Fabio Volo – „Einfach losfahren“

Dienstag, 22. März 2016

(Diogenes, 286 S., Tb.)
Der fünfunddreißigjährige Michele lebt mit seiner Frau Francesca in einer italienischen Kleinstadt und wartet im Krankenhaus auf die Geburt seiner Tochter. Die Wartezeit nutzt er dazu, niederzuschreiben, wie er zu dem Mensch geworden ist, der jetzt neben dem Kreißsaal auf das neue Leben wartet, das ihm seine Frau schenkt. Bevor er Francesca kennenlernte, arbeitete Michele als Journalist in der Redaktion einer Wochenzeitschrift. Zu der Zeit suchte er nach der Frau seines Lebens, weil er im Grunde genommen gar kein Leben hatte. Allein die seit der Mittelschule andauernde Freundschaft mit Federico hat dazu geführt, sich darüber klar zu werden, was jeder vom Leben erwartet. Bis dahin haben die beiden Freunde ihr Leben nach dem immer gleichen Muster gelebt, das aus Arbeit und Ausgehen, mittwochabendlichen Tippkick-Spielen, alkoholischer Selbstzerstörung am Wochenende und sonntäglicher Erholung von diesen Exzessen bestand.
Mit achtundzwanzig begann Fede dann das Gefühl zu entwickeln, sein Leben wegzuwerfen und nicht etwas Bedeutendes zu tun. Wenig später trennten sich Federicos und Micheles Wege. Während Federico ohne große Abschiedsgesten davonzog, lernte Michele in einer Bar die dort arbeitende Francesca kennen und führte mit ihr eine Beziehung, deren Feuer nach wenigen Monaten wieder erloschen war.
„Ich hätte nie meine Arbeit aufgegeben wie Federico. Undenkbar. Wegen dieser Angst führte ich ein Leben, das nicht mein eigenes war. Ich lebte nicht meine Bestimmung. Möglich, dass nur ganz wenige Menschen wirklich ihrer Bestimmung gemäß leben, aber ich gehöre mit Sicherheit nicht zu ihnen. Ich lebte ein Leben, das mir praktisch zugestoßen war. Ich hatte mich darin eingenäht wie in ein Kleid und war mit der Zeit zu der Überzeugung gelangt, es wäre meins. Obwohl mir ab und zu bewusst wurde, dass es an einigen Stellen ein bisschen zwickte. Aber man gewöhnte sich an alles. An eine Arbeit, die einem keinen Spaß macht, an eine Liebe, die erloschen ist, an die eigene Mittelmäßigkeit.“ (S. 36) 
Erst die Nachricht vom Tod seines besten Freundes hat Michele wachgerüttelt. Er besuchte Federicos Freundin Sophie auf den kapverdischen Inseln und verbrachte dort neun Monate, die aus ihm einen neuen Menschen machten, bereit für einen neuen Anlauf mit Francesca …
Mit „Einfach losfahren“ hat der in Mailand, Rom, Paris und New York lebende Schriftsteller und Schauspieler Fabio Volo einen wunderbaren Selbstfindungsroman geschrieben. Indem er von den Routinen des alltäglichen Lebens und Liebens nachsinnt, weil sein bester Freund den Status quo seines eigenen Lebens in Frage stellt, malt sich der Ich-Erzähler Möglichkeiten und Träume aus, die nach der Verwirklichung des ersten Traums zu Projekten werden.
Die Einstellungen zu Freunden, Familie und Geliebten verändern sich ebenso wer Prozess zur Erkenntnis, dass es nicht darum geht, glücklich zu sein, sondern sich mit etwas Geheimnisvollen verbunden zu fühlen, das einen niemals verlässt.
Fabio Volos „Einfach losfahren“ regt zum Nachdenken über die elementarsten Themen im Leben eines Menschen an und bleibt trotz der philosophischen Tiefe, die gelegentlich an Paulo Coelhos esoterisch durchwirkten Geschichten erinnert, immer bei seinen Figuren und führt diese zu einer ermutigenden Selbsterkenntnis, die sie neue Wege beschreiten lässt.
Leseprobe Fabio Volo - "Einfach losfahren"

Richard Laymon – „Das Haus“

(Heyne, 272 S., Tb.)
Als Clara Hayes eines Abends Geräusche im verlassenen Nachbarhaus hört, ruft sie Chief Dexter Boyanski in Ashburg an, damit er dort nach dem Rechten sieht. Er hatte vor Jahren in dem Haus die brutal zugerichtete Leiche von Hester Sherwood gefunden, mit der er einmal getanzt hatte. Seit dem Massaker an der Sherwood-Familie vor fünfzehn Jahren steht das Sherwood-Haus zum Verkauf. Als Dexter am nächsten Morgen nicht zum Dienst erscheint und sein Kollege Sam Wyatt ihn in Stücke zerhackt in dessen Wohnung findet, macht sich der Cop auf die Suche nach Dexters Ex-Frau Thelma, die vor Jahren nach Milwaukee gezogen ist und offenbar wieder in der Stadt ist. Doch der entsetzliche Mord an Dexter bildet erst den Auftakt weiterer unheimlicher Ereignisse in der Kleinstadt.
Ein Unbekannter lädt zu einer Halloween-Party in dem Sherwood-Haus ein, dessen Nachbarhaus am Vorabend niederbrennt, während die darin lebende Horner-Familie spurlos verschwunden ist.
„Obwohl Sam nicht viel über Hank Horner wusste, glaubte er nicht wirklich daran, dass er etwas damit zu tun hatte. Der Hausbrand und das Verschwinden seiner Familie waren ganz sicher kein ausreichender Beweis. Allerdings fand er es merkwürdig, dass das Feuer ausgerechnet am Tag nach Dexters Ermordung ausgebrochen war. Vielleicht gab es da wirklich einen Zusammenhang, wenn auch nicht den, auf den Barney hoffte. Vielleicht hatten die Männer ja den gleichen Feind gehabt. Wer auch immer Dexter in Stücke gehackt hatte …“ (S. 165) 
Und schließlich hat sich Sam Wyatt geschworen, in seiner noch recht frischen Beziehung zur alleinerziehenden Cynthia alles richtig zu machen, doch ihr zorniger Teenager-Sohn Eric macht es ihm alles andere als leicht …
Die Lücken in Richard Laymons Oeuvre in deutscher Sprache schließen sich allmählich. Während der 2001 verstorbene amerikanische Horror-Autor schon zu Lebzeiten in seiner Heimat zu den beliebtesten Genre-Vertretern zählte, sind hierzulande im Goldmann-Verlag nur zwei Titel veröffentlicht worden, erst in den letzten Jahren haben es sich der Festa Verlag und vor allem Heyne Hardcore zur Aufgabe gemacht, sein umfangreiches Werk auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen.
Mit dem 1985 im Original unter dem Titel „Allhallow’s Eve“ veröffentlichten „Das Haus“ hat Laymon eine fast schon klassische Halloween-Geschichte geschrieben, sie mit Motiven des Geisterhaus-Spuks verwoben und schließlich in eine recht oberflächliche Kriminalgeschichte gegossen, die durch Sams problematischen Frauen-Geschichten und den Neckereien der Teenager an der örtlichen Highschool ein paar persönliche und die bei Laymon obligatorischen erotische Akzente bekommt.
Besonders gelungen ist diese Mischung in diesem Fall aber nicht. Zwar führt Laymon eine ganze Reihe von Figuren ein, charakterisiert diese aber meist nur oberflächlich. Einzig die Beziehung zwischen Sam, Cynthia und Eric auf der einen Seite und zwischen Sam und der sexy Motel-Besitzerin Melody auf der anderen Seite werden etwas näher ausgeführt, ansonsten begnügt sich der Autor damit, die sexuellen Phantasien der männlichen Jugendlichen auszuführen und den wenig inspirierten Horror im Sherwood-Haus zu beschreiben.
Leseprobe Richard Laymon - "Das Haus"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 7) „Mississippi Jam“

Montag, 21. März 2016

(Pendragon, 590 S., Pb.)
Nachdem Anfang 1942 Nazi-U-Boote an der Mündung des Mississippi auf Tanker gelauert hatten, entdeckte Dave Robicheaux während seiner Collegezeit bei einem Tauchgang zufällig eines dieser U-Boote, das durch einen Zerstörer der US-Navy beschossen worden war. Als er vor einigen Jahren dem mehrfachen Drugstore-Besitzer und Demokraten Hippo Bimstine von seinem damaligen Fund erzählte, bot dieser Robicheaux einen Finderlohn von zehntausend Dollar, wenn er das Wrack orten könnte, damit Bimstine daraus ein Casino als Touristenattraktion machen kann.
Doch Bimstine ist nicht der einzige Interessent für das U-Boot. Während es Bimstine nur um das Geschäft zu gehen scheint, hat ein Mann namens Buchalter offensichtlich ganz andere Motive und lässt es auch an Gewalt nicht mangeln, um sein Ziel zu erreichen. Obwohl Robicheaux als Cop beim Iberia Parish Sheriff’s Department zunächst alles andere als begeistert ist, diesen Job anzunehmen, lässt er sich auf den Deal ein, um seinem Freund und Angestellten Batist Perry vor dem Knast zu bewahren.
Auch Robicheaux‘ alter Kumpel Clete Purcel bringt sich wieder in Schwierigkeiten, als er erst einen Mann aus Calucci’s Bar durchs Fenster wirft und den korrupten Cop Nate Baxter gegen sich aufbringt. Dabei hat er nur seine Freundin Martina aus Schwierigkeiten mit den beiden Mafia-Brüdern Max und Bobo zu befreien versucht. Purcel gilt auch als Verdächtiger in Fällen, bei denen jemand das Gesetz in die eigenen Hände genommen hat und u.a. einige Schwarze aus den Sozialbausiedlungen über die Klinge springen ließ.
Schließlich hat auch der irische, schwer an Krebs erkrankte Gangster Tommy „Bobalouba“ Lonighan seine Finger im Streit um das U-Boot, und auch der geheimnisvolle Reverend Oswald Flat taucht zur selben Zeit wie Will Buchalter auf, der Robicheaux’s Frau Bootsie so schwer einschüchtert, dass sie wieder ein Alkoholproblem bekommt. Nun kann Robicheaux an nichts anderes mehr denken, als Buchalter in die Finger zu kriegen und kurzen Prozess mit ihm zu machen …
„Buchalter gehörte zu der Sorte Mensch, die ihr Leben darauf verwenden, Kontrolle und Macht über andere auszuüben. Wie der selbstsüchtige Akademiker, der es genießt, ein Geheimwissen zu besitzen, weil es ihm das Gefühl gibt, anderen überlegen zu sein, oder wie der Pseudojournalist, der sich zu diesem Beruf hingezogen fühlt, weil er so Zugang zu einer Welt der Macht und des Reichtums erhält, die er insgeheim fürchtet und neidet, reduziert ein Sammler wie Buchalter die Schönheit von Schmetterlingen auf Insekten, die auf ein Spannbrett genagelt sind, gleichsam eine tägliche Mahnung, dass alle Schöpfung stets der Willkür seiner mordenden Hand ausgeliefert ist.“ (S. 220)
„Mississippi Jam“ ist unter den frühen Dave-Robicheaux-Krimis der einzige Band, der bislang nicht in deutscher Sprache erhältlich gewesen ist. Der Bielefelder Pendragon-Verlag hat im vergangenen Jahr mit „Sturm über New Orleans“ einen neuen Band der berühmten Reihe veröffentlicht und angekündigt, zukünftig weitere Robicheaux-Krimis herauszubringen.
In „Mississippi Jam“ hat es der ehemalige Großstadt-Cop und Ex-Alkoholiker Robicheaux nicht nur mit der Mafia in New Orleans zu tun, sondern vor allem mit rassistisch motivierten Morden, in die Robicheaux und seine engsten Vertrauten zunehmend mit hineingezogen werden.
Vor allem mit dem schwer fassbaren, extrem widerlichen Buchalter hat der Autor eine Symbolfigur für das verkorkste Gedankengut faschistischer Gruppierungen erschaffen, die sich gerade im Süden der USA breitgemacht haben. Ähnlich wie sein temperamentvoller Kumpel Purcel begreift auch Robicheaux bald am eigenen Leib, dass Buchalter mit der gängigen Strafverfolgungspraxis nicht beizukommen ist.
James Lee Burke beschreibt das Szenario auf gewohnt atmosphärisch dichte Weise, kreiert ausgefeilt charakterisierte Figuren, brilliert mit geschliffenen Dialogen und steuert die Geschichte auf ein spannendes Finale zu, das einen vielschichtigen Roman zu einem starken Abschluss bringt.
Leseprobe James Lee Burke - "Mississippi Jam"

Robert B. Parker – (Jesse Stone: 8) „Verfolgt in Paradise“

Freitag, 18. März 2016

(Pendragon, 320 S., Tb.)
Polizeichef Jesse Stone ist gerade über einem Hochglanzfoto in Gedanken an seine Exfrau Jenn vertieft, als Molly Crane in sein Büro kommt und ihm von einem Vorfall in der Mittelschule berichtet, wo sich die Schulleiterin Betsy Ingersoll unsittlich einigen Mädchen genähert haben soll, indem sie vor einer Tanzveranstaltung der 8. Klasse überprüfen wollte, was für Höschen die Mädchen unter den Röcken trugen. Außerdem bekommt es Stone mit einer Familie zu tun, die regelmäßig Swinger-Partys bei sich zuhause veranstaltet, die allerdings auch von Missy und ihrem achtjährigen Bruder beobachtet werden.
Und schließlich treibt ein Spanner sein Unwesen, der es in der Kleinstadt Paradise vor allem auf ungefähr vierzigjährige, gut aussehende Frauen abgesehen hat und sich bald nicht mehr damit begnügt, die Frauen aus der Ferne zu betrachten, sondern in ihre Häuser einbricht, sie zwingt, sich auszuziehen, und schließlich Fotos von den Frauen macht.
Als „Nachtfalke“ gibt sich der Mann in Bekennerbriefen bei Jesse Stone zu erkennen. Während Stone mit seinen Kollegen alles daran setzt, den Spanner zu fassen, vermisst er nach wie vor seine Exfrau, die sich gerade mit einem Fernsehproduzenten eingelassen hat, der ihr eine eigene Show in New York angeboten hat.
„Er konnte keine Ansprüche auf Jenn anmelden. Sie waren geschieden. Er schlief mit anderen Frauen, sie mit anderen Männern. Gut, Jenn hatte damit angefangen, als sie noch verheiratet waren. Jesse nahm einen Schluck. Aber die Uhr hatte sich unerbittlich weitergedreht. Es war, als habe er einen Teufelskreis betreten, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.“ (S. 105) 
Robert B. Parker (1932 – 2010) hat mit Jesse Stone eine überaus charismatische Figur geschaffen, einen ehemaligen Mordermittler aus Los Angeles, der durch übermäßigen Alkoholzuspruch seinen Job und seine Frau verlor und nun das kleine Polizeirevier in Paradise, Massachusetts, leitet.
Der Plot im achten und vorletzten Band seiner Jesse-Stone-Reihe, die von Michael Brandman und Reed Farrel Coleman fortgeführt wurde, ist knackig und ohne große Einführung angelegt, das Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Cops und dem Nachtfalken spannungsreich aufgeladen.
Vor allem die spritzigen Dialoge machen „Verfolgt in Paradise“ zu einem faszinierenden und kurzweiligen Lesevergnügen.
Leseprobe Robert B. Parker - "Verfolgt in Paradise"

Linwood Barclay – „Schweig für immer“

(Knaur, 505 S., Tb.)
Cynthia Archer wird die Traumata in ihrem Leben einfach nicht los. 1983 zog sie mit dem schon siebzehnjährigen Vince Fleming los, wurde von ihrem zornigen Vater aufgespürt, aus dem Mustang des Jungen gezerrt und nach Hause gebracht, wo sie am nächsten Morgen feststellen musste, dass das Haus leer war. Fünfundzwanzig Jahre lang wusste sie nicht, was mit ihren Eltern und ihrem Bruder geschehen war. Vor sieben Jahren geriet dann erneut das Leben ihrer eigenen Familie in Gefahr. Als Konsequenz der dramatischen Ereignisse hat sich Cynthia nun eine Auszeit von der Familie genommen, nachdem sie ihre vierzehnjährige Tochter Grace versehentlich verletzt hat.
Ihr Ehemann Terry, der als Englischlehrer arbeitet, hat alle Mühe, die Familie zusammenzuhalten. Als die rebellische Grace eines Abends mit ihrem Freund Stuart eine Spritztour unternimmt, endet der Ausflug in einem vermeintlich unbewohnten Haus, aus dem Stuart die Schlüssel für den Porsche in der Garage holen will. Allerdings befindet sich ein weiterer ungebetener Gast in der Wohnung, ein Schuss löst sich, Stuart verschwindet spurlos. Sie ruft ihren Dad an, der sie an einer Tankstelle abholt und mit Grace versucht, die Ereignisse zu rekonstruieren.
Parallel dazu ermittelt Detective Rona Wedmore in einem Mordfall, der sich in der Nachbarschaft der Archers ereignet hat, wo ein unbescholtenes Lehrerehepaar hingerichtet worden ist. Die Ermittlungen führen zu einer Gangster-Truppe, in der auch Vince Fleming seine Finger im Spiel hat …
„Was hatte es mit dem Haus auf sich? Warum war Vince so erpicht darauf, zu erfahren, ob Stuart und Grace dort noch etwas anderes vorhatten, als den Porsche zu stehlen? Warum wollte er wissen, ob sie außer im Keller und im Erdgeschoss sonst noch wo gewesen waren? (…)
Wenn alles herauskam, was für einen Preis würde sie dafür zahlen, dass sie nicht gleich zu Beginn zur Polizei gegangen und mit der Wahrheit herausgerückt war?“ (S. 218) 
Mit „Schweig für immer“ präsentiert der amerikanische, in Kanada lebende Autor Linwood Barclay eine offizielle Fortsetzung seines erfolgreichen Debüts „Ohne ein Wort“ aus dem Jahr 2007. Zwar lässt sich Barclays neues Buch auch ohne Kenntnis des Bestsellers lesen, aber die Zusammenhänge und vor allem die tragische Geschichte der Archer-Familie wird verständlicher, wenn der Leser auch die Geschichte von „Ohne ein Wort“ im Hinterkopf hat, denn Barclay bringt die vergangenen Ereignisse nur sporadisch und bruchstückhaft zur Sprache.
Der Plot entwickelt sich zunächst aus zwei dramaturgisch interessant gestalteten Episoden. Nach dem Mord an dem Lehrerehepaar im Prolog erläutert Ich-Erzähler Terry die momentane angespannte Familiensituation, die in dem heimlichen Ausflug seiner Tochter mit seinem ehemaligen, nicht sehr hellen Schüler Stuart und dessen spurlosen Verschwinden mündet.
Was folgt, sind ganz unterschiedliche Handlungsstränge, Dialoge und Figurenkonstellationen, die in ihrer Komplexität nicht unbedingt förderlich sind für den Spannungsaufbau. Leider gelingt es Barclay im Verlauf der 500 Seiten auch nicht, die unüberschaubaren Stränge sinnvoll zusammenzuführen. Mit dem Auslassen einiger Nebenhandlungen und dem Straffen des Figurenensembles wäre Barclay sicher besser gefahren. So bietet „Schweig für immer“ eher holperige Spannungsliteratur, die wenig nachhallt.
Leseprobe Linwood Barclay - "Schweig für immer"

Joe R. Lansdale – „Das Dickicht“

Freitag, 11. März 2016

(Heyne, 331 S., Tb.)
Nachdem ihre Eltern durch die Pocken umgekommen sind, sollen der 16-jährige Jack Parker und seine 14-jährige Schwester Lola vom Großvater zu ihrer Tante nach Kansas gebracht werden. Als sie den Sabine River mit einem Floß überqueren wollen, kommt es allerdings zu einem blutigen Zwischenfall mit den drei Ganoven Cut Throat Bill, Nigger Pete und Fatty Worth. Während Grandpa erschossen wird, stürzt Jack von dem kenternden Gefährt in den Fluss und wird am Ufer von einem Paar aufgelesen, das den Vorfall beobachten konnte.
Er erfährt, dass die drei Gangster mit Lola davongeritten sind. Jack sucht in der nächsten Stadt das Büro des Sheriffs auf, muss aber erfahren, dass dieser gerade erst bei einem Banküberfall erschossen wurde. Offensichtlich stecken hinter dieser Tat genau die Männer, die nun auch Lola in ihrer Gewalt haben. Zum Glück lernt der Junge den farbigen Kopfgeldjäger Eustace Cox und seinen Eber kennen, dem Jack das Grundstück seiner Eltern als Bezahlung anbietet.
Ergänzt wird der Suchtrupp durch den Liliputaner Shorty und die Hure Jimmy Sue, die bereits Jacks Großvater zu Diensten gewesen ist. Gemeinsam macht sich der bunt zusammengewürfelte Haufen auf die Suche nach den Mördern und Entführern. Allerdings führen die Spuren ins schwer zugängliche Dickicht, wo weitere Gefahren lauern …
„Inzwischen hatte ich das Gefühl, ich wäre nicht mehr im alten Texas, sondern mitten in der Hölle, von diesen beiden Kerlen mit ihren Geschichten dorthin gelockt – von ihrem ganzen Gerede darüber, was sie alles tun konnten, und so weiter und so fort. Grandpa hat mir einmal erzählt, Männer würden sich von lauter Dummheiten verlocken lassen, von Frauen und Glitzerkram wie Gold und Silber und allen möglichen großen, glänzenden Lügen.“ (S. 92) 
„Das Dickicht“ erzählt wie schon „Dunkle Gewässer“ eine Coming-of-Age-Geschichte eines Jungen, der durch tragische Ereignisse viel zu früh erwachsen wird. In diesem Fall fungiert der 16-jährige Jack als Ich-Erzähler, der nach dem tragischen Verlust seiner Eltern mit eigenen Augen mitansehen muss, wie seine Schwester von drei brutalen Männern entführt wird.
Um sie wiederzufinden, sind dem Jungen keine Mühen zu aufwändig. Seine Mitstreiter sucht zwar mehr oder weniger der Zufall aus, aber Jack fasst schnell Vertrauen zu den charismatischen Männern und erlebt mit ihnen einige Abenteuer, bis es im gefürchteten Dickicht bei einer Blockhütte zum bleigeschwängerten Showdown kommt.
Der texanische Autor Joe R. Lansdale erweist sich einmal mehr als Meister der atmosphärisch stimmigen, psychologisch ausgereiften und dramaturgisch packenden Erzählung, die den Reifeprozess und die erste Liebe eines jungen Mannes ebenso schildert wie die gesetzlose Atmosphäre in einer Zeit, als die Industrialisierung dem amerikanischen Leben ihren Stempel aufzudrücken beginnt, aber es ist auch eine Geschichte über Vertrauen, den Verlust der Unschuld und Gewalt, die Lansdale ebenso unverblümt wie mit schwarzem Humor beschreibt.

Don Winslow – (Frank Decker: 2) „Germany“

Sonntag, 6. März 2016

(Droemer, 379 S., Pb.)
Ex-Marine und Ex-Cop Frank Decker hat es sich zur Aufgabe gemacht, vermisste Menschen zu finden. Obwohl ihn die Suche nach dem fünfjährigen afroamerikanischen Mädchen Hailey Hansen seinen Job und seine Ehe gekostet hat, kann sich Decker nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu tun. Nachdem er mit seinen alten Kriegskameraden in Miami ein feuchtfröhliches Wiedersehen gefeiert hat, erzählt ihm sein Kumpel Charlie Sprague, der Decker im Irak das Leben gerettet hat und seitdem durch eine Brandwunde im Gesicht halbseitig entstellt ist, dass seine Frau Kim verschwunden ist.
Die junge Schönheitskönigin, die von Decker zur Hochzeit mit dem milliardenschweren Bauunternehmer zum Altar geführt worden ist, wollte nur ins Einkaufszentrum und ist seitdem nicht mehr aufzufinden.
Während Sergeant Dolores Delgado die erforderlichen Angaben in die Systeme speist und den polizeilichen Ermittlungsweg beschreitet, fängt Decker damit an, Kims beste Freundin Sloane aufzusuchen und den Spuren nach Kims Eltern nachzugehen, die gar nicht so tot sind, wie zunächst angenommen worden ist. Offensichtlich ist Kim als Carolynne May Woodley in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, von ihrer Mutter von einem Schönheitswettbewerb zum nächsten gefahren, ist von einem Jungen schwanger geworden und dann unter neuem Namen ein neues Leben begonnen, in dem ihre Eltern keine Rolle mehr spielten.
Da Kims Vater als Gefängniswärter arbeitet, vermutet Decker zunächst einen Racheakt des inhaftierten DeMichael Morrison, dem Woodley übel mitgespielt hat, doch tatsächlich führt die Spur weiter zu einer elitären Escort-Agentur und Menschenhändlern aus der Ukraine, die ihre Zentrale mittlerweile nach Deutschland verlegt haben.
Decker hat mehrere Theorien über Kims Verschwinden zu überprüfen. Sie könnte Opfer einer Säuberungsaktion der Russen oder eines Konflikts zwischen Morrison und Woodley sein, aber auch Charlie könnte hinter die Vorgeschichte seiner Frau gekommen sein und sie umgebracht haben, bevor der Skandal größeren Schaden anrichten konnte.
„Tatsächlich gab es sogar noch eine vierte Möglichkeit.
Kim war einfach gegangen. Sie hatte ihr Leben sattgehabt und war irgendwohin, wo sie sich erneut selbst erfinden wollte. Wenn es so war, dann war das ihr gutes Recht; aber andererseits hatte Charlie auch das Recht, es zu erfahren.“ (S. 211) 
Decker grast in Deutschland die Rotlichtbezirke in den Großstädten ab und landet über München, Hamburg, Lüneburg und Berlin schließlich in Erfurt, wo es zum großen Showdown und einigen Überraschungen kommt.
Mit Frank Decker hat der amerikanische Bestseller-Autor Don Winslow wie schon mit seiner ersten Serien-Figur Neal Carey einen besonders hartnäckigen Ermittler kreiert, der im Gegensatz zum jungen Akademiker, der Carey eigentlich sein will, durch seine Vergangenheit als Marine und Cop extrem kampferprobt ist und weiß, wie Ermittlungen zu führen sind. Ähnlich wie bei Deckers ersten Auftrag in „Missing: New York“ führen die Spuren wieder in die Szene von Menschenhandel und dem Geschäft mit Sex, wieder muss Decker einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Spuren folgen, bis er sein Ziel vor Augen hat. Die knackige Prosa und der Charakter seines Helden rufen Erinnerungen an Lee Childs coole Jack-Reacher-Romane wach und lassen sich ebenso spannend lesen. Im Gegensatz zu Winslows komplexeren und wuchtigeren Werken, die im Drogenmilieu angesiedelt sind, dürfte die Frank-Decker-Reihe auch Fans von James Patterson und Linwood Barclay ansprechen.
Leseprobe Don Winslow - "Germany"