigefügt, die sich wie eine Fingerübung zu „Blind vor Wut“ liest.
Leseprobe Jim Thompson - "Blind vor Wut"

Peter Straub – „Schattenland“

Sonntag, 28. Dezember 2014

(Heyne, 559 S., Tb.)
Zu der Zeit, als John Kennedy noch Senator von Massachusetts war, schmale Krawatten erstmals in Mode kamen und McDonalds erst zwei Millionen Frikadellen verkauft hatte, besuchten Tom Flanagan und Del Nightingale die Carson-Schule, eine eher zweitklassige Höhere Schule für Jungen. Nach dem Tod seiner Eltern lebte Del bei seinen Taufpaten und wünschte sich nichts mehr, als dass Tom Flanagan sein Freund werden möge.
Er lädt Tom ein, mit ihm zusammen die Weihnachtsferien bei seinem Onkel zu verbringen, und da Tom gerade den Tod seines eigenen Vaters zu verarbeiten hat und zudem das dringliche Gefühl hatte, seinen Freund beschützen zu müssen, nimmt er die Einladung an. Wie sich bald herausstellt, befinden sich die beiden Jungs tatsächlich bald in höchster Gefahr, denn Coleman Collins – so der selbsterwählte Name des ehemaligen Arztes Nightingale – nutzt seine magischen Fähigkeiten dazu, die beiden Jungs in die Geheimnisse des märchenhaften Reiches namens Schattenland einzuweihen.
Del, der bereits ein geübter Kartentrickzauberer ist, ist sich sicher, dass Collins ihn zu seinem Nachfolger ausbilden wird, doch tatsächlich sieht Collins in dem Flanagan-Jungen sein wahres Erbe. Geschickt spielt er nicht nur die beiden Jungen gegeneinander aus, sondern schickt mit Rose auch noch ein geheimnisvolles Mädchen ins Spiel, um dessen Gunst sich die Jungen streiten. Am Ende wissen die Jungen nicht mehr, wem sie überhaupt noch trauen können …
„ … er dachte, dass Schattenland, ein hässlicher Name für ein Haus, heimlichtuerisch und böse sei, und dass es Schatten verdiene, weil die Leute hier das Licht hassten. Schattenland implizierte die Enteignung. Und Coleman Collins schien ein Mann, der sich in seinen eigenen Kräften verirrt hatte, ein Schatten in einer Schattenwelt, substanzlos. Ein alter König, der wusste, was er unter den Händen seines Nachfolgers würde erleiden müssen.“ (S. 382) 
Ein Jahr nach seiner überragenden Gothic Novel „Geisterstunde“ (1979) und vier Jahre vor seinem internationalen Durchbruch mit dem epischen Fantasy-Horror-Werk „Der Talisman“ (1984), das er mit Stephen King geschrieben hat, bewies der amerikanische Autor Peter Straub mit „Schattenland“, dass er zu den versiertesten Vertretern seiner Zunft zählt.
„Schattenland“ erzählt nicht nur von der außergewöhnlichen Freundschaft der beiden Jungen Flanagan und Nightingale, der ersten Liebe und den mannigfaltigen Verführungen durch die Magie, sondern rekapituliert auch die Geschichte eines Magiers, der seine Fähigkeiten während seiner ärztlichen Tätigkeiten im Ersten Weltkrieg entdeckte und als Fahnenflüchtiger im Verborgenen weiterentwickelte, der die Bekanntschaft mit Aleister Crowley machte und sich mit den magischen Werken der Renaissance ebenso auskannte wie mit Gurdjieff und Ouspensky. 
Straub lässt in seine komplexe Geschichte, die immer wieder zwischen den Zeiten und verschiedenen Orten wechselt, märchenhafte Schilderungen einfließen und sogar die Gebrüder Grimm zu Wort kommen.
Am Ende schlägt Straub vielleicht den einen oder anderen Haken zu viel und driftet auch sprachlich in komplexe Formulierungen ab, aber Straub versteht es geschickt, den Leser in seine magischen Welten zu entführen und die Faszination für Schattenland und das Schicksal der jugendlichen Protagonisten stets aufrechtzuerhalten.

Peter Straub – „Geisterstunde“

Sonntag, 14. Dezember 2014

(Goldmann, 599 S., Tb.)
Die aus den stattlichen Herren Sears James, Frederick Hawthorne, Lewis Benedikt und John Jaffrey bestehende sogenannte Altherrengesellschaft der Kleinstadt Milburn, New York, trifft sich schon seit Jahren meist in der behaglichen Bibliothek von Sears James, doch nachdem ihr Freund Edward Wanderley unter mysteriösen Umständen gestorben ist, stockte bei dem ersten Zusammentreffen danach die Unterhaltung, und als Ricky Hawthorne sich unvermittelt an den Doktor Jaffrey wandte und ihn fragte, was das Schrecklichste gewesen sei, das er je getan hatte, antwortete dieser: „Das werde ich dir nicht sagen, aber ich werde dir vom Schrecklichsten erzählen, das mir je widerfahren ist, … vom Allerschrecklichsten …“
Seither erzählen sich die alten Freunde bei ihren Zusammenkünften Geistergeschichten, doch als sich der Todestag ihres Freundes Wanderley das erste Mal jährt, haben sie alle das Gefühl, dass etwas Unheimliches in Gange ist. Sie beschließen, Edwards Neffen Don zu sich einzuladen, dem man nachsagt, durch seinen übernatürlichen Roman einige Erfahrungen auf dem Gebiet des Okkulten gesammelt zu haben. Durch seinen Besuch erhoffen die unter Alpträumen leidenden Männer Aufklärung und bestenfalls sogar Linderung ihrer Ängste. Wie berechtigt die Sorgen der Altherrengesellschaft sind, zeigt sich noch an Wanderleys Todestag, als zunächst vier Schafe mit aufgeschlitzten Kehlen, aber ohne Blutlachen am Tatort aufgefunden werden und Dr. Jaffrey tot aus dem Fluss gefischt wird.
Den verängstigten Männern ist wohl bewusst, dass die tragischen Ereignisse bereits vor fünfzig Jahren ihren Lauf nahmen, als eine Frau namens Eva Galli in ihrer aller Leben trat. An Edward Wanderleys Todestag trifft mit Anna Mostyn die Nichte von Eva Galli in der Stadt ein und sorgt für weitere Unruhe. Aber auch Donald Wanderleys Vergangenheit ist untrennbar mit der der Altherrengesellschaft verbunden:
„Wo bin ich da hineingeraten? In eine Geistergeschichte? Oder in Schlimmeres, das mehr ist als eine Geschichte? Die drei alten Herren haben nur eine vage Kenntnis von den Ereignissen vor zwei Jahren, und sie können unmöglich ahnen, dass sie mich darum baten, den seltsamsten Abschnitt meines Lebens nochmals aufzurollen, die schrecklichsten und destruktivsten Tage meiner Existenz noch einmal zu durchleben – oder die Seiten eines Buches wieder aufzuschlagen, das als Versuch geschrieben wurde, mit diesen Tage ins Reine zu kommen.“ (S. 231) 
Peter Straubs 1979 erstmals veröffentlichte „Geisterstunde“ ist wohl DAS Werk, das den Meister des atmosphärischen Horrors auch in Deutschland bekannt machte, bevor er 1984 durch das gemeinsam mit Stephen King verfasste Meisterwerk „Der Talisman“ zu einem der bekanntesten Genre-Autoren avancierte.
In „Geisterstunde“ nimmt sich Peter Straub die Zeit, zunächst die Befindlichkeiten der einzelnen Mitglieder der Altherrengesellschaft von Milburn zu beschreiben, indem er ihnen einzelne Kapitel widmet. In diesen episodenhaften Skizzen lässt er immer wieder die Ereignisse aus der Vergangenheit durchschimmern, die zu den unheimlichen Vorfällen beigetragen haben, die die Herren gerade so verängstigen, aber erst nach und nach enthüllt Straub geschickt die Puzzleteile, die allmählich zu dem großen Ganzen zusammengeführt werden. Das ist einfach großartig und packend geschrieben, wobei die Figuren vielschichtig gezeichnet und die verwirrenden Emotionen detailreich und atmosphärisch dicht beschrieben werden. „Die Geisterstunde“ ist einfach eine Gothic Novel par excellence!

Stewart O‘Nan – „Emily, allein“

Dienstag, 2. Dezember 2014

(Rowohlt, 380 S., HC)
Seit ihr Mann vor sieben Jahren verstorben ist, lebt die alternde Witwe Emily Maxwell allein in ihrem Haus in Pittsburgh, meist nur in Gesellschaft ihres altersschwachen Hundes Rufus und gelegentlich ihrer Schwägerin Arlene, mit der sie jeden Dienstag nach Edgewood fuhr, um dort im Eat ’n Park zum halben Preis am Frühstücksbuffet teilzunehmen.
Auch sonst verläuft ihr unspektakuläres Leben in geregelten, vorhersehbaren Bahnen, mit den Hunde-Spaziergängen und saisonalen Gartenarbeiten und den Vorbereitungen auf die wenigen Familienzusammenkünften zu den Festtagen. Doch als Arlene eines Dienstagmorgens am Büffettisch des Eat ‘n Park zusammenbricht und für einige Tage ins Krankenhaus muss, lernt Emily gezwungenermaßen, ihrem Leben eine neue Richtung zu verleihen. Um sich nicht länger in die zittrigen Hände ihrer Schwägerin begeben zu müssen, wenn sie längere Strecken zurücklegen möchte, schafft sie sich ein neues Auto an und versucht, ihren Kindern und Enkeln wieder etwas näher zu kommen.
„Vielleicht war es Nostalgie oder auch nur die Widerspenstigkeit der Erinnerung, doch sie konnte die erwachsene Variante der Kinder nicht von den Kindern trennen, die sie einmal gewesen waren. Margaret verdrehte schon seit fast vierzig Jahren den Männern die Köpfe – manchmal mit furchtbarem Ergebnis -, und doch würde sie immer die pummelige, mürrische Drittklässlerin bleiben, die in ihrem Zimmer Süßigkeiten versteckte. Justin, der angehende Astrophysiker, würde für immer der überempfindliche Junge sein, der in Tränen ausbrach, weil er das falsche Spülmittel in die Geschirrspülmaschine gefüllt hatte. Da Emily auf ihr eigenes früheres Ich nicht besonders stolz war, begriff sie, dass es ungerecht war, ihnen diese alten Rollen überzustülpen, und bemühte sich, über ihre neuen Aktivitäten auf dem Laufenden zu bleiben und ihre jüngsten Triumphe zu feiern.“ (S. 266)
Es verwundert nicht, dass Stewart O’Nan sein feinfühliges, ganz und gar unsentimentales Witwenportrait seiner Mutter widmet, denn selten dürfte man das Leben einer allein lebenden alten Frau kaum sensibler, detaillierter, unaufgeregter und doch so humorvoll und melancholisch beschrieben gesehen haben. Obwohl O’Nan, selbst in Pittsburgh groß geworden und wieder dort lebend, die Geschichte nicht als Ich-Erzählung angelegt hat, ist der Leser immer ganz dicht an Emily dran, teilt ihre Gedanken und Gefühle ebenso wie ihre episodenhaft geschilderten Erlebnisse, die schwierigen Familienfeste, der Verkauf des Nachbarhauses, die Beerdigungen alter Freundinnen, der Kratzer an ihrem neuen Wagen, das mysteriöse Zahlen-Graffiti auf ihrem Grundstück, das Kämpfen mit der Grippe und der Vergesslichkeit.
Auch wenn man selbst keine alte Frau ist, die die besten Jahre hinter sich hat und sich bemüht, den Rest des Lebens möglichst sinn- und würdevoll zu verbringen, fällt es dem Leser bei O’Nans einfühlsamen Schreibstil leicht, Emilys Empfindungen zu folgen, mit ihr mitzufühlen, ihre Sorgen und Ängste zu teilen. Wie der preisgekrönte Autor es versteht, Empathie für seine ganz und gar gewöhnliche Protagonistin zu wecken, ist schon große Kunst und absolut lesenswert.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Emily, allein"

Jo Nesbø – „Der Sohn“

Sonntag, 23. November 2014

(Ullstein, 522 S., HC)
Dass Sonny Lofthus unschuldig in seinen Mauern sitzt, wissen sowohl Arild Franck, stellvertretender Leiter im Hochsicherheitsgefängnis Staten von Oslo, als auch Gefängnispastor Per Vollan. Der junge Mann hatte die Schmach nicht verkraftet, dass sein Vater ein korrupter Polizist gewesen ist, der sich vor Selbstekel schließlich das Leben nahm, und schließlich die Verantwortung für zwei Morde übernommen, die er nicht begangen hatte. Als Gegenleistung wird er während seiner Haft durch den Pastor mit Heroin versorgt.
Mittlerweile hört sich der schweigsame, vertrauenswürdige junge Mann die Probleme, Sorgen und Beichten seiner Mitgefangenen an und erfährt dabei, dass sein Vater gar kein Verräter gewesen sei, sondern für einen anderen Maulwurf bei die Polizei sein Leben lassen musste.
Sonny gelingt es, in der Uniform eines krankgeschriebenen Gefängniswärters zu fliehen, und macht sich auf die Jagd, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Dass zwischen seinem ersten Opfer, der durch Immobiliengeschäfte reich gewordene Agnete Iversen, und den erschossenen Männern im Büro einer Halle, die als Übungsraum für Rockbands diente, ein Zusammenhang bestehen könnte, ahnt nur Hauptkommissar Simon Kefas, der mit seiner jungen Assistentin Kari Adel Sonny in Gewahrsam nehmen möchte, bevor er in die Hände des Unterweltbosses gelangt, den man nur als der Zwilling kennt.
„Als Simon Kefas sich an diesem Abend im Spiegel ansah, erblickte er einen Roboter. Eine komplizierte Konstruktion mit vielen Möglichkeiten. Aber eben doch nur ein Roboter. Wofür wollte er diesen Jungen also bestrafen? Was hatte Sonny vor? Eine Welt retten, die nicht gerettet werden wollte? Etwas ausrotten, dessen Nutzen wir uns nicht eingestehen wollen? Denn wer schaffte es denn, in einer Welt ohne Kriminalität zu leben, ohne den stumpfsinnigen Aufruhr der Idioten, ohne das Irrationale, das für Bewegung sorgt, für Veränderung. Ohne Hoffnung auf eine bessere – oder schlechtere Welt.“ (S. 469) 
Nach zehn Romanen um den Osloer Kommissar Harry Hole und dem davon losgelösten Thriller „Headhunter“ präsentiert der norwegische Bestseller-Autor Jo Nesbø mit „Der Sohn“ einen weiteren eigenständigen Thriller, in dem es vor allem um Verrat, Vergebung und Rache geht. Die Grenzen zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch verschwimmen dabei immer mehr, je weiter die Handlung voranschreitet und dunkle Geheimnisse offenbart werden. Meisterhaft gelingt es Nesbø, seine Figuren ebenso vielschichtig wie geheimnisvoll zu zeichnen und sie so plastisch in den Plot einzubinden, dass man sich als Leser immer hautnah mitten im Geschehen glaubt.
Es sind aber nicht nur der Kommissar Simon Kefas, der mit Sonnys Vater gut befreundet war und sich nun vor allem um die drohende Blindheit seiner Frau Else sorgt, und Sonny, die mit ihren ganz persönlichen Tragödien das Herz von „Der Sohn“ bilden, auch die Frauenfiguren sind interessant gezeichnet, während die Sünden und Vergehen der Männer erst nach und nach offenbart werden.
Nesbø gelingt es, die Spannung von Beginn an kontinuierlich aufzubauen und bis zum wendungsreichen Finale aufrechtzuerhalten, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben.
Leseprobe Jo Nesbø - "Der Sohn"

Kim Zupan – „Die rechte Hand des Teufels“

Sonntag, 16. November 2014

(Knaur, 331 S., Tb.)
Im Alter von über siebzig Jahren lässt sich der Auftragskiller John Gload eines Tages widerstandslos auf seinem Grund und Boden von den drei Deputys Weldon Wexler, Voyle Dobek und Valentine Millimaki festnehmen und in eine der Krankenzellen des County-Gefängnisses wegsperren, wo er auf seinen Prozess wartet. Da Wexler der dienstältere Deputy ist und dazu ein lädiertes Knie beklagt, fällt dem jungen Deputy Millimaki die Nachtschicht zu, in der er mit dem schlaflosen Gefangenen immer vertrauter ins Gespräch kommt.
Millimakis Vorgesetzter erhofft sich von den Unterredungen Hinweise auf all die verborgenen Leichen, die Gload im Laufe seiner jahrzehntelangen Karriere irgendwo hinter sich gelassen hat. Tagsüber macht sich Millimaki mit seinem Spürhund Tom auf die Suche nach Vermissten. In letzter Zeit hat er allerdings wenig Glück, die Gesuchten auch lebend vorzufinden.
„Millimaki saß im Dreck und starrte ausdruckslos auf das Grab, wie betäubt von Schlafmangel. Gload schien durchaus fähig zu sein, Güte zu zeigen, aber das war vielleicht nur eine rudimentäre Eigenschaft, wie die Schwimmhäute und die unvollständigen Gliedmaßen von Contergan-Kindern – etwas halb entwickeltes Groteskes, das ihn wegen der Erinnerung daran, wie es gewesen wäre, intakt zu sein, noch bemitleidenswerter machte. Für uns Übrige, dachte Millimaki, ist die Entfernung zwischen Vernunft und Raserei kurz, die Grenze, die das Ungeheuer bändigt, so dünn wie Pergament und genauso brüchig. Es war in jedem vorhanden, dachte er. In ihm selbst. Eine halbe Sekunde blinder Wut, und das Beil fährt herab. Er starrte den aufgewühlten Flecken Erde an, wo noch vor so kurzer Zeit ein Leichnam gelegen hatte. Ab einem bestimmten Punkt, dachte er müde, war es nur noch Fleisch.“ (S. 149f.) 
In seinem Debütroman „Die rechte Hand des Teufels“ schildert der aus Montana stammende amerikanische Autor Kim Zupan die fast freundschaftliche Beziehung zwischen einem des Lebens und des Tötens müden Auftragsmörder und einem jungen Deputy. So verschieden sie zunächst sein mögen, werden sie doch durch die Leichen verbunden, die Gload zu verantworten hat und die Millimaki zu finden hofft, aber auch durch die Frauen in ihrem Leben, die ihre eigenen Wege gehen. Gload erzählt zwar von einigen Morden aus seiner Anfangszeit als Killer, doch verwertbares Material kann Millimaki seinem Boss nicht liefern.
Zupan erweist sich in seinem Debüt als sprachgewandter Stilist, der gekonnt die Atmosphäre und die psychischen Befindlichkeiten gerade des jungen Deputys einzufangen versteht, während den alternden Gefangenen immer eine geheimnisvolle Aura umgibt, die selbst während der vertrautesten Gespräche nie aufgebrochen wird. Das einzige Manko von „Die rechte Hand des Teufels“ liegt in dem Spannungsaufbau begründet. Zupan wechselt immer wieder abrupt die Zeiten und Orte des Geschehens, ohne dass Sinn und Zweck von ganzen Abschnitten erkennbar wären.
Aber Zupan ist fraglos ein Autor, dessen Namen sich Krimidrama-Fans merken sollten, denn sein stark assoziativer Schreibstil hat auf jeden Fall ebenso hypnotische Qualitäten wie seine Fähigkeit der interessanten Figurenzeichnung.

James Lee Burke – (Hackberry Holland: 2) „Regengötter“

Sonntag, 9. November 2014

(Heyne, 672 S., Pb.)
Auf einen anonymen Anruf hin entdeckt Sheriff Hackberry Holland hinter der alten Kirche im südtexanischen Chapala Crossing die Leichen von neun jungen, schick gekleideten thailändischen Frauen, die mit einem Bulldozer plattgewalzt worden sind. An den Ermittlungen beteiligt sich nicht nur das FBI mit dem für die Exhumierungen zuständigen Agenten Ethan Riser, sondern auch der raubeinige Isaac Clawson von der Einwanderungs- und Zollfahndungsbehörde ICE, der nach dem Mord an seiner Tochter sämtliche Umgangsformen hinter sich gelassen hat.
Zunächst dürften allein die Stripclub-Besitzer Nick Dolan und Artie Rooney eine Vorstellung davon haben, was da passiert sein könnte, als Arties Handlanger Hugo Cistranos mit dem eigens dafür engagierten Pete Flores die Frauen über die Grenze nach Houston bringen sollte. Derweil macht sich Pete mit seiner Freundin Vikki auf und davon. Ihnen auf den Fersen ist der berüchtigte Preacher Jack Collins, dessen unberechenbar psychopathische Züge alle Beteiligten immer wieder in Erstaunen versetzen. Doch als Pracher die beiden Flüchtigen in seine Gewalt bringt, sind die Karten schon wieder neu gemischt worden. Denn statt sie zu töten, will er vor allem dem Mädchen ein neues Leben ermöglichen.
„Sie spuckte auf die Geldscheinspange und auch auf seine Finger. Dann begann sie zu weinen. In der Stille, die nun folgte, hatte sie das Gefühl, von seiner Präsenz eingehüllt zu werden wie von feuchter Wolle, die einem die Luft zum Atmen nimmt. Das rosafarbene Strahlen auf seinem Hemd, der Schweißgeruch seines Körpers und die Nähe seiner Lenden zu ihrem Gesicht drohten sie zu überwältigen, und mit einem Mal bestand die einzige Realität in dieser Welt aus der Figur von Preacher Jack Collins, der nur wenige Zentimeter vor ihr stand. Ihr war nicht klar gewesen, dass sich Stille so laut anfühlen konnte. Die Intensität des Schweigens, so glaubte sie in diesem Moment, ähnelte den knackenden Geräuschen, die ein Ertrinkender auf dem Weg zum Grund eines tiefen Sees hörte.“ (S. 485f.) 
Doch nicht nur das FBI und Sheriff Holland sind Preacher und dem jungen Pärchen auf den Fersen, auch verschiedene Nachtclubbesitzer, russische Mafiagrößen und diverse Auftragskiller mischen munter mit …
Nach dem alkoholsüchtigen Cajun-Cop Dave Robicheaux, den James Lee Burke seit Mitte der 1980er Jahre in über zwanzig Fällen in den Sümpfen Louisianas ermitteln ließ (u.a. auch in der Verfilmung "In The Electric Mist" mit Tommy Lee Jones in der Hauptrolle), und dem Kleinstadtanwalt Billy Bob Holland, den Burke in den späten 90ern erschuf, tritt nun mit dessen Cousin Hackberry Holland auf den Plan, der nach seiner Kriegsgefangenschaft in Nordkorea in Texas erst dem Alkohol verfiel, zu oft in Bordellen verkehrte, dann eine Politkarriere versaute und nach der Scheidung von seiner ersten Frau in tiefe Depressionen verfiel, die nach dem Tod seiner zweiten Frau nicht weniger wurden.
Diese komplexe Figur, die bereits ein wechselhaftes Leben hinter sich hat, stellt in dem episch angelegten „Regengötter“ zwar den markanten Dreh- und Angelpunkt dar, doch hat Burke hier ein schillerndes Panoptikum an interessanten Figuren kreiert, die mit ihren eigenwilligen Moralvorstellungen, fehlgeleiteten religiösen Ansichten und skrupellosen Geschäftsgebaren der Geschichte eine wechselhafte Dynamik verleihen, die Burke auf atmosphärisch intensive Weise so authentisch wiedergibt, dass der Leser den Staub der Wüste und den Kupfergeschmack des Blutes zu schmecken scheint, der zwischen all den Seiten zu finden ist.
„Regengötter“ erinnert von der Figurenkonstellation etwas an Cormac McCarthys großartigen Roman „No Country For Old Men“, ist aber weit vielschichtiger angelegt und bietet immer wieder neue interessante Wendungen bis zum ungewöhnlichen Finale.
Leseprobe James Lee Burke - "Regengötter"