James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 16) „Sturm über New Orleans“

Dienstag, 20. Oktober 2015

(Pendragon, 576 S., Pb.)
Der in New Orleans als Polizist arbeitende Vietnam-Veteran und trockener Alkoholiker Dave Robicheaux hat bereits 1957 erlebt, wie Hurrikan Audrey über die Küste von Louisiana hereingebrochen war, und 1964 befand er sich im Auge von Hilda, die den Wasserturm von Delcambre aufs Rathaus stürzen ließ. Aber was Katrina mit seiner Stadt anrichtet, übersteigt jedes Grauen, das er bisher in seinem bewegten Leben erfahren musste. In diesem Chaos hat Robicheaux die Vergewaltigung an der 15-jährigen Thelma Baylor aufzuklären. Die Annahme, dass die Tat von den beiden Melancon-Brüdern und Andre Rochon begangen worden ist, scheint sich während der polizeilichen Ermittlungen zu verfestigen. Doch bevor die drei Kleinkriminellen dem Gesetz überführt werden können, rauben sie das Haus des schweren Ganoven Sidney Kovlick aus, der dafür bekannt ist, nicht gerade zimperlich mit den Leuten umzugehen, die ihm in die Suppe spucken.
Schließlich gibt Thelmas Vater, der Versicherungsvertreter Otis Baylor, zwei Schüsse auf die Verdächtigen ab, als sie gerade versuchen, ihr Diebesgut auf seinem Grundstück zu verstecken. Doch niemand will diesen Vorfall bezeugen, schon gar nicht Thelma.
Zu allem Überfluss hat Robicheaux noch die ehrgeizige FBI-Agentin Betsy Mossbacher an den Fersen und muss den verschwundenen Priester Jude LeBlanc auffinden, der zuletzt dabei gesehen wurde, wie er mit einer Axt ein Loch in das Dach einer Kirche schlug, um die darin eingesperrten Menschen zu befreien. Dazu kommen Blutdiamanten, al-Qaida und Falschgeld ins Spiel – und ein unheimlich wirkender Typ namens Ronald Bledsoe, aus dessen Poren das pure Böse zu strömen scheint.
„Angeblich sind wir eine christliche Gesellschaft oder zumindest eine, die von Christen begründet wurde. Unserem selbstgestrickten Mythos zufolge verehren wir Jesus, Mutter Teresa und den heiligen Franz von Assisi. Aber ich glaube, in Wahrheit sieht es anders aus. Wenn wir uns gemeinsam bedroht fühlen oder verletzt sind, wollen wir die Gebrüder Earp samt Doc Holliday holen, und wir wollen, dass die üblen Kerle abgeknallt, umgelegt, kaltgemacht und mit Bulldozern untergepflügt werden.“ (S. 377) 
James Lee Burke, einer der ganz Großen und Beständigen der Kriminalliteratur, der seit einigen Jahren in Deutschland nicht mehr veröffentlicht und erst durch den Heyne- und nun auch durch den Pendragon-Verlag wiederentdeckt worden ist, äußert bereits in seinem Gruß an seine deutschen Leser, dass „Sturm über New Orleans“ sein wütendstes Buch ist.
Indem er seinen beliebten wie sperrigen Protagonisten Dave Robicheaux diverse Fälle in dem von Hurrikan Katrina zerstörten New Orleans bearbeiten lässt, legt er in seiner präzise geschliffenen Prosa auch deutlich noch einmal den Finger in eine nach wie vor schwärende Wunde. Burke lässt in dem epischen Roman, der das Elend, das die keineswegs überraschende Naturkatastrophe über die Bevölkerung in New Orleans gebracht hat, keinen Zweifel daran, dass die Regierung für dieses unvorstellbare Ausmaß des Grauens verantwortlich gewesen ist, dass sich weiterhin die Wohlhabenden schadlos am Wiederaufbau halten werden.
In die eindringliche Schilderung der bedrückenden Atmosphäre der Verwüstung webt Burke eine vielschichtige Handlung, die er mit ganz unterschiedlichen Figuren bevölkert, die sich wiederum nur selten in schablonenhafte Kategorien einordnen lassen. Selbst die ehrenhaftesten Typen werden von schlimmen Träumen und Gelüsten geplagt. Burke, der selbst in Louisiana an der Ostküste aufgewachsen ist, versteht es, mit seinem gleichbleibend bedachten Erzählfluss die niederschmetternde Atmosphäre der Stadt, die Robicheaux‘ Freund Clete Purcel gern als „die Große Schmuddlige“ bezeichnet, in filmreifer Qualität abzubilden und dabei auch den mehr oder weniger latenten Rassismus ebenso zu thematisieren wie die Bösartigkeit unter den Menschen, die sich auch unter den Besten von uns einzunisten droht.
Dass der Pendragon Verlag ankündigt, in den kommenden Jahren weitere Robicheaux-Krimis des mehrfach mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichneten Autors zu veröffentlichen, zählt wohl zu den schönsten Versprechen, die dieses Jahr in der literarischen Landschaft zu vernehmen gewesen sind.
Leseprobe James Lee Burke - "Sturm über New Orleans"

Jeffery Deaver - (Lincoln Rhyme: 11) "Der Giftzeichner"

Sonntag, 11. Oktober 2015

(Blanvalet, 573 S., HC)
Lincoln Rhyme denkt gerade über einen letzte Woche verübten Mord in Downtown nach, als er über den Tod zu sinnieren beginnt und über die Betrachtungsweisen über den Tod. Dass sein bislang schärfster Widersacher, der als „Uhrmacher“ bekannte Richard Logan, in seiner Haft an einem schweren Herzinfarkt gestorben ist, erfüllt Rhyme mit Trauer, denn nun blieb ihm die Möglichkeit verwehrt, Logans scharfen Intellekt und die präzisen Strukturen seiner Taten ergründen zu können. Doch dann wird Ryhmes Intellekt bei einem neuen Fall gebunden: Eine junge Frau wurde in einem Versorgungstunnel unterhalb des Modegeschäfts, in dem sie arbeitete, tot aufgefunden, das Wort „zweiten“ wurde ihr in ungewöhnlicher Fraktur-Schrift meisterhaft auf den Bauch tätowiert, allerdings nicht mit Tinte, sondern mit dem aus dem Wasserschierling gewonnenen Gift Cicutoxin.
Ein Motiv können Rhyme, Sachs und der ermittelnde Detective Lon Sellitto vom NYDP nicht ausmachen, aber als die nächsten Toten mit ähnlich rätselhaften wie todgiftigen Tätowierungen entdeckt werden, wird Rhyme klar, dass er persönlich von dem Täter herausgefordert wird, denn die Spuren am ersten Tatort führen zu dem kriminalsachlichen Buch „Serienstädte“, in dem Rhyme ein Kapitel gewidmet ist.
Offensichtlich scheint sich der Täter vom Knochenjäger inspiriert zu fühlen, der Rhyme und Sachs damals in die Schlagzeilen gebracht hat.
„Während Billy mit der American Eagle den überaus hübschen Bauch seines neuen Opfers bearbeitete, dachte er darüber nach, wie fasziniert er von Gottes persönlicher Leinwand war.
Haut.
Sie war auch Billys Leinwand, und er war so sehr auf sie fixiert, wie der Knochenjäger auf das Skelettsystem des Körpers fixiert gewesen war – was Billy interessiert bei der Lektüre von Serienstädte festgestellt hatte. Er respektierte die Besessenheit des Knochenjägers, aber ehrlich gesagt konnte er sie nicht ganz nachvollziehen. Haut war bei Weitem der aufschlussreichere Aspekt des menschlichen Körpers. Sehr viel zentraler. Viel wichtiger.“ (S. 243) 
Billy Haven wird mit seiner American-Eagle-Tätowiermaschine bereits im zweiten Kapitel als Täter eingeführt, erscheint im Vergleich zu früheren Serienmördern, mit denen es Lincoln Rhyme und Amelia Sachs in den zehn Fällen zuvor zu tun hatten, allerdings ziemlich blass. Das trifft leider auch auf den Plot zu, den Thriller-Bestseller-Autor Deaver auf den ersten 300 Seiten entwickelt.
Wenn der Leser Lincoln Rhyme und Amelia Sachs noch nicht aus früheren Büchern kennen sollte – was zugegebenermaßen sehr unwahrscheinlich ist -, wird er wenig über ihre Hintergründe und Geschichte erfahren. Auf der anderen Seite gibt es für langjährige Fans wenig Neues zu entdecken. Mit der Charakterisierung seiner Figuren hält sich Deaver wenig auf, stattdessen entwirft er eine routiniert strukturierte, aber wenig packende Mordserie, die einzig etwas über die Intention des Killers und die Wirkungsweisen pflanzlicher Gifte offenbart.
Seine Meisterschaft demonstriert Deaver erst im letzten Drittel von „Der Giftzeichner“, wenn sich die ach so überraschenden Wendungen förmlich überschlagen. Hier trägt Deaver dann doch etwas dick auf, wenn er die Handlung und Rhymes Schlussfolgerungen geradezu Purzelbäume schlagen lässt. Das ergibt wie gewohnt flüssig geschriebene, wendungsreiche Thriller-Unterhaltung, zählt aber mit den fast schon lieblos gezeichneten Figuren und dem arg konstruierten Finale sicher zu Deavers schwächeren Werken.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der Giftzeichner"

Chris Carter – (Robert Hunter: 7) „Die stille Bestie“

Samstag, 10. Oktober 2015

(Ullstein, 445S., Tb.)
Sheriff Walton und sein Deputy Bobby Dale stillen wie jeden Mittwochmorgen in Noras Truck Stop Diner am Stadtrand von Wheatland im südöstlichen Wyoming ihren Hunger auf Süßes, als ein Pick-up auf das Diner zurast und dabei das Heck eines dunkelblauen Ford Taurus streift. Als sie das Unglück aus der Nähe betrachten, entdecken sie im aufgesprungenen Kofferraum des Fords die aus einer Kühlbox herausgekullerten Köpfe zweier Frauen.
Als Fahrzeugführer wird ein Liam Shaw ausgemacht, der wenig später vom FBI gefasst wird, aber nach seiner Festnahme kein einziges Wort von sich gibt. Schließlich verlangt er nach Robert Hunter, der nach seiner Dissertation mit dem Titel „Psychologische Deutungsansätze krimineller Verhaltungsmuster“ massiv vom FBI umworben wurde, aber schließlich als einfacher Detective beim LAPD seinen Dienst angetreten hat.
Als Adrian Kennedy, Leiter des Nationalen Zentrums für die Analyse von Gewaltverbrechen (NCAVC), Hunter zu sich nach Quantico bestellt, erfährt er bei der Gegenüberstellung mit dem Gefangenen, dass es sich dabei um seinen alten Studienfreund Lucien Folter handelt, mit dem er sich in Stanford an der psychologischen Fakultät ein Zimmer teilte. Zusammen mit Special Agent Courtney Taylor verhört Hunter seinen alten Freund und muss feststellen, dass sich dieser zu einem psychopathischen Killer entwickelt hat, der die Geheimnisse seiner Taten nur im Gegenzug von persönlichen Bekenntnissen seines Gegenübers zu lüften bereit ist. Zwischen den früheren Freunden entwickelt sich ein psychologisches Duell, das Hunter allzu bittere Wahrheiten über sein eigenes Leben offenbart. Doch wenn er Gerechtigkeit für all die Opfer von Lucien Folter will, muss er das Quid-pro-quo-Spiel nach den zermürbenden Regeln des Killers spielen …
„Hunter hatte seinen alten Freund schweigend beobachtet, seit er und Taylor bei der Zelle angekommen waren. An diesem Morgen wirkte Lucien noch siegessicherer und selbstherrlicher als tags zuvor, allerdings war das kaum verwunderlich. Er wusste eben genau, dass er am längeren Hebel saß. Er wusste, dass alle bis auf weiteres nach seiner Pfeife tanzen mussten, und das schien ihm eine enorme Genugtuung zu bereiten. Aber das war noch nicht alles. Da war etwas Neues zu Luciens Persönlichkeit hinzugekommen – eine brennende Leidenschaft, ja sogar Stolz, als sei es sein aufrichtigster Wunsch, dass alle Welt die Wahrheit über seine Taten erfuhr.“ (S. 149) 
Zählt man die ePub-Veröffentlichung „One Dead“ mit, stellt „Die stille Bestie“ den bereits siebten Fall des genialen Profilers Robert Hunter dar, dessen Dissertation, die er im Alter von 23 Jahren verfasst hat, zum Standardwerk an der FBI-Akademie zählt. Zugleich steht er in „Die stille Bestie“ vor seiner bislang größten Herausforderung, nämlich seinem ehemals besten Freund nicht nur das Handwerk zu legen und die Grabstätten seiner Opfer zu finden, sondern auch die schmerzlichen Offenbarungen zu verarbeiten, die während des Verhörs zutage treten und Hunters Leben auf den Kopf zu stellen drohen.
Von der Dramaturgie her erinnert „Die stille Bestie“ ein wenig an Thomas Harris‘ Meisterwerk „Das Schweigen der Lämmer“. Auch hier sitzt ein hochgradig intelligenter Killer, der keine Emotionen nach außen sichtbar werden lässt, bereits im Gefängnis und versucht durch sein Täterwissen etwas für sich auszuhandeln. Gegen Lucien Folter wirkt Hannibal Lecter allerdings wie ein Waisenknabe.
Chris Carter inszeniert mit „Die stille Bestie“ ein extrem dramatisches Psycho-Duell der Extraklasse, das seine Spannung nicht nur aus der ganz persönlichen Beziehung zwischen den Kontrahenten bezieht, sondern vor allem aus der unvorstellbaren Bösartigkeit, mit der Folter seine Taten geplant und durchgeführt hat.
Leseprobe Chris Carter - "Die stille Bestie"

Jo Nesbø – (Blood On Snow: 1) "Der Auftrag“

Sonntag, 4. Oktober 2015

(Ullstein, 187 S., Pb.)
Für vier Arten von Jobs ist der in Oslo lebende Olav nicht zu gebrauchen, wie er selbstkritisch einräumt. Demnach kann er weder Fluchtwagen fahren, noch Raubüberfälle ausüben, mit Drogen arbeiten oder mit Prostitution zu tun haben. Dafür hat er sich als Auftragsmörder einen Namen gemacht, der für den Gangster Daniel Hoffmann unliebsame Leute aus dem Weg räumt. Als Olav nach der erfolgreichen „Expedierung“ eines Mannes bei den verlassenen Lagerhäusern am Kai gleich den nächsten Auftrag von Hoffmann erhält, kommt es zu schwerwiegenden Komplikationen – denn das nächste Opfer soll ausgerechnet Hoffmanns Frau Corina sein.
Olav legt sich einige Tage gegenüber von Hoffmanns Wohnung auf die Lauer und beobachtet das schöne Objekt seines Auftrags dabei, wie es regelmäßig Besuch von einem jungen Mann bekommt, der Corina erst brutal schlägt und anschließend vergewaltigt. Olav nimmt daraufhin eine eigenständige Planänderung vor, die ihn teuer zu stehen kommt …
„Warum also war sie – die junge Ehefrau des größten Lieferanten von Ekstase – bereit, alles für eine billige Affäre mit jemandem zu riskieren, der sie noch dazu schlug?
Erst am vierten Nachmittag verstand ich es, und ich fragte mich, wieso ich so lange gebraucht hatte, um darauf zu kommen. Ihr Lover hatte etwas gegen sie in der Hand.
Etwas, womit er zu Daniel Hoffmann gehen konnte, wenn sie nicht tat, was er wollte.
Als ich am fünften Tag aufwachte, hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich wollte auf Nebenstraßen ins Ungewisse fahren.“ (S. 36) 
Mit „Blood On Snow“ hat der norwegische Thriller-Bestseller-Autor Jo Nesbø eine neue Reihe ins Leben gerufen, die im Gegensatz zu den komplexen Fällen des Polizisten Harry Hole ebenso kurz wie prägnant und packend inszeniert sind. Im Auftakt der unzusammenhängenden Reihe um harte Männer, die folgenschwere Entscheidungen treffen müssen, erzählt Nesbø die Geschichte eines Auftragsmörders, dessen Gedanken immer wieder zu den Frauen in seinem Leben abschweifen, zu seiner Mutter, der taubstummen Maria und eben der geheimnisvollen Corina, der aber auch zusehen muss, wie er aus der kniffligen Lage, in die er sich durch seine Planänderung manövriert, heil herauskommt.
Nesbø hält sich in dem nicht mal 200 Seiten langen „Blood On Snow: Der Auftrag“ weder lang mit einer Einleitung noch mit ausführlichen Charakterisierungen auf. Das hat den Vorteil, die Handlung schnell vorantreiben und überraschende Wendungen einführen zu können, ohne auf die psychologische Stimmigkeit achtgeben zu müssen.
Leonardo DiCaprio hat sich bereits die Filmrechte an dem rasanten Stoff gesichert.
Leseprobe Jo Nesbø – „Blood On Snow: Der Auftrag“

James Carlos Blake – „Pistolero“

(Liebeskind, 431S., HC)
Als am 19. August 1895 im Acme Saloon in El Paso der Polizist John Selman die Waffe auf den Hinterkopf von John Wesley Hardin richtete und abdrückte, ist das Leben des wohl berüchtigsten Revolverhelden in Texas zu Ende gegangen. Darauf weist der einen Tag später im El Paso Daily Herald erschienene Artikel hin, der zur Einstimmung auf die Lebensgeschichte von Wes Hardin den Augenzeugenberichten vorangestellt ist, die chronologisch in einzelnen Episoden, die sie mit Hardin verbracht haben, die aufregende Geschichte eines Mannes erzählen, der seine Waffe gegen jeden zückte, der sein Leben bedroht hat – und nur dann!
Beginnend mit dem Bericht der Hebamme, die Hardin „in einem blutigen Sturzbach“ im Jahr 1853 zur Welt gebracht hat, erfährt der Leser zunächst, wie die Familie von Reverend Hardin ungefähr 1855 vom Red River nach Polk County gezogen ist, wo der Reverend nicht nur das Wort Gottes predigte, sondern auch in der Schule lehrte und als Anwalt praktizierte.
Gregor Holtzman, der die Familiengeschichte auf zwei Seiten zusammenfasst, lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Hardins eine stolze Familie von guter Herkunft seien. Schon der Vater des Reverend, Benjamin Hardin, hat im Kongress von Texas gesessen und Augustine, ein Onkel des Reverends, hat die Unabhängigkeitserklärung mit unterschrieben.
In dieser geschichtsträchtigen Familie entwickelte auch Wes einen außerordentlichen Familien- und Gerechtigkeitssinn. Der wissbegierige Junge entwickelte früh ein Talent für die Arbeit der Cowboys, machte auch als Lehrer eine gute Figur und faszinierte die Frauen. Vor allem war er unglaublich schnell mit seinen Pistolen. Doch als er den Deputy Sheriff Morgan in DeWitt County tötet, wird aus dem geachteten Revolverhelden ein gesuchter Mann, der sich schließlich vor Gericht verantworten muss.
„Die Geschichte von Wes‘ Kampf mit der San-Antonio-Bande verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Sie stand in allen Zeitungen. Manche Leitartikel nannten ihn einen Helden, weil er sich der verhassten State Police und den feigen Vigilanten, den Bürgerwehrlern, die das Recht selbst in die Hand nahmen, gestellt hatte – andere hielten ihn für einen blutigen Desperado, der wie ein räudiger Hund abgeknallt oder an der größten Eiche in Texas aufgehängt gehöre.“ (S. 207) 
Nachdem der Münchener Liebeskind Verlag bereits den mit dem Los Angeles Times Book Prize ausgezeichnete Buch „Das Böse im Blut“ des in Mexiko geborenen und in Texas lebenden Autors James Carlos Blake erstmals der deutschen Leserschaft bekannt gemacht hatte, erscheint dort nun auch das 1995er Debüt „Pistolero“.
Obwohl diese fiktionale Biografie aus der Perspektive von gut fünfzig Zeitzeugen des berüchtigten Revolverhelden erzählt wird, wirkt die Collage aus Erinnerungen, Zeitungsberichten und autobiografischen Bemerkungen wie aus einem Guss. Blake lässt in den Ausführungen von Verwandten, Prostituierten, Lehrern, Richtern, Anwälten, Barkeepern, Freunden und Verwandten das lebendige Portrait eines Mannes entstehen, der seine außergewöhnlichen Begabungen vor allem zum Wohl seiner Mitmenschen einsetzte und jedem Streit möglichst ohne Einsatz von Waffen aus dem Wege ging. In diesen Beschreibungen wird aber nicht nur das abenteuerliche Leben des Protagonisten dargelegt, sondern auch das raue Leben im Texas des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den beschwerlichen Trecks, den Glücksspielen in den Hinterzimmern der Saloons und den Freuden, die Prostituierte den Männern bereiten konnten, facettenreich dokumentiert. Daran werden nicht nur Western-Fans ihre Freude haben.
Leseprobe James Carlos Blake - "Pistolero"

Richard Laymon – „Die Spur“

Freitag, 2. Oktober 2015

(Heyne, 464 S., Tb.)
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Rick den Urlaub mit seiner Freundin Bert(ha) im MGM Grand in Las Vegas oder im Hyatt in Maui auf Hawaii verbracht, auch eine Irland-Tour, eine Luxus-Kreuzfahrt nach Acapulco oder eine Dampferfahrt auf dem Mississippi standen zur Diskussion, doch Bert wollte unbedingt eine Wandertour in den Bergen der Sierra Nevada unternehmen. Als das junge Paar an einem Samstagmorgen aufbricht, weiß Bert noch nichts davon, dass Rick in seiner Kindheit miterleben musste, wie seine attraktive Stiefmutter Julie bei einem solchen Ausflug vergewaltigt und ermordet worden ist.
Und so beäugt Rick während des Wanderns jeden männlichen Fremden, denen sie unterwegs begegnen, mit übervorsichtigem Argwohn. Das ändert sich auch nicht, als neben den drei jungen Kerlen Jase, Luke und Wally, die sich Rick und Bert kurzzeitig anschließen, auch die beiden Mädchen Andrea und Bonnie ihre Wege kreuzen. Den Revolver, den Rick für den Notfall ohne Berts Wissen mitgenommen hat, sorgt schließlich für eine mehr als brenzlige Situation.
Währenddessen unternimmt die waghalsige Gillian O’Neill, selbst Eigentümerin einer zwanzig Wohneinheiten umfassenden Apartment-Anlage, einmal mehr eine Tour, die sie durch Häuser führt, deren Besitzer offensichtlich verreist sind. Nachdem sie das Objekt ihrer Begierde ausgekundschaftet hat, macht es ihr besonders viel Spaß, ein ausgiebiges Bad in dem verlassenen Haus zu nehmen und die persönlichen Dinge des Besitzers zu fotografieren.
Als sie das Haus von Frederick Holden in Beschlag nimmt, stellt sie sich seinem Nachbarn Jerry als Holdens Nichte vor und verbringt einen anregenden Nachmittag im Pool des attraktiven Nachbarn. Doch als Gillian beginnt, Holdens Videosammlung näher zu betrachten und schließlich ein mehr als verstörendes Fotoalbum findet, nimmt ihr Nervenkitzel eine bedrohliche Wendung …
„Entgegen ihrer besseren Einsicht ließ sie die Wanne mit Wasser volllaufen. Die Dampfwolken, die in ihr Gesicht stoben, ließen sie vor Erregung glucksen. Gillian wählte einen voluminösen Badeölspender, zog den Stöpsel und goss den Zusatz ins Badewasser. Fasziniert beobachtete sie, wie sich die amethystfarbene Flüssigkeit mit den blubbernden Strudeln vereinigte.
Zarter Fliederduft stieg in ihre Nasenflügel. Mmmm …
Als sie in das wohlriechende Wasser stieg, summte sie eine Melodie:
‚Keep young and beautiful …‘
Ja. Ganz klar. Das war die spektakulärste, faszinierendste, luxuriöseste, unvergesslichste, denkwürdigste Wanne gewesen, in der jemals ein Bad genommen hatte. Es war in jeglicher Hinsicht ihr bislang spektakulärstes, faszinierendstes und denkwürdigstes Eindringen gewesen.
Und das kürzeste, wie sich herausstellen sollte.“ (S. 126f.) 
Mit „Die Spur“ veröffentlicht Heyne Hardcore das letzte noch zu Lebzeiten des 2001 verstorbenen Horror-Schriftstellers Richard Laymon erschienene Werk „No Sanctuary“. Hier demonstriert der versierte Autor noch einmal seine Qualitäten als erstklassiger Spannungslieferant, dessen Werke sich mit ihren lebendigen Dialogen und attraktiven jungen Menschen wie Drehbücher zu Hollywood-Schockern lesen. Bei „Die Spur“ bekommt der Leser sogar zwei absolut parallel zueinander laufende Geschichten präsentiert, deren Handlungsstränge erst zum Finale zusammenlaufen. Bis dahin wechselt Laymon immer wieder geschickt von dem Wandertrip in den Bergen, den Rick und Bert unternehmen, zum Nervenkitzel, den Gillian im leeren Haus eines offensichtlichen Psychopathen erlebt.
Natürlich ist „Die Spur“ wie bei Laymon gewohnt mit einer Reihe erotischer Tagträumereien und tatsächlicher Handlungen ebenso gespickt wie mit brutaler Gewalt, doch nehmen sie nicht die exzessive Gestalt an, wie man es aus früheren Werken des produktiven Amerikaners kennt. Stattdessen beschränkt sich Laymon diesmal ganz auf die beiden Erzählstränge und den geschickten dramaturgischen Spannungsaufbau, was diesem Quasi-Testament gut zu Gesicht steht.
Leseprobe Richard Laymon - "Die Spur"

Stephen King – (Bill Hodges: 2) „Finderlohn“

Sonntag, 27. September 2015

(Heyne, 542 S., HC)
New Hampshire im Jahre 1978. Sechs Monate vor seinem achtzigsten Geburtstag wird der einst erfolgreiche, seit Jahren aber zurückgezogen auf einer Farm lebende Schriftsteller John Rothstein von drei vermummten Männern in seinem Schlafzimmer überfallen und zur Öffnung seines Safes gezwungen. Dort lagern nicht nur über 20.000 Dollar an Bargeld, sondern - was zumindest Morris Bellamy, dem gebildeten Anführer des Trios, wichtiger zu sein scheint – auch etliche Notizbücher, in denen Rothstein neben Gedichten und Essays auch die Entwürfe zu zwei neuen Romanen um seinen Helden Jimmy Gold niedergeschrieben hat. Wie der alternde Autor vor seinem Tod noch erfahren darf, ist Bellamy ganz und gar nicht davon angetan, wie Rothstein seinen Helden Jimmy im abschließenden Band seiner Trilogie seine Ideale verraten und in die Werbebranche gehen ließ.
Bellamy entledigt sich nach dem Mord an Rothstein auch seiner beiden Komplizen und vergräbt seinen Schatz in einem Koffer in der Nähe eines Trampelpfads, der seine Wohnung in der Sycamore Street mit dem Jugendzentrum in der Birch Street verbindet. Doch bevor er sich später den Notizbüchern widmen kann, wandert Bellamy wegen eines anderen Verbrechens für 35 Jahre hinter Gittern.
2010 lebt der junge Pete Saubers mit seiner Familie in dem ehemaligen Bellamy-Haus und findet bei einem Spaziergang zufällig den Koffer. Mit dem Geld unterstützt er in monatlichen Raten seine nicht nur finanziell angeschlagene Familie. Die Notizbücher versucht er über den leicht anrüchigen Buchhändler Drew Halliday zu verkaufen, damit seine Schwester Tina aufs College gehen kann. Doch auch Halliday selbst wittert ein großes Geschäft.
„Die angekündigten sechs Notizbücher kamen ihm bereits wie ein magerer Appetithappen vor. Sämtliche Notizbücher – von denen einige einen vierten Roman über Jimmy Gold enthielten, wenn Drews psychopathischer Freund damals, vor so vielen Jahren, recht gehabt hatte – waren unter Umständen bis zu fünfzig Millionen Dollar wert, wenn man sie aufteilte und an verschiedene Sammler verkaufte.
Allein schon der vierte Jimmy Gold konnte zwanzig Millionen bringen. Und da Morrie Bellamy im Gefängnis schmorte, stand Drew nur ein junger Bursche im Weg, der nicht einmal einen anständigen Schnurrbart zustande brachte.“ (S. 248) 
Allerdings haben Halliday und Pete Saubers ihre Pläne ohne den vorzeitig aus dem Gefängnis auf Bewährung entlassenen Bellamy gemacht. Nachdem dieser nur einen leeren Koffer in seinem Versteck vorgefunden hat, braucht er nicht lange, um herauszufinden, wer die Notizbücher in seinem Besitz hat …
Auch wenn Stephen King als „King of Horror“ bekannt geworden ist und seinen Weltruhm gruseligen Frühwerken wie „Carrie“, „Christine“, „Feuerteufel“ und „Friedhof der Kuscheltiere“ verdankt, sind viele seiner letzten Werken kaum noch dem Horrorgenre zuzuordnen. Das traf bereits auf „Mr. Mercedes“ zu und noch mehr auf das jetzt veröffentlichte „Finderlohn“, das sich fast wie eine Fortsetzung zu „Mr. Mercedes“ liest. Denn das familiäre Elend, das die Saubers erfasst, ist eben auf das Massaker zurückzuführen, das ein gewisser Brady Hartsfield 2009 mit einem gestohlenen Mercedes vor dem City Center veranstaltete, als er den Wagen mit voller Absicht in eine Masse von Arbeitssuchenden lenkte und dabei auch Pete Saubers Vater Tom erwischte.
Mit dem pensionierten Detective Kermit Bill Hodges, seinen Helfern Jerome und Holly sowie dem in einer psychiatrischen Anstalt verwahrten Attentäter Hartsfield tauchen auch einige Figuren aus „Mr. Mercedes“ in „Finderlohn“ in mehr oder wenigen wichtigen Nebenrollen auf, aber die eigentliche Handlung spielt sich zwischen dem ursprünglichen „Besitzer“ von Rothsteins Notizbüchern und ihrem späteren Entdecker ab.
Hier entwickelt Stephen King einen klassischen Krimi-Plot in bester John-D.-MacDonald-Tradition (dem King diesen Roman auch gewidmet hat) und schreibt dabei auch über das Schreiben an sich, über die Rolle des Autors und seinem Verhältnis zu seinem Werk, seinen Figuren und letztlich auch zu seiner Leserschaft.
Dieses Thema hat King bereits in Werken wie „Stark – The Dark Half“, „Das geheime Fenster“ und „Misery“ meisterhaft in Szene gesetzt, nur kommt er in „Finderlohn“ ganz ohne übernatürliche Elemente aus. Und bei dem faszinierenden Ende bleibt sogar die Hoffnung, einigen der interessanten Figuren in weiteren Büchern von Stephen King wiederzubegegnen.
Einmal mehr hat der produktive Erzähler einen Pageturner geschrieben, der vor Einfallsreichtum, sorgfältig gezeichneter Figuren und dramatischer Spannung nur so strotzt.
 Leseprobe Stephen King - "Finderlohn"