Clive Barker – „Gyre“

Samstag, 11. Februar 2017

(Heyne, 599 S., Jumbo)
Als der 26-jährige Versicherungsangestellte Calhoun Mooney die ausgebüchste Nummer 33 der etwa vierzig Tauben seines Vaters wieder einfangen will, stürzt er bei einem waghalsigen Einfangmanöver vom Fenstersims eines Hauses in der Rue Street und einem außergewöhnlichen Teppich entgegen, der gerade vom Grundstück getragen wird. In ihm erkennt Cal eine fantastische Welt, die ein immerwährendes Abenteuer verheißt. Doch hinter diesem gewebten Kunstwerk sind auch der 52-jährige zwielichtige Händler Shadwell und die Zauberin Immacolata her, die die verkommene Welt der Menschen wie ihre bösartigen Schwestern als Königreich der Cuckoo bezeichnet. Immaculata hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Volk der Seher zu vernichten, aus dem sie einst verbannt worden ist, die Fuge zu finden und ihr lichtes Herz zu brechen. Sie will mit Shadwell zusammen die Fuge zur Auktion anbieten und die vier in der Fuge lebenden Familien des Volkes der Seher in die Sklaverei verkaufen oder zu einem trostlosen Dasein verdammen.
Die als Seherin begabte Mimi Laschenski hat bis zu ihrem Todestag über die Fuge gewacht, die in dem geheimnisvollen Teppich gewebt ist, und Legenden nach sich zog, in denen Dichtung und Wahrheit nicht mehr auseinandergehalten werden konnten. Nun ist es an ihrer Enkelin Suzanna, die vor der mutwilligen Zerstörung bedrohte Webwelt zu retten.
Zunächst steht ihr dabei Cal zur Seite, der einen wahnsinnigen Dichter als Großvater hatte und deshalb für die Welt der Fuge empfänglich ist. In einem gemeinsamen Traum erscheinen Suzanna und Cal die fünf märchenhaften, verschiedenen Familien der Seher entstammende Gestalten Lilia Pellicia, Frederick Cammell, Apolline Dubois, Jerichau St. Louis und das Baby Nimrod, die dem kleinen Stück des Teppichs entstiegen sind, das sich bei seinem Transport gelöst hat. Nach einem fürchterlichen Tumult, der sich bei der geplanten Auktion des Teppichs entfacht hat, kann Suzanna mit Jerichau und dem Teppich fliehen, doch nun haben sie nicht nur Shadwell und Immacolata im Nacken, sondern auch den bösartig-gierigen Inspektor Hobart.
Shadwell verkleidet sich als Prophet und zettelt mit seinen Gefolgsleuten einen Heiligen Krieg an, um die Fuge unter den Händen derjenigen sterben zu lassen, die ausgezogen sind, um sie zu retten …
„Es war, als hätte seine Maskerade ihm tatsächlich prophetische Gaben verliehen. Er hatte die Webarbeit gefunden, wie er gesagt hatte, und er hatte sie ihren Bewahrern abgenommen; er hatte seine Anhänger ins Herz der Fuge geführt und alle, die sich ihm widersetzt hatten, mit fast übernatürlicher Geschwindigkeit zum Schweigen gebracht. Bei seinem derzeitigen hohen Status gab es keinen anderen Weg nach oben mehr als den zur Göttlichkeit, und das Mittel dazu war von dort sichtbar, wo er stand.“ (S. 359) 
Mitte der 1980er Jahre sorgte der aus Liverpool stammende und in vielerlei künstlerischen Disziplinen beheimatete Clive Barker mit den sechs „Büchern des Blutes“ für eine nachhaltige Revitalisierung des Horror-Genres. Auch wenn viele der – meist leider unterirdischen - Verfilmungen vor allem seiner Kurzgeschichten wie „Underworld“, „Rawhead Rex“ und „Hellraiser“ Barkers hervorragenden Ruf in diesem Genre zementierten, entwickelte sich Barker vor allem als Autor phantastischer Werke weiter und präsentierte nach seinem Debütroman „Spiel des Verderbens“ 1987 sein erstes Epos „Weaveworld“, das hierzulande 1992 unter dem mysteriösen Titel „Gyre“ veröffentlicht worden ist.
Barker erweist sich mit diesem Werk als der wahrscheinlich visionärste Autor seiner Zunft. Scheinbar mühelos entwirft er ganze Welten, die inner- und unterhalb unserer wahrgenommenen Welt existieren und nur eine Fuge von ihr entfernt sind. „Gyre“ ist dabei Schöpfungsgeschichte und Apokalypse in einem, ein von entfesselten Imaginationen geprägtes Fantasy-Werk, das Bezug auf die Evangelien der Bibel aber auch auf die mystischen Traditionen der Welt nimmt und die Kraft von Liebe, Hoffnung und Träumen beschwört. Sein von höchst originellen, kaum mit dem Verstand fassbaren Ideen überquellender Stil regt auf nahezu jeder Seite die Fantasie des Lesers an, dass der Geschichte selbst oft schwer zu folgen ist.
Zwar bleibt das Figuren-Ensemble übersichtlich, doch machen die Charaktere so viele Transformationen durch, dass in jeder Kreatur unzählige weitere zu schlummern scheinen, jede davon so vielgestaltig, dass sie das Vorstellungsvermögen zu sprengen droht. Clive Barker hat in „Gyre“ fraglos seiner eigenen Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt, aber bei aller brillanter Fabulierkunst verliert er doch immer wieder die Dramaturgie seines komplexen Plots aus den Augen, so dass sich der Leser eher in den ausschweifenden Visionen verliert, als von der eigentlichen Geschichte gefesselt zu bleiben.
In späteren Epen wie der „Abarat“-Reihe, „Imagica“ und „Jenseits des Bösen“ ist es Barker besser gelungen, dieses Ungleichgewicht befriedigend zu lösen. Nichtsdestotrotz bietet „Gyre“ einfach eine grandiose Fülle an sprachlichen Zaubereien und fantasievollen Figuren und Settings, dass es eine Wonne ist, Barkers Visionen zu folgen.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 13) „Straße der Gewalt“

Montag, 6. Februar 2017

(Pendragon, 520 S., Pb.)
In der Woche nach Labor Day versucht Dave Robicheaux, Detective der Mordkommission beim Iberia Parish Sheriff’s Department, den Mann zu finden, der vor drei Monaten seinen langjährigen Freund, den nicht ganz unbescholtenen Priester Jimmie Dolan, brutal zusammengeschlagen hat. Die erste Spur führt zu Gunner Ardoin, einem Crystal vertickenden Kleinganoven und Darsteller in einigen Pornos von Fat Sammy Figorelli, doch eine Bundesbeamte namens Clotile Arceneaux macht Robicheaux auf den Blues-Musiker Junior Crudup aufmerksam, der in den 1950er Jahren im Angola-Staatsgefängnis verschwunden ist. Doch bis er durch einen Mitgefangenen über Crudups unrühmlicher Geschichte in Kenntnis gesetzt wird, macht sich weiterhin Gewalt in den Straßen des ansonsten so ruhigen New Iberia breit.
Zunächst wird die minderjährige Tochter von Dr. Parks bei einem Autounfall getötet, nachdem ihr verbotenerweise in einem Daiquiri-Laden von Castille LeJeune Alkohol verkauft worden war. Dann wird der Pächter des besagten Ladens erschossen, die schlampig entsorgte Tatwaffe führt zu einem von LeJeunes Angestellten, Will Guillot.
Und schließlich wird ein Mafioso namens Frank Dellacroce ermordet, für den der Clan Robicheaux verantwortlich macht und der zwei skrupellose Killer auf ihn ansetzt. Unklar ist, wie Merchie und seine Frau Theo Flannigan ins Bild passen, ebenso der berüchtigte IRA-Killer Max Coll.
„Ich hatte meinen Arbeitsplatz mit der Bereitschaft verlassen, Merchie den Tag zu versauen, und nun hatte ich es geschafft, ihn in meinem Kopf mit seinem Schwiegervater in Verbindung zu bringen und den Grausamkeiten der Rassendiskriminierung von Louisianas Vergangenheit. Wo lag meine Motivation? Einfache Antwort: Ich musste nicht darüber nachdenken, dass ich Frank Dellacroce absichtlich in Max Colls Visier bugsiert hatte.“ (S. 211) 
Auch wenn Robicheaux immer wieder von seiner Chefin Helen zur Vorsicht angehalten wird, bringt er sich mit seinem alten Kumpel, dem mittlerweile in New Orleans als Privatermittler tätigen Clete Purcel, immer wieder in teils lebensbedrohliche Schwierigkeiten und bringt einmal die Reichen und Mächtigen so gegen sich auf, dass er das Ziel seiner Ermittlungen aus den Augen zu verlieren droht … Nachdem Robicheaux seine letzte Frau Bootsie beim Brand seines Hauses verloren hat und seine Adoptivtochter Alafair aufs College geht, ist er in seinem 13. Fall ziemlich auf sich allein gestellt, doch Frauen spielen nach wie vor eine nicht unbedeutende Rolle in „Straße der Gewalt“.
Als ehemalige Geliebte, wütend-trauernde Witwen oder taffe Cops sorgen sie immer wieder für dramaturgisch auflockernde Akzente. Charakteristisch ist aber vor allem die Gewalt, die wie zäher Schleim an Robicheaux und seinem Kumpel Clete zu kleben scheint und deren Spur die beiden durch die ganze Handlung ziehen.
Mit Rückblicken auf die Zeit in Vietnam und die Beziehung zwischen dem schwarzen Musiker Crudup und seiner weißen Gönnerin Andrea LeJeune wird der Plot ebenso aufgelockert wie durch die diversen Killer, deren Auftraggeber lange im Dunklen bleiben.
James Lee Burke gelingt es einmal mehr, den charismatischen Vietnam-Veteran, Anonymen Alkoholiker und Detective Dave Robicheaux durch eine undurchsichtige Handlung zu bugsieren und dabei jede Menge Prügel und deftige Sprüche einzuflechten. Das ist zwar alles allzu vertraut, aber da auch die Nebenfiguren interessant gezeichnet sind, die Story kaum Zeit zum Durchatmen lässt und die Landschaft wieder sehr eindringlich geschildert ist, vermag auch „Straße der Gewalt“ von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln.

Martin Suter – „Die Zeit, die Zeit“

Samstag, 4. Februar 2017

(Diogenes, 297 S., Tb.)
Seit dem Mord an seiner Frau Laura, die vor gut einem Jahr ihren Schlüssel vergessen hatte und während sie darauf wartete, dass ihr Mann die Tür öffnet, von einem Unbekannten erschossen worden ist, hat der 42-jährige Finanzbuchhalter Peter Taler jeden Antrieb verloren, weshalb er in der Baufirma, für die er arbeitet, bereits kritisch angesprochen wurde. Nach Feierabend setzt er sich in der Regel mit seinem ersten Feierabend-Bier ans Fenster seiner im zweiten Stock gelegenen Wohnung im Gustav-Rautner-Weg 40, kocht Spaghetti Pomodoro, spielt „Back to Black“ von Amy Winehouse und versucht auch sonst, in seinem Leben das Bild jenes Abends zu konservieren, als Laura starb.
In ihrem unverändert belassenen Zimmer zündet er sogar ihre Zigaretten an und lässt sie im Aschenbecher langsam runterbrennen. In dem etwas skurrilen Nachbarn Knupp findet Taler nahezu einen Gleichgesinnten. Auch er verlor seine Frau Martha, nachdem sie aus dem Urlaub in Nigeria zurückgekehrt waren und sie nach kurzer, aber schwerer Krankheit starb. Knupp hofft allerdings, die Geschicke ändern zu können, wenn er noch einmal genau die Zustände des schicksalhaften 11. Oktober 1991 herstellen und so den Tod seiner Frau abwenden kann.
Denn nach der Theorie des 1988 verstorbenen Walter W. Kerbeler wird Zeit allein durch Veränderung definiert. Wenn aber keine Veränderung stattgefunden hat, ist auch keine Zeit vergangen. Dass auch seine Frau Kerbelers Hauptwerk „Der Irrtum Zeit“ bei einem Antiquariat in Auftrag gegeben hat, macht Taler neugierig.
Er unterstützt den alten Witwer bei seinem umfangreichen Unterfangen, die von seinem Haus erkennbare nähere Umgebung in den Zustand vor zwanzig Jahren zurückzuversetzen, beauftragt ein Gartenbauunternehmen und jemanden, der die Automodelle auftreibt, die damals auf den Parkplätzen standen, und sie entsprechend umlackiert, tauscht Pflanzen und Müllcontainer aus und überprüft anhand unzähliger Fotografien von damals die Übereinstimmungen und Abweichungen. Im Gegenzug erwartet Taler Hilfe bei der Aufklärung des Mordes an Laura, denn auf einem von Knupps Fotos ist ein verdächtiges Moped zu sehen, dessen Halter Taler unbedingt ausfindig machen will. Doch als Taler in Lauras Privatleben beginnt herumzuschnüffeln, entdeckt er eine geheime Seite an ihr, die ihn zutiefst verunsichert.
„An diesem Nachmittag hatte sich das Gefühl, mit dem er an Laura zurückdachte, verändert. Er spürte nicht mehr das Bedürfnis, ihre Leibspeisen zu kochen, ihr Parfum zu versprühen, ihre Zigaretten abzubrennen, ihre Musik zu spielen. Er wollte die Illusion, sie wäre noch da, nicht beschwören, solange ihre Beziehung zu dem Mopedmann nicht geklärt war. Und damit die zu ihm.“ (S. 180) 
Mit „Die Zeit, die Zeit“ hat der aus Zürich stammende Martin Suter einen Zeitreiseroman der besonderen Art geschrieben. Statt jedoch in die Zeit zurückzureisen, um von bestimmten Schlüsselmomenten in der Vergangenheit aus so zu handeln, dass unerwünschte Ereignisse in der Zukunft nicht eintreten – wie in Robert Zemeckis fantastischer „Zurück in die Zukunft“-Trilogie -, strebt mit Knupp zumindest einer der Protagonisten in Suters Roman danach, die Zeit einfach nicht vergehen zu lassen, so dass er von dem letztlich durch eigenes Tun bewirkte Wiederherstellung einer Situation vor zwanzig Jahren die Zukunft in andere Bahnen lenken und seine Frau am Leben lassen kann, indem sie wie von ihr gewünscht nach Nepal und nicht Afrika reisen.
Bei aller minutiösen Planung wirkt das Experiment allerdings wenig schlüssig, das Wetter und verschiedene andere Aspekte können einfach nicht wie vor zwanzig Jahren rekonstruiert werden. Doch davon abgesehen gelingt es Suter auch nicht, die beiden Witwer mit überzeugendem Leben zu füllen. In ihrem gemeinsamen Bemühen, die Erinnerung an ihre geliebten Frauen wachzuhalten, wirken sowohl Taler, vor allem aber Knupp seltsam schablonenhaft. Einzig durch die eingeflochtene Kriminalgeschichte, in der nicht nur Lauras Ermordung, sondern auch ein vor kurzer Zeit verübter ähnlicher Mord aufgeklärt werden soll, wird die Spannung hochgehalten, während das große Experiment, das eigentlich im Zentrum des Romans steht, einfach nur zum Scheitern verurteilt scheint.
So interessant das Überlistung-der-Zeit-Thema auch ist, vermag Suter dem Sujet doch keine wirklich neuen Aspekte hinzuzufügen. Seine Figuren sind dabei ebenso trocken geraten wie seine schnörkellose Sprache, die nüchtern die Handlung beschreibt, ohne emotionale Tiefen auszuloten.
Leseprobe Martin Suter - "Die Zeit, die Zeit"

Andrea De Carlo – „Wir drei“

Freitag, 3. Februar 2017

(Diogenes, 662 S., HC)
Am 12. Februar 1978 hat Livio gerade so sein Examen in Geschichte des Mittelalters bestanden. Im Gegensatz zu seinem besten Freund und Kommilitonen Marco Traversi, der keine Veranlassung gesehen hat, den Unmut der Prüfungskommission etwas abzufedern, und konsequenterweise auf das Diplom verzichtete, gab Livio klein bei und machte mit seinem Diplom zumindest seine Mutter und Großmutter zufrieden. Am Abend lernt er nach einer Feier Misia Mistrani kennen, als er die junge Frau aus einer unerfreulichen Situation mit einem jungen Mann befreit, doch bis er Misia wiedersieht, vergeht die Zeit, in der Livio teils chaotisch, teils verschlafen und unbestimmt in seinem Mailänder 42-Quadratmeter-Apartment darüber nachsinnt, was er mit seinem Diplom und seiner Zukunft anfangen soll.
Erst als sein Freund Marco beginnt, auf seine ihm eigene ungestüme, impulsive Art und Weise einen Film zu machen, in dem Misia aus einer zufälligen Besucherin zur Hauptdarstellerin avanciert, entwickelt sich eine über alle Maße dynamische Freundschaft zwischen den drei Künstlern. Marcos Film wird dank der Schützenhilfe seines Freundes Settimio zu einem Independent-Festival-Erfolg, Misia zu einer begehrten Person des öffentlichen Lebens, die jedoch kein Interesse daran hat, weitere Filme zu machen, und Livio entwickelt sich – nach entsprechender Ermutigung durch Misia – zu einem respektablen Maler.
Doch über die Jahre verlieren sich Livio, Marco und Misia immer wieder aus den Augen, verraten ihre alten Ideale und gehen bürgerliche und andere Beziehungen ein, werden Großgrundbesitzer, selbstversorgende Kommunenmitglieder und kommerzieller Filmemacher, verstreuen sich auf die Balearen, nach London und Paris und Südamerika, doch immer wieder kreuzen sich hier und da die Wege von Livio und Marco auf der einen, von Livio und Misia auf der anderen Seite.
„Ich fragte mich, woran es lag, dass ich in ihr so lange mein Frauenideal gesehen und dieses Ideal, immer wenn ich eine neue Seite ihres komplexen Wesens entdeckte, um weitere Elemente bereichert hatte; ob ihr jemals bewusst geworden war, was sie mir wirklich bedeutete, ob sie es ausgenutzt hatte; ob sie wusste, dass ich alle anderen Frauen in meinem Leben ständig mit ihr verglichen hatte, nur um jedesmal festzustellen, wie schlecht sie dabei abschnitten; ob sie sich vorstellen konnte, welch schreckliches Gefühl des Mangels sie immer wieder in mir verursacht hatte.“ (S. 562) 
Livio, der Ich-Erzähler in De Carlos 1997 bzw. 1999 in deutscher Sprache veröffentlichten Roman „Wir drei“, wirkt ähnlich Philippe Djians Protagonisten wie ein Alter Ego des Mailänder Schriftstellers, der in einem Interview verkündete, er könne nur über die Gefühle schreiben, die er selbst empfunden habe. Ähnlich wie De Carlo, der sich in Mailand nie so recht heimisch gefühlt hat und sich stets dem gönnerhaften Literatur- und Kulturmarkt zu entziehen versuchte, der ihn vereinnahmen wollte, fühlen sich auch die drei Künstler in „Wir drei“ nirgends heimisch und wandeln eher orientierungslos zwischen eigenem hehren Anspruch und den gesellschaftlichen Konventionen und Gesetzen des Kulturmarkts umher, legen sich nie fest, lösen Verträge und persönliche Bindungen, wie es ihnen gerade in den Kram passt.
So spannend und interessant es ist, De Carlos lebendig gezeichnete Figuren durch ihre schillernden und abwechslungsreichen Leben zu verfolgen, so gelingt es dem Autor doch zu selten, echtes Mitgefühl für die jeweiligen Nöte und Leiden seiner Helden aufzubringen; zu rastlos und beliebig lassen sie sich durch die Jahrzehnte und vollkommen unterschiedliche Lebensentwürfe treiben. Nichtsdestotrotz bekommt der geduldige Leser im Rahmen des 660 Seiten dicken Epos Einblicke in die fundamentalsten Existenzfragen von Künstler-Persönlichkeiten und die Mechanismen und Fundamente von Freundschaften, die jenseits amouröser Verquickungen Jahrzehnte, Kontinente und unterschiedliche Ansichten überdauern.

Irvine Welsh – „Porno“

Montag, 30. Januar 2017

(Heyne, 576 S., Tb.)
Zehn Jahre nach dem tragischen Auseinanderbrechen der Trainspotting-Gang schlagen sich Sick Boy und seine alten Kumpels Begbie, Renton und Spud noch immer meist eher schlecht als recht durch ihr armseliges Leben. Allein Renton hat den Absprung nach Amsterdam geschafft und sich mit einem angesagten Club ein bürgerliches Leben aufgebaut. Als Simon David Williamson alias Sick Boy nach einer trostlosen Episode in London nach Edinburgh in das schäbige Viertel Leith zurückkehrt, übernimmt er nicht nur den heruntergekommenen Pub seiner Tante, sondern strebt weiterhin nach der ganz großen Kohle. Er tarnt den Pub als gemütliches Café, das sich abends in ein Thai-Restaurant verwandelt, um in bislang unbenutzten Räumen im Obergeschoss Pornos zu drehen, die er über seinen alten Kumpel Rents in Amsterdam vertreiben lassen will.
Doch vorher gibt es noch die eine oder andere Rechnung zu begleichen. Vor allem Begbie hat es bis heute nicht verwunden, dass Renton seine Truppe bei dem fetten Drogendeal vor zehn Jahren abgezogen und das Weite gesucht hat, während Begbie für die Aktion einsitzen musste. Als Rents nach Edinburgh zurückkehrt, ahnt er nicht, dass Begbie wieder auf freiem Fuß ist. Währenddessen berauschen sich die Jungs nicht mehr am Heroin, sondern stehen auf Koks und willige Frauen, denen sie nahelegen, auch vor der Kamera zu ficken. Mit „Die sieben Säulen der Geilheit“ ist der Titel ebenso schnell gefunden wie die Hauptdarsteller.
Doch als sich Terry bei einer Nummer mit Simons Freundin Nikki eine Penisfraktur zuzieht, steht das Projekt unter einem ungünstigen Stern. Und es mehren sich nicht nur von den Frauen, die sich als Wichsvorlage degradiert fühlen, durchaus kritische Stimmen …
„Das ist unsere Tragödie: Niemand, abgesehen von destruktiven Ausbeutern wie Sick Boy oder farblosen Opportunisten wie Carolyn, bringt echte Leidenschaft auf. Alle sind von dem Müll und der Mittelmäßigkeit um sie herum wie erschlagen. Wenn das bezeichnende Wort der Achtziger ‚ich‘ und das der Neunziger ‚es‘ war, dann ist es im neuen Millennium ‚irgendwie‘. Alles muss vage und relativierbar sein. Erst war mal Inhalt wichtig, dann war Stil alles. Und jetzt wird nur noch gefaked.“ (S. 448) 
1996 verfilmte der spätere Oscar-Preisträger Danny Boyle („Slumdog Millionär“) Irvine Welshs Kultroman „Trainspotting“ (1993) und landete mit dem berauschenden Portrait einer sinnentleerten Spaßgesellschaft einen internationalen Erfolg, der auch Hauptdarsteller Ewan McGregor zum Star machte. Zum Filmstart von „T2 Trainspotting“ erscheint bei Heyne Hardcore, wo auch Welshs letzten Romane – das „Trainspotting“-Prequel - „Skagboys“ und „Das Sexleben siamesischer Zwillinge“ veröffentlicht wurden, mit der Neuauflage von „Porno“ (2002) der Roman zum Film.
Der aus Edinburghs Viertel Leith stammende, mittlerweile in Chicago lebende Irvine Welsh versteht es auch in „Porno“, seine abgefuckten Antihelden in einer Gossensprache reden zu lassen, die ebenso authentisch wie abstoßend wirkt, die aber auch genau das hoffnungslose Lebensgefühl widerspiegelt, in dem sich die Figuren gefangen sehen.
Einzig das Aufputschen durch Alkohol, Koks und hemmungslosen Sex scheint kurzfristig gegen die Sinnlosigkeit des Lebens ein Zeichen der Linderung setzen zu können. Wie sehr Welsh an seinen Figuren hängt, zeigt sich nicht nur an der Tatsache, dass er nach „Trainspotting“ sowohl ein Prequel als auch ein Sequel geschrieben hat, sondern beispielsweise auch Juice-Terry und die Birrell-Brüder aus dem Roman „Klebstoff“ in das „Trainspotting“-Universum eingeführt hat.
Wie Sick Boy letztlich erfolgreich versucht, seinen Porno-Film zu produzieren und in schließlich in einem Parallelwettbewerb in Cannes zu präsentieren, braucht sicher keine knapp 600 Seiten, auch nicht die zwangsläufige, Spannung erzeugende Konfrontation zwischen den Erzfeinden Begbie und Renton, so dass „Porno“ auch einige Längen aufweist, doch die absolut lebendige, mitreißende Art, in der Welsh das Lebensgefühl seiner Figuren in der jeweiligen Ich-Perspektive wiedergibt, resultiert in einem ebenso humorvollen wie tiefgründigen Roman, der sich auf einer Meta-Ebene auch mit dem Schönheitsideal und den durchaus fragwürdigen Werten und Lebensentwürfen im 21. Jahrhundert auseinandersetzt.
Leseprobe Irvine Welsh - "Porno"

China Miéville – „Dieser Volkszähler“

Freitag, 27. Januar 2017

(Liebeskind, 173 S., HC)
Ein Junge lebt mit seiner im Garten arbeitenden Mutter und seinem großen, blassen und besonnen wirkenden Vater abgeschieden auf dem Berg in einem dreistöckigen, irgendwie unfertig wirkenden Haus, gerade noch so in den Grenzen des dazugehörigen Dorfes. Der Vater fertigt magische Schlüssel für seine Kunden an, damit sie Liebe, Geld oder Einblick in die Zukunft bekamen, Dinge öffnen, Sachen reparieren oder Tiere heilen konnten. Nie kommen sie ein zweites Mal. Doch die Idylle trügt. Eines Tages rennt der Junge schreiend den Bergpfad herunter und berichtet den Leuten im Dorf, dass seine Mutter seinen Vater umgebracht habe. Als er berichten soll, was genau passiert sei, muss er feststellen, dass seine Erinnerungen ungenau sind. Hat nicht vielleicht andersherum der Vater die Mutter getötet?
Um dem geschilderten Vorfall auf den Grund zu gehen, suchen die Beamten das Haus des Jungen auf und finden den Vater vor, die Mutter sei – so ist auch einem handgeschriebenen Abschiedsbrief zu entnehmen – offensichtlich einfach weggegangen. Der Junge ist indes fest davon überzeugt, dass der Vater die Mutter ebenso ins unergründlich tiefe Loch im Berg geschmissen habe, wie er es sonst immer wieder mit verschiedenen Tieren getan hat. Da dafür allerdings kein Beweis gefunden werden kann, muss der Junge nun allein mit dem Vater auf dem Berg leben.
„Ich kann Ihnen nicht sagen, was mein Vater von mir wollte; vielleicht wollte er nur mich. Er liebte mich, aber er hatte ja auch meine Mutter geliebt, und diese Liebe hinderte mich nicht daran, ihn zu beobachten und darauf zu warten, dass sein Mienenspiel sich änderte. Sie hinderte mich nicht daran, mir darüber Gedanken zu machen.“ (S. 113) 
Der Vater schwört den Jungen auf die neue Lebenssituation ein und zwingt ihn dazu, in seiner Nähe zu bleiben, doch in dieser Atmosphäre von Angst und Zwang sucht er immer wieder die Gesellschaft seiner Freunde Samma und Drobe. Dann verschwindet auch Drobe …
Bereits mit seinem 1998 erschienenen Debütroman „King Rat“ wurde der in Norwich geborene China Miéville gleich für die renommierten Preise der International Horror Guild und für den Bram Stoker Award nominiert, seine weiteren Romane „Perdido Street Station“ und „The Scar“ (die hierzulande in jeweils zwei Romanen veröffentlich wurden) räumten ebenso wie „Die Stadt & Die Stadt“ oder „Der Eiserne Rat“ namhafte Auszeichnungen ab.
Mittlerweile darf Miéville zweifellos als einer der wichtigsten Erneuerer und Vertreter der Science-Fiction-Literatur betrachtet werden, der mit seinen Büchern stets die Konventionen des Genres durchbricht. Dafür ist auch seine Novelle „Dieser Volkszähler“ ein vorzügliches Beispiel.
Der titelgebende Volkszähler spielt hier eher eine Nebenrolle und taucht auch erst in den letzten dreißig Seiten des schmalen Bandes auf. Im Mittelpunkt steht der namenlose Junge in einem ebenso namenlosen Dorf, das nach einer nicht näher beschriebenen Apokalypse ganz auf Handel und Selbstversorgung angewiesen ist. Die einzige Maschine, die noch existiert, in eine Art Kraftwerk, mit dem die Straßenlaternen betrieben werden. Darüber hinaus wird einfach vieles der Imagination des Lesers überlassen.
Die Dorfbewohner werden eher unbestimmt als Fensterputzer, Offizielle und Fledermausangler beschrieben, ihre Tätigkeiten und ihre Art zu leben werden kaum näher definiert. Interessant ist vor allem die Erzählperspektive des Jungen, der seinen eigenen Erinnerungen kaum trauen kann, also wird auch der Leser stets im Ungewissen bleiben, wie die dargestellten Ereignisse und Schlussfolgerungen überhaupt zu bewerten sind.
Darüber hinaus gelingt es Miéville hervorragend, durch seinen einzigartigen Stil eine ausgeprägt unheimliche, unbestimmte und hypnotische Atmosphäre zu kreieren, die sich bis zum Schluss nicht auflöst und den Leser auch nach dem Umblättern der letzten Seite mit Unbehagen zurücklässt. Das vermag indes nur große Literatur.
Leseprobe China Miéville - "Dieser Volkszähler"

Peter Straub – „Schattenstimmen“

Donnerstag, 26. Januar 2017

(Heyne, 400 S., Tb.)
Während sich der Bestseller-Autor Timothy Underhill seit einiger Zeit über kryptisch anmutende Emails von verkürzt dargestellten Absendern ohne Betreffzeile wundert, versucht seine gerade mit dem Newbery-Preis ausgezeichnete Schriftstellerkollegin Willy Bryce Patrick herauszufinden, wie sie mit ihrem Mercedes zu einem Gebäude gelangt ist, das mit rostigen Blechbuchstaben verkündet, dass es einer Firma namens „Michigan Produce“ zu gehören scheint.
Sie fragt sich, ob dieser Vorfall auf das Trauma zurückzuführen ist, das der Mord an ihrem Mann Jim und ihrer Tochter Holly vor mehr als zwei Jahren bei ihr ausgelöst hat.
Auch Tim trägt schwer an seinen persönlichen Verlusten. Nachdem er als Siebenjähriger beobachten musste, wie seine geliebte Schwester April ermordet worden war, ist Mark, der Sohn seines Bruders Philip vor einem Jahr spurlos verschwunden. Als er mit Hilfe eines alten Schulfreundes die Absender der mysteriösen Emails zu identifizieren versucht, muss Underhill feststellen, dass es sich offensichtlich um die Adressen allesamt Verstorbener Ehemaliger handelt – allein der geheimnisvolle Cyrax meldet sich immer wieder und macht deutlich, dass Underhill in seinem letzten Buch „Haus der blinden Fenster“ einen gravierenden Fehler begangen habe, den er unbedingt ausmerzen müsse.
Nachdem Willy Zeugin des Mordes an ihrem Freund Tom Hartman gewesen ist, flüchtet sie in eine Buchhandlung, in der gerade eine Lesung mit Timothy Underhill stattfindet. Sofort herrscht eine besondere Anziehungskraft zwischen den beiden Kollegen, die schicksalhaft miteinander verbunden sind.
„Der Anblick dieses Mannes mittleren Alters überraschte sie, gelinde gesagt. Augenblicklich stellte sich bei ihr das Gefühl ein, dass alles, was an diesem schrecklichen Tag geschehen war, nur dazu gedient hatte, sie exakt an diesen Punkt zu bringen, und dass sie genau an dem Ort gelandet war, der ihr schon seit langem vorherbestimmt war. Dieser Ort – und die Verrücktheit dieses Umstands kann kaum in Worte gefasst werden – befand sich in nächster Nähe von Timothy Underhill, einem Schriftsteller, den sie sehr mochte und dessen Ansichten ihr besonders tröstlich erschienen, wenn sie sich mies fühlte.“ (S. 216) 
Während sich nach wie vor die Häscher ihres fast zukünftigen Mannes Mitchell Farber auf der Jagd nach Willy befinden, machen sich Willy und Tim auf eine gefährliche Reise in ein Reich, in dem zunehmend die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen.
Mit seinen Romanen „Geisterstunde“, „Schattenland“, „Der Hauch des Drachen“ und dem zusammen mit Stephen King entstandenen „Der Talisman“ ist Peter Straub Anfang der 1980er Jahre zu einem der bedeutendsten Fantasy- und Mystery-Schriftsteller avanciert, doch im 21. Jahrhundert ist es leider sehr ruhig um ihn geworden.
Mit „Schattenstimmen“ (2004 im Original unter dem Titel „In the Night Room“ veröffentlicht) ist 2008 der bislang vorletzte Roman des mehrfach mit dem Bram Stoker Award ausgezeichneten Autors erschienen. Er knüpft nahtlos an das vorangegangene Werk „Haus der blinden Fenster“ und bezieht sich explizit nicht nur auf diesen Roman, sondern erwähnt auch immer wieder Straubs andere Romane „Schattenland“, „Geisterstunde“ oder die Romane, die er mit seinem Co-Autor (dem nicht explizit erwähnten Stephen King) verfasst hat.
„Schattenstimmen“ erweist sich wie ein Film-im-Film als ein Roman, in dem sich der kreative Schöpfer auf einmal mit einer seiner erdachten Figuren in der wirklichen Welt auseinandersetzen muss. Die manchmal etwas sprunghafte Handlung und die komplexe Verwebung zwischen Dichtung und Wirklichkeit machen das Lesen nicht immer einfach und erschweren auch die Identifizierung mit den Hauptakteuren, aber Peter Straub versteht es dank seiner geschliffenen Sprache und einer dramaturgisch geschickt aufgebauten Spannung, das Interesse seines Publikums bis zum Finale wachzuhalten. „Schattenstimmen“ zählt sicher nicht zu Straubs ganz großen Werken, macht aber deutlich, worauf er in den 1980er Jahren seinen guten Ruf begründen konnte.