James Lee Burke – (Billy Bob Holland: 3) „Die Glut des Zorns“

Dienstag, 2. August 2016

(Edel:eBooks, 383 S., eBook)
Der ehemalige Texas Ranger und Bundesstaatsanwalt Billy Bob Holland, der in Deaf Smith, Texas, eine kleine Anwaltspraxis unterhält, nimmt die schon vor langer Zeit ausgesprochene Einladung seines Schulfreundes Tobin Voss an und besucht ihn auf unbestimmte Zeit auf dessen Farm im Bitterroot Valley in Montana. Seit Voss bei der Navy gewesen, einer fundamentalistischen Sekte beigetreten, nach Mexiko gegangen ist und sein Medizinstudium absolviert und ein Mädchen aus Montana geheiratet hat, das vor fünf Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, zieht es den Doc immer häufiger auf die Ranch in Montana, wo er sich nun mit seiner siebzehnjährigen Tochter Maisey aufhält.
Billy Bob erfährt, dass vergangene Nacht jemand auf ihr Haus geschossen habe, wahrscheinlich Typen von der Miliz. Kaum wird ein Mann namens Wyatt Dixon aus dem Bezirksgefängnis entlassen, wo er einen Notizzettel mit einem halben Dutzend Namen hinterließ, darunter den von Billy Bob Holland, wird Maisey von drei jungen Männern vergewaltigt. Wenig später wird nicht nur deren vermeintlicher Anführer Lamar Ellison ermordet aufgefunden, sondern auch seine beiden Mitstreiter.
Der Doc gerät ziemlich schnell ins Visier des Sheriffs, und als Holland auf eigene Faust zu ermitteln beginnt, hat er es nicht nur persönlich mit Wyatt Dixon und seinem jungen Begleiter Terry Witherspoon zu tun, sondern macht auch die Bekanntschaft des exzentrischen Schriftstellers Xavier Girard und seiner Frau, der Schauspielerin Holly Girard, sowie des Milizanführers Carl Hinkel und des Gangsters Nicki Molinari. Er lässt sich mit der Ärztin Cleo Lonnigan ein und bekommt unerwartet Besuch von seinem Sohn Lucas und der Privatdetektivin Temple Carrol, zu der sich Holland sehr hingezogen fühlt.
Zu guter Letzt ist die Bundesbehörde ATF mit ihm Spiel, die die Indianerin Sue Lynn als Informantin einsetzt, um herauszufinden, wer für das Attentat im Alfred P. Murrah Building verantwortlich gewesen ist, bei dem etliche ATF-Agenten den Tod gefunden hatten. Der Umgang zwischen all diesen zwielichtigen Gestalten ist von Hass und Gewalt geprägt, und der texanische Anwalt mischt hier munter mit.
Wann immer Billy Bob seine Gewalt nicht zügeln kann und von Gewissensbissen geplagt wird, erscheint ihm der Geist seines Freundes und Texas-Rangers-Kollegen L. Q. Navarro, den er damals bei einem unbefugten Ausritt versehentlich erschossen hatte …
„Das Gesetz hatte in Maiseys Fall versagt; es hatte gegenüber Doc versagt und in gewisser Weise auch bei Sue Lynn Big Medicine. Manchmal musste man die Würfel zinken, sonst wurde man von dem Bösen verzehrt, das die Gesellschaft oder die Regierung aus welchem Grund auch immer dulden.“ (Pos. 5499). 
Neben seiner äußerst populären, mittlerweile zwanzig Bände umfassenden Reihe um den New-Iberia-Detective Dave Robicheaux zählt auch James Lee Burkes Zyklus um den texanischen Anwalt Billy Bob Holland zu den lesenswertesten Glanzlichtern amerikanischer Kriminalliteratur. Im Gegensatz zur Robicheaux-Reihe, bei der allein die Titelfigur als Ich-Erzähler fungiert, werden bei „Die Glut des Zorns“ auch andere Erzählperspektiven zugelassen und beleben so interessante Nebenschauplätze. Ähnlich wie in den Robicheaux-Büchern tummeln sich auch hier eine Vielzahl von schillernden, teils exzentrischen Figuren, und ähnlich wie Billy Bob Holland tappt auch der Leser lange Zeit im Dunkeln, welche Absichten die jeweiligen Persönlichkeiten eigentlich verfolgen.
Burke erweist sich als Meister der interessanten Figurenzeichnung und der pointierten Dialoge, kreiert eine stets brodelnde Atmosphäre aus Schweiß, Blut, Alkohol und Gewalt, streut aber auch immer wieder intime Momente und schöne Landschaftsbeschreibungen ein. Vor allem ist der dritte Billy-Bob-Holland-Band aber eine spannende Tour de Force vor der trügerisch idyllischen Kulisse Montanas.
 Leseprobe James Lee Burke - "Die Glut des Zorns"

Adam Davies – „Froschkönig“

Freitag, 22. Juli 2016

(Diogenes, 384 S., HC)
Statt in die Anwaltskanzlei seines Vaters in Connecticut einzutreten, zieht es Harry Driscoll nach seinem Abschluss an einer Eliteuniversität nach New York, wo er im Verlag Prestige als Assistent im Lektorat strandet. Da seine ihm anvertrauten Projekte wie der „Kalender und Jahrbuch für Marathonläufer“ regelmäßig im Verzug ist, weshalb er bei seinem Chef Andrew Nadler regelmäßig vorsprechen muss. Wie viele seiner oft hochqualifizierten Kollegen sehnt sich Harry nach einer kaum realisierbaren Beförderung zum Lektor und davon, ein eigenes Buch zu schreiben und zu veröffentlichen.
Um mit seinem kümmerlichen Gehalt überhaupt über die Runden zu kommen, hat er sich als illegaler Untermieter in Alphabet City, einem der heruntergekommensten Viertel Manhattans, bei einem Freund eingenistet, der seine Werbejingles ohne Kopfhörer komponiert. Und da er sich keine Bücher leisten kann, hat Harry angefangen, im Wörterbuch zu lesen und sich ungewöhnliche Begriffe zu merken.
Den einzigen Lichtblick in seinem Leben bildet die auch bei Prestige arbeitende Evie Goddard, mit der der Sechsundzwanzigjährige eine leidenschaftliche, auch auf die Liebe zu Buchstaben und Wörtern basierende Beziehung unterhält. Doch weil er die an einer schweren Unterleibserkrankung leidenden Evie nicht sagen kann, dass er sie liebt und zudem eine Affäre mit Judith Krugman unterhält, die bereits ihr eigenes Imprint-Label im Verlag besitzt und durch die er eine bessere Position im Verlagswesen zu ergattern hofft, setzt Harry diese einzigartige Beziehung aufs Spiel.
„Wie habe ich mich verändert? Wie konnte aus so einem Menschen jemand werden, der das einzige existierende Exemplar eines wichtigen Manuskripts verliert, der in eine verachtenswerte Affäre mit einer Frau verwickelt ist, die ihm nichts bedeutet, während die Frau, die er liebt, allein und leidend dahockt und darauf wartet, dass er nach Hause kommt und mit ihr die Kanonenkugel macht?“ (S. 263) 
Mit seinem 2002 veröffentlichten Debütroman „Froschkönig“ ist dem amerikanischen Autor Adam Davies („Goodbye, Lemon“) ein Liebesroman gelungen, der wie sein Ich-Erzähler eigentlich jedes Klischee zu vermeiden sucht, dabei aber selbst nicht ohne auskommt. Allein die Tatsache, dass Harry seine große Liebe durch eine Affäre riskiert, ist fraglos eines der größten Klischees des Genres. Doch Davies gelingt es nicht nur, seinen an sich durch und durch unsympathischen wie unfähigen Protagonisten ansatzweise liebenswürdig und bedauernswert erscheinen zu lassen, sondern auch der im Fokus seiner Geschichte stehenden Love Story einzigartige Aspekte zu verleihen. Das beginnt bei skurrilen Details wie den Fruchtfliegen unter Harrys Bett, setzt sich bei der maßlosen Unfähigkeit in seinem Job fort und gipfelt in seinen verzweifelten Versuchen, es zu Höherem in der Verlagsbranche zu bringen.
Doch bei allem durchaus schwarzen Humor versteht es der Autor, seine Figur eine Läuterung durchmachen zu lassen, die fraglos erstrebenswert, aber nicht unbedingt glaubwürdig ist. Nichtsdestotrotz bietet „Froschkönig“ eine erfrischend andere Liebesgeschichte mit herrlich unkonventionellen Figuren und humorvollen Einblicken in die Verlagsszene.

Daniel Woodrell – „Tomatenrot“

Donnerstag, 21. Juli 2016

(Liebeskind, 222 S., HC)
In dem kleinen Kaff West Table in Missouri zählt der junge Sammy Barlach zum Bodensatz der Gesellschaft. Er jobbt in einer Hundefutterfabrik und versetzt am Freitag seinen Lohn für Alkohol und Drogen, um sich im Laufe des Wochenendes mit irgendwelchen Mädchen abzugeben. Um aus seinem elendigen Leben mehr zu machen, bricht er in von Urlaubern verlassene Villen ein, die ihm noch bewusster machen, dass er ein Versager ist. Bei einem dieser Brüche stößt er auf die neunzehnjährige Jamalee mit ihren kurzen tomatenroten Haaren und ihren etwas jüngeren, hübschen Bruder Jason, bei dem die Frauen in dem Friseursalon, wo er seine Lehre macht, schon immer Schlange stehen. Sammy kommt bei den beiden unter und lernt dabei deren Mutter Bev kennen, die als Escortdame und Polizeispitzel ihr Geld verdient.
Sammy lässt sich auf eine Affäre mit der Frau ein, mag aber auch Jamalee, die nur davon träumt, aus dem miesen Viertel Venus Holler herauszukommen und etwas Großes aus ihrem Leben zu machen. Doch als ihr Bruder Jason tot in einem Teich gefischt wird, scheinen sich die Abgründe ihres Lebens nur noch zu vertiefen.
Um an den Autopsiebericht zu kommen, den der ortsansässige Automechaniker Abbott Dell verfasst hat, setzt Bev ihre legendären Reize ein, doch durch ihre Aktion bringen sie nur den Sheriff und die Mächtigen auf den Plan, die Jasons Tod nur unter den Teppich kehren wollen, um sich wieder ihrem Alltag widmen zu können. Doch so leicht lassen sich Bev, Jam und Sammy nicht einschüchtern …
„So ein Angst einflößendes Gesicht ist alles, was Leute wie ich in dieser anderen Welt vorzuzeigen haben, dieser Welt, die unsere beherrscht, das Einzige, was dort noch ein wenig Autorität vermittelt und irgendwelchen zögerlichen Respekt einheimst. Wenn wir niedrigen Elementen nicht Zähne zeigen und schnell zubeißen, dann sind wir nur weicher, lehmiger Dreck, über den alle jederzeit hinwegtrampeln können, und das würden die auch tun, denn selbst wenn wir Zähne zeigen, ist da schon ein ausgetretener Trampelpfad quer durch unseren Verstand und über unsere Rücken.“ (S. 118) 
Es ist ein tristes Bild, das der aus St. Louis und Kansas City stammende Bestseller-Autor Daniel Woodrell („Winters Knochen“) in seinem bereits 1998 veröffentlichten und ein Jahr später mit dem Preis des amerikanischen P.E.N. ausgezeichneten Romans „Tomatenrot“ zeichnet. Seine zumeist jugendlichen Protagonisten leben am Rand der Gesellschaft und sich voll und schmerzlich bewusst, dass es ihnen nicht vorbestimmt ist, allein durch harte Arbeit zu Ansehen und Wohlstand zu kommen. Stattdessen versinken sie weiter im Sumpf aus Drogen, Sex, Gewalt und Verbrechen.
Allein Jason hätte durch sein blendendes Aussehen etwas aus sich machen können, doch als er feststellt, dass er mit Frauen nichts anfangen kann, und seine Homosexualität entdeckt, ist er schon dem Untergang geweiht.
Vor allem Woodrells Ich-Erzähler Sammy analysiert die trostlose Situation immer wieder mit treffenden Worten und Vergleichen, doch ein Ausweg bleibt ihm ebenso verwehrt wie seinen Freunden, die für ihn für eine kurze Zeit wie eine Familie sind.
„Tomatenrot“ bildet nur eine kurze Episode aus dem unsteten Leben eines gesellschaftlichen Außenseiters, der sich seines Schicksals schmerzhaft bewusst ist und trotzdem verzweifelt versucht, mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, sein Gesicht in einer Welt zu wahren, die nur Verachtung für ihn übrig hat.
 Leseprobe Daniel Woodrell - "Tomatenrot"

Lee Child – (Jack Reacher: 18) „Die Gejagten“

Dienstag, 12. Juli 2016

(Blanvalet, 448 S., HC)
Nach seiner aktiven Zeit als Militärpolizist beim 110th MP Special Unit hat Jack Reacher keinen festen Job mehr gehabt und reist meist per Anhalter durch die Staaten und übernachtet in schäbigen Motels. Als er in Nordostecke von Virginia an einem weiteren Motel abgesetzt wird, bekommt er umgehend Besuch von zwei Männern, die ihm den Rat geben, möglichst schnell zu verduften, um einem Kriegsgerichtsverfahren aus dem Weg zu gehen. Doch Reacher lässt sich nicht einschüchtern. Schließlich hat er den langen Weg von South Dakota nach Virginia auf sich genommen, um Major Susan Turner persönlich kennenzulernen, nachdem er ihre Stimme am Telefon als sympathisch und interessant empfunden hatte.
Doch als er seine alte Dienststelle aufsucht, der nun Turner als Kommandeur vorsteht, wird er von Colonel Morgan in Empfang genommen, der ihm mitteilt, dass Major Turner im Militärgefängnis sitzt und er selbst wegen Mordes an dem Kleinkriminellen Juan Rodriguez alias Big Dog angeklagt ist und sich mit dem Umstand anfreunden muss, vor vierzehn Jahren mit Candice Dayton eine Tochter gezeugt zu haben. Und als hätte Reacher nun nicht schon genug Probleme am Hals, wird er nach Buch zehn des United States Code wieder in den Militärdienst einberufen.
Reacher nimmt die Dinge wie gewohnt selbst in die Hand, befreit Turner aus dem Gefängnis und begibt sich mit ihr per Bus und Anhalter auf die Flucht, bis sie den Spieß umzudrehen beginnen und herauszufinden versuchen, wer ein Interesse daran hat, Turner und Reacher aus dem Verkehr zu ziehen. Offensichtlich hängt die Jagd auf Reacher und Turner mit Vorfällen in Afghanistan zusammen, wo Turner gerade zwei ihrer Leute verloren hat. Und Reacher hat auch schon eine Idee, was für Leute hinter der ganzen Sache stecken:
„Sie sind sehr korrekte Leute mit einer Betrugsmasche, die ihnen Unmengen von Geld einbringt. Sie sind bereit, achttausend Meilen entfernt in Afghanistan Straftaten bis hin zum Mord verüben zu lassen, aber daheim vor ihrer Haustür soll alles sauber und ordentlich ablaufen. Sie sind Duzfreunde von Offshore-Bankern, können finanzielle Arrangements in einer Stunde statt in einer Woche treffen, verstehen sich darauf, alte Personalakten jeder Teilstreitkraft zu durchsuchen und zu manipulieren, und haben einen effektiven Schlägertrupp, der ihnen den Rücken freihält. Ich gehe jede Wette ein, dass sie hohe Stabsoffiziere in D.C. sind.“ (S. 173) 
Seit Lee Child 1997 mit seinem Debütroman „Größenwahn“ seinen unorthodoxen Protagonisten Jack Reacher eingeführt hat, sind seine Thriller um den ehemaligen Kommandeur einer Spezialeinheit der Militärpolizei, der seit seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst keinem geregelten Job mehr nachgeht, zunehmend erfolgreicher geworden, bis 2012 folgerichtig Band 9 der Reihe – „Sniper“ – mit Tom Cruise in der Hauptrolle unter dem Titel „Jack Reacher“ fürs Kino adaptiert worden ist.
Weitere neun Bände später wird im November 2016 auch Band 18 – „Die Gejagten“ – als Sequel in die Kinos kommen. Da die einzelnen Jack-Reacher-Bände nicht zwingend aufeinander aufbauen und für sich abgeschlossene Fälle thematisieren, ist dies auch gar nicht problematisch. Im Prinzip ist jeder Jack-Reacher-Thriller filmreif, denn Lee Child hat mit dem großen Kraftpaket, der über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn verfügt, eine überaus charismatische Figur geschaffen, der nie aufgibt und sehr analytisch zum Ziel gelangt. Mit diesen Eigenschaften befreit er eben auch die zu Unrecht inhaftierte Susan Turner aus dem Militärgefängnis und macht sich mit ihr auf die Suche nach den Drahtziehern des Komplotts, mit dem die beiden hochrangigen (Ex-)Kommandeure aus dem Verkehr gezogen werden soll. Gerade die Actionszenen sind bereits drehbuchreif geschrieben, die obligatorische Liebes-Beziehung zwischen Reacher und Turner ebenso, aber auch das Katz- und Maus-Spiel zwischen den als Romeo und Julia bezeichneten Auftraggebern, ihrem Aufräumtrupp und den beiden Angeklagten ist temporeich und spannend inszeniert.
Allein bei der Charakterisierung von Reachers mutmaßlicher Tochter schießt Child etwas über das Ziel hinaus. Davon abgesehen bietet „Die Gejagten“ geradlinige Action mit coolen Figuren, die kurzweiligen Lesegenuss garantieren und auf die Verfilmung neugierig machen.
 Leseprobe Lee Child "Die Gejagten"

Donald Ray Pollock – „Die himmlische Tafel“

Freitag, 8. Juli 2016

(Liebeskind, 431 S., HC)
An der Grenze zwischen Georgia und Alabama fristen der Farmer Pearl Jewett und seine drei Söhne Cane, Cob und Chimney ein trostloses Dasein, das ihnen, so das gläubige Familienoberhaupt, im Jenseits mit einem Platz an der himmlischen Tafel vergolten werde. Zu den wenigen erbaulichen Momenten im Leben der Jewett-Söhne zählen die Stunden, in denen Cane, mit dreiundzwanzig Jahren der älteste und bestaussehende Sohn, seinen jüngeren Brüdern aus dem Groschenroman „Das Leben von Bloody Bill Bucket“ vorliest, in dem die kriminellen Machenschaften eines ehemaligen Soldaten der Konföderierten verherrlicht werden.
Als ihr Vater nach all den selbsterwählten Entbehrungen ausgezehrt stirbt, haben die drei Brüder wenig Interesse, das heruntergewirtschaftete Farmland zu bestellen, und machen sich auf den Weg, ihrem Idol Bloody Bill Bucket nachzueifern, der als Bankräuber für Angst und Schrecken gesorgt hatte. Ihr Plan sieht vor, drei Pferde von Major Tardweller zu stehlen, eine Bank um tausend Dollar zu erleichtern und weiter nach Kanada zu ziehen. Nachdem ausgerechnet Cob, der jüngste und beschränkteste Jewett-Spross, Tardweller erschießen muss und die Jewetts-Brüder die ersten Banken überfallen haben, werden auf ihre Köpfe zunehmend höhere Belohnungen ausgesetzt.
Davon weiß Ellworth Fiddler, Farmer im Süden Ohios, nichts, als die drei jungen Männer großzügig für Kost und Logis bezahlen. Für Ellsworth, der durch einen Trickbetrüger all seine Ersparnisse verloren hat und mit seiner Frau Eula noch die Tatsache verarbeiten muss, dass ihr Sohn Eddie wahrscheinlich freiwillig in den Krieg gegen die Deutschen gezogen ist, scheint sich nun das Blatt endlich zum Guten zu wenden, aber der Traum von einem besseren Leben scheint für die Jewetts in immer weitere Ferne zu rücken. Allein Cane scheint zu begreifen, dass sie einem falschen Versprechen hinterherlaufen.
„Er hatte zwar immer gewusst, dass es sich um eine haarsträubende Geschichte handelte, die von jemandem (und vielleicht war Charles Foster Winthrop III. gar nicht sein richtiger Name) aufgeschrieben worden war, der womöglich nicht mehr über das Töten und Bankraub wusste als eine alte Jungfer, die ihr ganzes Leben in einem Zimmer im Haus ihres Vaters verbracht hatte, aber es hatte ihnen Hoffnung geschenkt, wenn es eigentlich keine mehr gab, etwas, wonach man streben konnte, das größer war als das Leben, das sie geführt hatten, selbst wenn es verrückt war zu glauben, dass sie jemals damit durchkommen würden. Wo wären sie jetzt, wenn sie das Buch niemals in dieser vergammelten Reisetasche gefunden hätten?“ (S. 202) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Donald Ray Pollock hat erst im reifen Alter von 45 Jahren seine erste Geschichte veröffentlicht und 2008 mit dem nach seiner Heimatstadt Knockemstiff, Ohio, benannten Kurzgeschichtensammlung international für Aufsehen gesorgt. Drei Jahre später erschien sein Debütroman „Das Handwerk des Teufels“, ein abgründiger Roman um Korruption, religiösen Fanatismus und die verlogene Hoffnung auf Erlösung. Mit diesen Themen beseelt Pollock auch seinen neuen Roman „Die himmlische Tafel“.
Im Mittelpunkt dieses wieder sehr abgründigen Romans stehen zwar vor allem die sehr unterschiedlichen Jewetts-Brüder, die die in einem Groschenroman erzählten Abenteuer eines Gesetzlosen als Inspiration für ihr eigenes Schicksal annehmen, aber Pollock stellt in seinem atmosphärisch dichten, psychologisch tiefgründigen wie schnörkellos geschriebenen Werk auch andere interessante Figuren vor.
Da ist vor allem das Fiddler-Ehepaar, das einem Betrüger auf dem Leim gegangen ist und für das nach dem plötzlichen Verschwinden ihres einzigen Sohnes Cob Jewett eine Art Ersatzsohn wird. Außerdem hat der junge Lieutenant Vincent Bovard nicht nur damit zu kämpfen, dass er von einer Horde Ungebildeter umgeben ist, sondern auch seine homosexuellen Neigungen nicht ausleben kann. Und schließlich wird noch das kleinstädtische Treiben in Meade aus der Sicht des Sanitärinspekteurs Jasper Cone beschrieben, wobei vor allem Einblicke in die häufig auch von Soldaten frequentierte Hurenscheune gewährt werden.
Pollock erweist sich einmal mehr als begnadeter Erzähler, der die Sorgen, Nöte, Träume und Hoffnungen seiner Figuren in einer kompromisslos klaren Sprache beschreibt und ihre zunächst lose aneinandergereihten Schicksale nach und nach geschickt miteinander verzahnt. Auch wenn die wachsende Fangemeinde des spät zum Schreiben berufenen Pollock stets drei, vier Jahre auf ein neues Werk des u.a. mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichneten Autors warten muss, wird sie durch die ausgeprägte Klasse seiner Geschichten hundertfach entschädigt.

Anthony McCarten – „Ganz normale Helden“

Sonntag, 3. Juli 2016

(Diogenes, 454 S., HC)
Ein Jahr nach dem Tod ihres jüngsten Kindes Donny liegt die Familie von Renata und Jim Delpy in Trümmern. Da Renata nicht verhindern konnte, ihren geliebten Sohn an den Krebs zu verlieren, versucht sie, jeden der Schritte ihres achtzehnjährigen Sohnes Jeff zu kontrollieren, der daraufhin Reißaus nimmt und sich in die virtuellen Welten von www.lifeoflore.com stürzt, wo er als Mentor und Führer sogenannte Noobs – Neulinge – gegen Bezahlung unter seine Fittiche nimmt. Um seinen Sohn aufzuspüren, begibt sich sein Vater Jim, Gründungs-Partner in der Londoner Kanzlei Delpe, Danby, Roland & Partner, auf für ihn völlig unbekanntes Terrain, erschafft einen eigenen Charakter in dem Spiel und versucht dort, Kontakt zur virtuellen Identität seines Sohnes zu erhalten.
Doch bis dahin ist es ein langer Weg, denn AGI – so Jims Name in dem Online-Rollenspiel, den er sich seiner Steuererklärung (adjusted gross income) entliehen hat – muss erst einige Level abschließen, bevor er in die Sphären vordringen kann, in denen sich Jeff als „Merchant of Menace“ bewegt. Währenddessen chattet Renata in einem Internetforum mit Gott und sucht ebenso Trost wie Rat. Doch während Jim und Renata jeder für sich heimlich online nach ihrem noch lebenden Sohn suchen, verlieren sie zunehmend den Bezug zueinander und verlieren sich in den Verlockungen der virtuellen Welten.
„Aufregend ist es, das muss er zugeben. Kein Wunder, dass Kids stundenlang nicht aus ihrem Zimmer kommen, versunken in die Suche nach Strategien zum Überleben. Dass sie nicht kommen, wenn man sie ruft. Jim versteht nun viel besser, wie schwer es ist, ein solches Spiel mitten in einer Mission zu unterbrechen, gerade wenn es um alles geht, und das nur, um zum Abendessen zu kommen, die Figuren allein in der Gefahr zurücklassen, fast schon Menschen, deren Verschwinden oder Tod man betrauern würde.“ (S. 187) 
Jim findet Gefallen an den Missionen und Kämpfen in LOL, lernt mit Kayla eine aufregende Frau kennen und ist mit sich im Unreinen, ob er mit einer virtuellen Affäre seine Frau betrügen würde. Jim flüchtet aber nicht nur online aus der Krise in der Ehe, er kauft ein sanierungsreifes Landhaus und zieht sich dort immer öfter zurück, um mit dem Bauunternehmer Lance an ihm zu arbeiten. Darunter hat aber nicht nur Jims Arbeit in der Kanzlei zu leiden …
„Ganz normale Helden“ stellt die unmittelbare Fortsetzung des einfühlsamen Romans „Superhelden“ dar, in dem Donald Delpys Kampf gegen den Krebs im Mittelpunkt der Geschichte stand, aber auch die Verwirklichung seines Wunsches, einmal vor seinem Tod mit einer Frau zu schlafen. Um die Verwirklichung von Träumen geht es indirekt auch in der Fortsetzung, in der Donalds und Jeffs Eltern die treibenden Figuren sind. Sie stehen als Eltern eines viel zu früh verstorbenen Sohnes und eines aus dem Elternhaus geflüchteten Achtzehnjährigen vor der großen Herausforderung, ihre Familie an der Trauer nicht zerbrechen zu lassen, ihren noch lebenden Sohn nicht auch noch für immer zu verlieren, aber auch sich selbst nicht zu sehr auseinanderzuleben. McCarten erweist sich einmal mehr als einfühlsamer Erzähler, der seine Figuren verschiedene Stadien der Trauer, Wut, Verzweiflung, Hoffnung, Lust und Flucht durchleben lässt. Vor allem der Eskapismus, den seine Protagonisten betreiben, indem sie in der virtuellen Welt nach Antworten, Hoffnung und Vergebung suchen, ist sehr anschaulich dargestellt. Auch die Durchdringung von virtueller und realer Welt beschreibt McCarten sehr eindringlich, vor allem wenn Jeff seinen Online-Meister Luther im wirklichen Leben kennenlernt und erste homosexuelle Erfahrungen macht.
Dem neuseeländischen Bestseller-Autor („Englischer Harem“) ist mit „Ganz normale Helden“ eine gelungene Fortsetzung seines Meisterwerks „Superhero“ gelungen. Indem er diesmal die Erzählung auf die trauernden, einsamen Eltern fokussiert, fällt sie nicht so humorvoll aus wie der Vorgänger, sondern schildert auf schmerzlich-intensive Weise, wie sich einst Liebende nach einer Tragödie auseinanderleben und ebenso hilf- wie orientierungslos nach Auswegen aus ihrem emotionalen Ausnahmezustand suchen.
 Leseprobe Anthony McCarten - "Ganz normale Helden"

Jack Ketchum – „Jagdtrip“

Sonntag, 26. Juni 2016

(Heyne, 351 S., Tb.)
Seit seiner Zeit in Vietnam ist Lee nicht mehr derselbe. Seine Frau Alma empfindet zunehmend Angst um sich und ihren gemeinsamen fünfjährigen Sohn Lee Jr., weil Lee unter Verfolgungswahn leidet und immer wieder zu plötzlichen Gewaltausbrüchen neigt. Um sich und seine Familie nicht weiter zu gefährden, zieht er sich mit seinem Hund in den Wald zurück, schützt die dort angelegten Marihuana-Pflanzen mit tödlichen Fallen, wie er sie in Vietnam gesehen hat.
Seine Ruhe wird durch einen Trupp Camper gestört, dem der erfolgreiche Schriftsteller Kelsey ebenso angehört wie seine Frau Caroline, seine Geliebte Michelle, sein Agent Alan Walker, sein Freund und weit weniger erfolgreiche Schriftsteller-Kollege Charles Ross und der Fotograf Walter Graham. Mit Zelten, Verpflegung und Gewehren bewaffnet, gehen sie auf die Jagd und werden selbst zu Gejagten, als sie zufällig auf Lees Rauschmittelfeld stoßen.
„Während Lee die Männer beobachtete – durch das Gestrüpp, durch Eschen, die ihm die Sicht nahmen, und durch das Flimmern der Hitze -, verharrte sein Hund mit aufgerichtetem Nackenfell in wachsamer Lauerstellung. Das Sonnenlicht, das durch die Bäume drang, zeichnete Tarnflecken auf ihre Gestalten. Sie waren und sie waren nicht …
Cops, Zivilisten, Soldaten, Vietcong.
Aber wer immer sie waren, sie hatten ihn aufgespürt. Einer von ihnen schoss Fotos. Ein anderer riss einen Zweig ab. Am Ende des Zweiges wuchsen Blätter und Blütenkapseln. Sein Zweig. Seine Blätter. Seine Blütenkapseln. Und damit mischte sich in seine Angst nun auch Ärger.“ (S. 151f.) 
In seinem Vorwort („Was hast du während des Krieges getan, Daddy?“) zu dem ursprünglich 1987 unter dem Titel „Cover“ veröffentlichten Roman „Jagdtrip“, den der Heyne Verlag in seinem Hardcore-Programm nun als deutsche Erstveröffentlichung herausgebracht hat, beschreibt Jack Ketchum ausführlich, wie schwierig es für ihn als Autor, der nicht am Vietnam-Krieg teilgenommen hat, gewesen ist, Erfahrungen von Veteranen glaubwürdig zu schildern, weshalb er viele Bücher zum Thema gelesen, vor allem aber viele Gespräche mit ungewöhnlich erzählfreudigen Veteranen geführt hat. Dadurch ist Ketchum mit „Jagdtrip“ mehr als nur ein konventioneller Horrorroman gelungen, in dem Camper von degenerierten kannibalistischen Waldbewohnern zerstückelt werden, sondern auch eine überraschend tiefgründige Auseinandersetzung mit den Traumata, die viele Soldaten nach ihrer Rückkehr aus Vietnam mit nach Hause brachten.
Vor allem bei Lee hat der Krieg deutliche Spuren hinterlassen, wie seine Erinnerungen an erschütternde Begebenheiten deutlich machen, aber auch sein Kamerad McCann, der den Krieg besser verdaut zu haben scheint und den irgendwann das schlechte Gewissen packt, schildert seine Erlebnisse ebenso wie Kelsey, der seine Erfahrungen auch in seinem Roman „Zweifacher Veteran“ verarbeitet hat.
Besonders einfühlsam ist die wenn auch nur kurz angerissene Beziehung zwischen Lee und seiner Frau beschrieben, die Liebe, aber auch die Angst, die beide miteinander verbindet. Auf der anderen Seite fasziniert die außergewöhnliche Beziehung, die Kelsey zu seiner Frau und seiner Geliebten unterhält.
Ketchum, der bereits so kompromisslose Werke wie „Evil“, „Blutrot“ und „Beutejagd“ abgeliefert hat, lässt sich in „Jadgtrip“ viel Zeit mit der Einführung seiner Figuren, ihren oft traumatischen Erinnerungen und ihren Problemen, und selbst der Jagdausflug beginnt als das Abenteuer, als das es geplant gewesen ist, bevor der Zusammenstoß mit Lee die tragischen Ereignisse erst richtig ins Rollen bringt. Für Horror-Fans, die auch mit Ketchums Werk vertraut sind, mag „Jagdtrip“ vielleicht eine Enttäuschung sein, weil der Roman nicht die billigen Klischees und Mechanismen bedient, die das Genre oft so vorhersehbar machen, aber als psychologisch tiefsinniges Drama überzeugt dieses Frühwerk auf ganzer Linie.
Leseprobe Jack Ketchum - "Jagdtrip"