John Williams – „Augustus“

Mittwoch, 19. Oktober 2016

(dtv, 478 S., HC)
Kurz bevor der römische Diktator Julius Cäsar im März des Jahres 44 v. Chr. ermordet wird, sorgt er dafür, dass sein adoptierter Großneffe Octavius in Philosophie, Literatur und Rhetorik unterrichtet wird und trotz schwächlicher Konstitution sein Erbe und Nachfolger wird. Tatsächlich gelingt es dem jungen Mann, sich gegen die Widerstände aus den Reihen von Cäsars Feinden zu behaupten und sich sein Leben lang die Gewalt über Staat und Militär zu sichern. Als Förderer der Künste und des öffentlichen Lebens führt er das Römische Reich schließlich zu Wohlstand und Frieden.
John Williams, dessen Romane „Butcher’s Crossing“ (1960) und „Stoner“ (1965) in den vergangenen Jahren wiederentdeckt worden sind, hat mit seinem letzten noch zu Lebzeiten veröffentlichten Roman „Augustus“ (1972) eine Biografie veröffentlicht, die auf den ersten Blick wenig gemein zu haben scheint mit den zutiefst amerikanischen Vorgängern.
Ungewöhnlich ist schon die erzählerische Form. Ausgehend von einem Brief, mit dem Cäsar 45 v. Chr. seiner Nichte Atia ankündigt, ihr ihren Sohn von Karthago zurück nach Rom zu schicken, damit er in Apollonia seine mangelnden Kenntnisse in den Geisteswissenschaften auf Vordermann bringen und die Position einnehmen kann, die Cäsar ihm angedacht hat, reihen sich in der Folge weitere (fiktive) Briefe, Tagebuchnotizen, Senatsbeschlüsse, Militärbefehle und Ovids Gedichte zu einem umfangreichen zeitgeschichtlichen Portrait zusammen.
Gaius Octavius Cäsar, der erst nach seinem Sieg über seinen Kontrahenten Marcus Antonius und dessen Geliebten Cleopatra den Ehrennamen Augustus erhielt, tritt dabei lange Zeit eher als gelegentliche Anekdote auf, bevor er im abschließenden Buch III mit einem langen Brief an seinen einzig noch lebenden Freund Nikolaos auf sein Leben und den daraus gewonnenen Einsichten zurückblickt.
Zuvor wird in den Briefen seiner Zeitgenossen vor allem deutlich, wie im alten Rom gelebt, geliebt, gehasst und intrigiert worden ist, wie Heiraten arrangiert, Ehen geschieden und Zweckbündnisse geschlossen wurden, um Macht zu gewinnen.
„Das, was wir unsere Welt der Ehe nennen, ist, wie Du sehr wohl weißt, eine Welt notwendiger Verbindungen; und manchmal denke ich, der elendste Sklave besitzt mehr Freiheiten als wir Frauen. Ich möchte den Rest meines Lebens in Velletri verbringen, hier, wo mir meine Kinder und Enkel stets willkommen sind. Vielleicht finde ich ja in mir oder in meinen Büchern noch zu etwas Weisheit während der stillen Jahre, die nun vor mir liegen“, heißt es beispielsweise in einem (ebenfalls fiktiven) Brief, den Octavia 22 v. Chr. an ihren Bruder Octavius Cäsar geschrieben hat. (S. 263) 
An anderer Stelle werden Badegewohnheiten, die Auseinandersetzung mit dem Gesetz zum Ehebruch und philosophische Versammlungen geschildert, so dass am Ende ein vielschichtiges und sehr lebendiges Bild des Römischen Reiches zu seiner Glanzzeit entsteht.
Am Ende hat Augustus dann doch etwas mit Protagonisten aus „Stoner“ und „Butcher’s Crossing“ gemein, nämlich die Erkenntnis, dass persönliche Bedürfnisse zurückgestellt werden müssen, dass familiäre Bindungen darunter zu leiden haben, dass gesellschaftliche Verpflichtungen zu erfüllen sind.
„Augustus“ ist bei aller Komplexität ein farbenprächtiger historischer Briefroman geworden, der 1973 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde und in der deutschen Übersetzung mit einem Who’s Who im alten Rom und einem schönen Nachwort von Daniel Mendelsohn ausgestattet ist, der „Augustus“ in das leider sehr schmale Gesamtwerk des 1994 verstorbenen Autors einordnet.
Leseprobe John Williams - "Augustus"

Stephen King – (Bill Hodges: 3) „Mind Control“

Samstag, 15. Oktober 2016

(Heyne, 526 S., HC)
Als der pensionierte Detective Bill Hodges von seinem ehemaligen Partner Peter Huntley gebeten wird, einen erweiterten Selbstmord zu untersuchen, wird der Privatermittler mit seiner Partnerin Holly erneut mit den schrecklichen Ereignissen konfrontiert, bei denen ein Irrer namens Brady Hartsfield an einem nebligen Morgen des Jahres 2009 mit einem gestohlenen Mercedes in eine Schar von Arbeitssuchenden gerast ist. Ein Jahr später hat der sogenannte Mercedes-Killer versucht, eine Bombe bei einem Konzert der Teenie-Band ´Round Here zu zünden, doch Holly hat den Psychopathen durch einen heftigen Schlag mit einer mit Kugellagerkügelchen gefüllten Socke auf den Schädel ins Kiner Memorial Hospital katapultiert, wo er sich nun in einem unverändert katatonischen Dämmerzustand befindet.
Als sie die Wohnung von Martine Stover untersuchen, die eine der Überlebenden des Massakers am City Center gewesen ist, stoßen Hodges und Holly auf merkwürdige Indizien wie das Selbstmord-Set, ein mit Filzstift gemaltes „Z“ und eine antiquiert wirkende Spielkonsole. Bei ihren weiteren Ermittlungen stößt das „Finders Keepers“-Duo auf weitere Suizide von Menschen, die irgendwie mit Brady Hartsfield zu tun hatten.
Offensichtlich verfügt der Patient über telekinetische Kräfte und kann sich mittels der nicht mehr hergestellten Spielkonsolen in die Köpfe von Menschen wie Krankenpflegern, Ärzten und Besuchern schleichen, die dann Hartsfields Rachepläne in die Tat umsetzen. Mittels einer eigens eingerichteten Website und weiterhin verteilten Zappit-Spielkonsolen setzt Hartsfield eine ganze Kette von Suiziden in Gang, die Bill und Holly mit allen Mitteln aufzuhalten versuchen …
„Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Brady eine erstaunliche Reise hinter sich gebracht. Wie das Endresultat aussehen wird, ist unmöglich vorherzusagen, aber irgendein Resultat wird sich einstellen, da ist er sich sicher. Eines, an dem der alte Exdetective schwer zu knabbern haben wird. Tja, Rache ist eben wirklich süß.“ (S. 294) 
Mit „Mind Control“ bringt Stephen King die Trilogie um Ex-Detective Bill Hodges und den soziopathischen Killer Brady Hartsfield alias Mr. Mercedes, die mit „Mr. Mercedes“ und „Finderlohn“ vielversprechend begonnen hat, zu einem turbulenten und absolut finalen Abschluss. Auch wenn der dritte Band noch einmal die Ereignisse der vorangegangenen Bände rekapituliert und sich durchaus losgelöst davon lesen lässt, macht es wirklich Sinn, sich der Trilogie im Ganzen anzunehmen, denn Stephen King erweist sich hier einmal mehr als Meister der detaillierten Figurenzeichnung.
Da Bill Hodges mit seinen fast siebzig Jahren gesundheitlich nicht mehr ganz auf der Höhe ist und eine niederschmetternde Diagnose verarbeiten muss, schweißt der Hartsfield-Fall ihn und seine Geschäftspartnerin Holly noch mehr zusammen. Die gemeinsamen Szenen von Holly und Bill zählen fraglos zu den eindringlichsten der ganzen Trilogie und zu den erzählerischen Höhepunkten von „Mind Control“.
Davon abgesehen bietet der Roman weit mehr übernatürliche Elemente als „Mr. Mercedes“ und „Finderlohn“, wobei es King wieder souverän gelingt, die an sich schwer nachvollziehbaren Phänomene überaus natürlich erscheinen zu lassen. Aber natürlich bietet „Mind Control“ auch wieder klassischen Krimistoff, der sich manchmal etwas zäh entwickelt, wenn King allzu ausschweifend von Rückblenden Gebrauch macht. Ähnlich wie Bradys Versuchskaninchen vor der „Fishin‘ Hole“-Demo ihres Zappits wird auch der Leser hypnotisch von der packenden Story mitgerissen – bis zum alles erlösenden Finale.
Leseprobe Stephen King - "Mind Control"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 4) „Der letzte Coyote“

Donnerstag, 13. Oktober 2016

(Heyne, 400 S., Tb./Knaur eBook)
Da Detective Harry Bosch seinen verhassten Vorgesetzten Harvey Pounds nach einer Auseinandersetzung durch dessen Bürofenster gestoßen hatte, wurde er für unbefristete Zeit vom Dienst suspendiert und muss nun eine Therapie bei der Polizeipsychologin Dr. Hinojo absolvieren, bis diese Assistant Chief Irving einen positiven Bescheid zu Boschs Rückkehr in die Mordkommission von Los Angeles erstellt.
Mit der Therapeutin spricht Bosch zunächst über sein vom Erdbeben zerstörtes Haus, aus dem er sich trotzdem nicht weigert auszuziehen, über die vor drei Monaten beendete Beziehung mit der Lehrerin Sylvia Moore und über den Mord an einer Prostituierten, der zur tätlichen Auseinandersetzung mit Pounds geführt hat, und schließlich über seine Mutter Marjorie Lowe, die 1961 ermordet worden war, ohne dass der Fall aufgeklärt werden konnte.
Bosch nutzt seine Zwangsbeurlaubung dazu, sich noch einmal die Akte vorzunehmen und die beiden damals ermittelnden Beamten Claude Eno und Jake McKittrick ausfindig zu machen. Zunächst kontaktiert Bosch aber Meredith Roman, die zusammen mit Marjorie für den Zuhälter Johnny Fox gearbeitet und immer wieder auf den kleinen Harry aufgepasst hatte, wenn seine Mutter arbeiten musste. Interessanter erweist sich allerdings die Spur zum damaligen Bezirksstaatsanwalt Arno Conklin, der offensichtlich eine Beziehung zu Boschs Mutter unterhalten hatte …
„Was mit seiner Mutter geschehen war, hatte ihn geprägt. Es war immer dagewesen, in den dunklen Höhlen seines Bewusstseins. Das Versprechen, es herauszufinden. Das Versprechen, sie zu rächen. Er hatte es nie ausgesprochen, nicht einmal explizit gedacht. Sonst hätte er schon früher einen Plan gemacht. Aber es gab keinen großen Plan. Trotzdem war er von dem Gefühl erfüllt, dass es unvermeidlich und von verborgener Hand vor langer Zeit festgesetzt worden war.“ (Pos. 1320) 
Mit dem vierten Band um den in Hollywood beim Morddezernat als Detective arbeitenden Harry Bosch taucht der amerikanische Thriller-Bestseller-Autor Michael Connelly tief in die angeknackste Seele seines Helden ein und verknüpft Boschs seelische Aufbereitung seiner durch den Verlust seiner Mutter bedingte schwierige Kindheit in Pflegeheimen mit einem ebenso persönlichen ungeklärten Fall. Dabei überrascht es kaum, dass die unvollständige Akte zum Mord an seiner Mutter zu Spuren führen, die bis in höchsten Kreise der Stadtverwaltung reichen.
Geschickt baut Connelly einen faszinierenden Plot auf, der zwischen Therapiesitzungen und privaten Ermittlungen pendelt, wobei Boschs Vorgehen ungewöhnliche, immer wieder auch tödliche Konsequenzen nach sich zieht. Connelly folgt dabei recht konventionellen Erzählstrukturen mit gut kalkulierten Wendepunkten, hält die Spannung aber kontinuierlich bis zum überzeugenden Finale aufrecht. Was „Der letzte Coyote“ besonders auszeichnet, ist die sehr persönliche Geschichte, die Bosch seinen Fans noch näherbringt.
Leseprobe Michael Connelly - "Der letzte Coyote"

Richard Laymon – „Das Ufer“

Freitag, 7. Oktober 2016

(Heyne, 576. S., Tb.)
Als sich das Teenagermädchen Leigh West 1969 am Lake Wahconda in den etwa gleichaltrigen Jungen Charlie verliebt, endet ihr erstes Mal tragisch: Charlie stürzt in dem verlassenen Haus, das er für das zärtliche Rendezvous ausgewählt hat, durch den morschen Holzboden und verunglückt dabei tödlich. Bei seiner Beerdigung beschimpfte seine Mutter Edith Payne sie als Hure, die ihren Sohn umgebracht habe.
Mittlerweile ist Leighs Tochter Deana im gleichen Alter wie sie damals und muss ein ganz ähnliches Schicksal erleiden: Bei einem gemeinsamen Ausflug wird ihr Freund Allan an einer Lichtung von einem Auto erfasst und an einem Baum zu Tode gequetscht.
Als sich Officer Mace Harrison des Falls annimmt, machen Leigh und Deana den Cop auf einen schwarzen Wagen in der Nähe ihres Hauses aufmerksam, den Deana für das Tatfahrzeug hält, und auf den temperamentvollen Koch Nelsen, den Leigh vor kurzem entlassen hat und der ein Rachemotiv haben könnte. Leigh lässt sich auf eine Affäre mit dem attraktiven Mace ein und beginnt bald zu ahnen, dass sich hinter der zuvorkommenden und leidenschaftlichen Art ihres Liebhabers mehr verbirgt.
Vor allem Deana kommt der Mann mehr als unheimlich vor.
„Er wirkte benommen, aber seine Augen hatten immer noch diesen wilden Blick, und sein Mund stand auch immer noch offen, als wäre er in Trance. Seine Augenbrauen und die Oberlippe glänzten vor Schweiß.
Mein Gott. Der Kerl sieht echt merkwürdig aus. Was ist mit ihm los?
Mit dem Reden scheint er auch Probleme zu haben. Er musste ewig herumsuchen, bevor er die richtigen Worte fand. Ganz anders als der Mace, den sie bisher kennengelernt hatte.“ (S. 388f.) 
In der Literaturkritik wird Laymons umfangreiches Werk zurecht in übernatürlichen Horror und natürlicher Horror eingeteilt, wobei der 2001 nach einem Herzinfarkt verstorbene Autor gerade in letzterer Kategorie seine eindrucksvollsten Arbeiten präsentierte. Die Zerstörung familiärer Werte und der Sicherheit, die amerikanische Bürger gerade in adretten Vorstadtsiedlungen empfinden, durch den vermeintlich netten Nachbarn thematisiert Laymon auf kompromisslos unbarmherzige Weise, schildert das Foltern und Morden bar jeder inneren Zensur.
Für diese Art von Horror bildet der 2009 posthum erschienene Roman „The Lake“, der durch Heyne Hardcore nun in deutscher Erstveröffentlichung unter dem Titel „Das Ufer“ veröffentlicht wurde, ein Paradebeispiel. Dabei wirkt ein Unfall, der sich vor gut zwei Jahrzehnten an einem idyllischen See ereignet hat, bis in die Gegenwart nach, wobei das weitere familiäre Umfeld zu den damaligen Geschehnissen erst nach und nach ans Tageslicht tritt.
Nach anfänglich etwas wirrer Einführung der beiden Zeitebenen, in denen sich die Romanabhandlung abspielt, gelingt es Laymon, zumindest die innige Mutter-Tochter-Beziehung in seiner gewohnt schlicht gehaltenen Sprache zu charakterisieren. Auch die Beteiligung weiterer Figuren an der nachfolgenden Handlung führt der Autor geschickt aus, wobei er bis zum Ende geschickt offenlässt, wer sich außer dem mutmaßlichen Täter eventuell noch auf der bösen Seite befinden könnte.
Allerdings sind – auch das typisch Laymon – die Charaktere erschreckend flach gezeichnet und zudem scheinbar nur von unerfüllt starkem Paarungstrieb gesteuert. Dabei muss der Leser immer mal über unlogische und auch etwas zähe Handlungsabläufe sowie unschlüssige Figurenkonstellationen hinwegsehen, wird aber für psychologisch geschickt konstruierten Psychohorror mit dem vertrauten Sex- und Gewalt-Mix belohnt, für den Laymon bei seinen Fans so beliebt ist. Dieses Spätwerk des amerikanischen Horror-Meisters zählt zwar nicht zu den besten seiner Arbeiten, bietet aber unterhaltsamen Genre-Stoff, der durch ein kommentiertes Werkverzeichnis von Richard Laymon der im Wilhelm Heyne veröffentlichten Titel ergänzt wird.
Leseprobe Richard Laymon - "Das Ufer"

Donal Ryan – „Die Gesichter der Wahrheit“

Dienstag, 4. Oktober 2016

(Diogenes, 245 S., HC)
Vor zwei Monaten hat der Bauunterunternehmer Pokey Burke in einer irischen Kleinstadt seine Angestellten entlassen und ist über alle Berge getürmt, ohne die Sozialleistungen für seine Leute abgeführt zu haben. Entsprechend mies ist die Stimmung in der Bevölkerung, die auf unfertigen Häusern und unbezahlten Rechnungen sitzt. Um den Frust abzubauen, beschäftigt sich das Meer der Arbeitslosen und unzufriedenen Frauen mit sich selbst, vornehmlich aber mit seinen Nachbarn.
Da werden Affären gesponnen, Missgunst geerntet und Hass gesät. Am Ende wird der gewalttätige Vater von Burkes ehemaligen Vorarbeiter Bobby Mahon tot aufgefunden und sein Sohn mit dem blutigen Holzscheit in der Hand als sein Mörder ausgemacht.
„O Herr, segne und behüte uns, ist es nicht eine Gottschande, dass innerhalb weniger Tage Kinder geraubt und gute Männer in ihrer eigenen Küche totgeschlagen werden und Vergewaltiger freikommen? Und jetzt ist auch noch die Rede davon, dass die Renten gekürzt werden sollen! Ist es nicht eine Beleidigung für Gottes Augen, dass er zusehen muss, wie Menschen ohne Schutz bleiben vor Elend und vor Wahnsinnigen? Was ist überhaupt aus unserem Land geworden?“ (S. 206f.) 
In seinem 2012 erschienenen und nun durch Diogenes in deutscher Übersetzung veröffentlichten Episodenroman „Die Gesichter der Wahrheit“ lässt der aus dem Süden Irlands stammende Bauingenieur, Jurist und Autor in 21 Kapiteln jeweils ausgesuchte Personen in der nicht näher benannten irischen Kleinstadt die Ereignisse rekapitulieren, die seit der Pleite des Bauunternehmers für Unruhe gesorgt hat.
Dabei werden nicht nur allein die wirtschaftlichen Sorgen einzelner Familien thematisiert, sondern vor allem der Blick vom eigenen Elend weg hin zum vermeintlich verabscheuungswürdigen Verhalten der Nachbarn. Munter werden hier Affären ausgeschmückt, Mitbürger diffamiert, sexuelle Gelüste und Frustrationen ersonnen.
Zwar gelingt es Ryan mit seinem Zweitwerk, die vielfältigen Stimmungen in der Kleinstadt einzufangen und durch die jeweiligen Ich-Erzählungen die Atmosphäre aus Neid, Verzweiflung, Hoffnung, Hass und Begehren facettenreich zu beschreiben, aber durch die lockere Aneinanderreihung der kurzen Kapitel kann der Leser stets nur von außen auf die einseitigen Monologe schauen und sich nie wirklich mit einzelnen Figuren identifizieren.
Durch die Kapitel werden die Puzzleteile des wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Niedergangs in der Kleinstadt zwar nach und nach zusammengesetzt, aber eine dramaturgisch sinnvolle Handlung darf der Leser nicht erwarten. Erst in den letzten Kapiteln kommt der Mord an Bobbys alten Herrn und das Verschwinden des Kindes zur Auflösung.
Sprachlich hat Ryan versucht, jeder Figur eine eigene Stimme zu verleihen, was durchaus Abwechslung in den Roman bringt und für ein großes Maß an Authentizität sorgt, aber wirklich fesseln vermag „Die Gesichter der Wahrheit“ nicht.
 Leseprobe Donal Ryan - "Die Gesichter der Wahrheit"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 14) „Schwarzgeld“

Montag, 3. Oktober 2016

(Diogenes, 365 S., Pb.)
Als Lew Archer, Privatdetektiv aus Los Angeles, sich im Süden des Countys in einem noblen Tennisclub mit dem vielleicht zwanzigjährigen Peter Jamieson trifft, beauftragt der fettleibige, irgendwie vorzeitig gealtert erscheinende junge Mann den Ex-Cop mit der Suche nach Virginia (Ginny) Fablon. Sie sei im Begriff, eine große Dummheit zu begehen, wenn sie sich mit Francis Martel einlässt, einem Mann, der sich als französischer Aristokrat ausgibt. Dabei sei die Hochzeit zwischen Peter und Ginny, die zusammen aufgewachsen sind, für den nächsten Monat angesetzt gewesen.
Tatsächlich forscht Archer zunächst in der Vergangenheit des Mannes, der Peters Verlobten so den Kopf verdreht hat, und erfährt, dass sich Martel offensichtlich unter wechselnden Namen bei verschiedenen Universitäten eingeschrieben und bereits vor sieben Jahren für kurze Zeit als Aushilfe in dem hiesigen Tennisclub gearbeitet hatte. Zu jenem Zeitpunkt ist auch Ginnys Vater im Meer ertrunken, nachdem er seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte und seinen Selbstmord zwei Tage zuvor in Gegenwart seiner Frau und Tochter angekündigt hatte.
Archer beginnt im Laufe seiner Ermittlungen aber zunehmend daran zu zweifeln, dass es sich bei diesem Unglücksfall um Selbstmord handelte. Die Spur führt Archer schließlich nach Las Vegas, wo Martel scheinbar eine Menge Schwarzgeld abgezweigt hatte und somit auch weitere Interessenten auf sich aufmerksam machte, so zum Beispiel den mittellosen Fotografen Harry Hendricks und seine betörende wie frustrierte Frau Kitty, die hinter Martels Geld her sind.
„Und dann kam mir der Gedanke, dass Ginny und Kitty, zwei Mädchen aus völlig unterschiedlichen Gegenden der Stadt, letztlich eine Menge gemeinsam hatten. Keine von beiden hatte das Missgeschick der Schönheit unbeschadet überstanden. Es hatte sie zu leblosen Wesen gemacht, Zombies in einer toten, öden Welt, ebenso schmerzlich anzusehen wie eine sinnlose Kreuzigung.“ (S. 309) 
Auch wenn Ross Macdonald (1915 - 1983) hierzulande noch nicht so einen großen Namen besitzt wie seine berühmten Kollegen Raymond Chandler und Dashiell Hammett, sorgt der Diogenes Verlag seit einer Weile mit wundervollen Neuübersetzungen seines Werks dafür, dass der Gewinner des Silver (1964) und des Gold Dagger Award (1965) auch zunehmend deutschsprachige Leser erreicht.
Mit dem sympathischen Privatdetektiv Lew Archer hat Macdonald nämlich eine echte Kultfigur erschaffen, die – wie Donna Leon in ihrem Nachwort erwähnt – „das eigene Handeln nicht weniger als das Verhalten anderer nach moralischen Kriterien bewertet“.
Archer nähert sich seinen Fällen ganz unvoreingenommen, verurteilt niemanden, empfindet Mitleid und sorgt sich vor allem um die Frauen, mit denen er es zu tun bekommt, ohne sich auf Affären mit ihnen einzulassen.
„Schwarzgeld“ ist ein klassischer Kriminalroman, bei dem es zunächst anscheinend nur um das Auffinden einer Person geht, bevor vergangene Ereignisse und in den Fall involvierte Personen in einem anderen Licht erscheinen und weitere Morde aufzuklären sind. Wie viele seiner bereits verfilmten Romane (u.a. als „Familiengeheimnisse“, „Killer aus dem Dunkel“ und „Eine Frau für alle Fälle“ sowie die sechsteilige Fernsehserie „Archer“) liest sich auch „Schwarzgeld“ wie ein Drehbuch zu einem Film. Die Handlung wird vor allem durch die überaus lebendigen Dialoge vorangetrieben. Archer ermittelt durch unzählige Gespräche, die er mit Beteiligten und möglichen Zeugen führt und durch die er sehr schnell herausfindet, mit welchem Typus von Mensch er es zu tun hat. Archers Schlussfolgerungen und Beschreibungen sind dabei in brillant präziser Prosa verfasst, ohne überflüssige Worte, dafür voller schöner Vergleiche, die das Lesen einfach zu einem durchgängigen Vergnügen machen.
 Leseprobe Ross Macdonald - "Schwarzgeld"

Irvine Welsh – „Ein ordentlicher Ritt“

Samstag, 1. Oktober 2016

(Heyne, 448 S., Pb.)
Terry „Juice“ Lawson zählt sicher nicht zu den charmantesten Taxifahrern in Edinburgh. Die anhaltenden Straßenbahnarbeiten nimmt er gern als Ausrede, um mit seinen ahnungslosen Kunden unerhört weite Umwege zu fahren, seine männlichen Kunden schwallt er erbarmungslos in der Hoffnung auf ein sattes Trinkgeld zu, während sich weibliche Kundschaft oft genug mit dem Fahrer zusammen auf dem Rücksitz wiederfindet. Als gelegentlicher Pornodarsteller ist es Terry schließlich gewohnt, sich jedes ihm bietende Loch zu stopfen.
Etwas Abwechslung in seinen Alltag bringt der amerikanische Fernsehstar und einflussreiche Baumagnat Ronald Checker, der Geschäftliches in Schottland zu erledigen hat und Terry gern als Stammfahrer engagieren möchte. Allerdings muss er auch für den Puffbesitzer Victor „die Schwuchtel“ Syme ein Auge auf dessen Schuppen werfen, in dem Kelvin nicht gerade pfleglich mit den Mädchen umgeht.
Unter ihnen zählt vor allem Jinty, die Freundin von Terrys nicht ganz so hellen, aber umso besser bestückten Stiefbruders Jonty, zur besseren Ware. Doch nach einer Hurrikanwarnung für Schottlands Ostküste und einem Zwischenfall im Pub With No Name verschwindet Jinty spurlos. Und Terry muss auf die Schnelle Golf spielen lernen, weil Terry mit einem dänischen Investor um eine seltene Whisky-Flasche ein Doppel angesetzt hat, und sich um seine zwei unehelichen Söhne kümmern. Daneben muss aber eben auch immer Zeit für einen ordentlichen Fick sein.
„Nix gegen einen Fick auf der Rückbank vom Taxi, doch ne schöne Luxussuite is natürlich unschlagbar. Eins habe ich über die Jahre gelernt: Wenn das Schicksal dich wien Pferd bestückt hat, dann musste das verdammt noch mal auch ausnutzen. Und wenns dich außerdem mit ner Zunge so lang wien Schal von Doctor Who beschenkt hat, dann sollteste auch die einsetzen.“ (S. 111) 
Als Autor des erfolgreich von Danny Boyle verfilmten Romans „Trainspotting“ ist der in Schottland geborene und mittlerweile in Chicago lebende Irvine Welsh weltberühmt geworden und hat sich seitdem mit Romanen wie „Drecksau“ und „Porno“ als lautstarke Stimme der Undergroundliteratur etabliert.
Mit „Ein ordentlicher Ritt“ beweist Welsh einmal mehr, dass er ein unnachahmliches Gespür für ausgefallene, um nicht zu sagen eigentlich unsympathische Figuren besitzt, die er jeweils überwiegend als Ich-Erzähler auftreten lässt und dabei auch ihren zunächst gewöhnungsbedürftigen Sprachduktus übernimmt. Besonders interessant gestaltet sich die ungewöhnliche Kombination des ständig herumvögelnden Taxifahrers, Pornodarstellers und Kleinkriminellen Terry Juice und dem selbstgefälligen Ami-Promi, die zu besseren Freunden werden, als man zunächst annehmen dürfte. Die Story entwickelt sich dabei so rasend schnell wie ein wilder Ritt mit Terrys Taxi durch Edinburgh und bringt eine ganze Handvoll interessanter Charaktere zutage, so den ebenfalls als Ich-Erzähler auftretenden Jonty, der als Maler sein Geld verdient und naiverweise davon ausgeht, dass seine hübsche Freundin Jinty als Putzfrau ihren Teil zum gemeinsamen Lebensunterhalt beisteuert.
Wie der Autor den ungewöhnlichen Hurrikan, Terrys Umgang mit seinen familiären Verhältnissen und den unzähligen Frauen in seinem Leben, die Tücken der Jagd nach der begehrten Whisky-Flasche und die Ermittlungen im Fall der verschwundenen Jinty miteinander verknüpft, ist schon virtuos und extrem unterhaltsam, aber eben nichts für zartbesaitete Gemüter.
Wer sich nicht an den ausufernden Sex-Episoden und dem rohen Sprachstil stört, wird mit einem mehr als nur ordentlichen Ritt belohnt.
 Leseprobe Irvine Welsh - "Ein ordentlicher Ritt"