Paul Auster – „Die New York-Trilogie“

Sonntag, 19. März 2017

(Rowohlt, 375 S., Tb.)
Unter dem Namen William Wilson hat der New Yorker Schriftsteller Daniel Quinn nahezu im Jahrestakt einen Detektivroman veröffentlicht, nachdem er zuvor unter eigenem Namen noch Gedichte und kritische Essays geschrieben hatte. Das brachte ihm immerhin genügend ein, um nach dem halben Jahr, das er zum Schreiben eines Krimis benötigte, ein weiteres halbes Jahr mit Lesen, Kino und Spazierengehen durch die Stadt verbringen zu können. Doch dieser behagliche Rhythmus gerät aus dem Takt, als er eines Tages einen Anruf erhält, der eigentlich für einen Privatdetektiv namens Paul Auster gedacht gewesen ist. Auch wegen der Dringlichkeit ist Quinns Interesse geweckt.
Er soll einen Mann namens Peter Stillman davor beschützen, dass sein Vater ihn ermordet. Quinn alias Auster nimmt den Auftrag an, stöbert den Gesuchten auf und verfolgt ihn Tag und Nacht. Offensichtlich bewegt sich der Mann in bestimmten Grenzen, die Wege scheinen auf ein Schema hinzudeuten, auf Buchstaben, die mit dem Turmbau zu Babel zu tun haben.
„Er merkte, dass es keineswegs unangenehm war, Paul Auster zu sein. Obwohl er noch denselben Körper, denselben Verstand, dieselben Gedanken hatte wie sonst, war ihm zumute, als wäre er irgendwie aus sich selbst herausgenommen worden, als müsste er nicht mehr die Last seines eigenen Bewusstseins tragen. Durch einen einfachen Gedankentrick, eine geschickte kleine Namensänderung fühlte er sich unvergleichlich leichter und freier. Gleichzeitig wusste er, dass alles nur eine Illusion war.“ (S. 65) 
Und so verliert sich Quinn in „Stadt aus Glas“ bis zur Selbstaufgabe in einem Labyrinth der Identitäten und Illusionen. In der kürzesten der drei Novellen, „Schlagschatten“, wird dieses Thema auf noch abstraktere Weise fortgeführt. Hier werden die Figuren schlicht nach Farben benannt. Der von seinem Chef Brown eingearbeitete Blue bekommt in seinem New Yorker Büro am 3. Februar 1947 von White den Auftrag, einen Mann namens Black zu verfolgen und so lange wie möglich im Auge zu behalten. Auf den wöchentlichen Bericht, den White in genau definierter Form erwartet, folgt jeweils ein Scheck. Die Aufgabe erscheint nicht schwer. Blue bezieht eine Wohnung, die sein Auftraggeber für ihn angemietet hat, und beobachtet Black dabei, wie dieser in seiner Wohnung in Henry David Thoreaus „Walden“ liest und immer wieder in sein rotes Notizbuch schreibt. Irgendwann beginnt Blue, ebenfalls in „Walden“ zu lesen, sucht unter falschem Namen und verkleidet die Begegnung mit Black und wird für immer verändert …
Auch in „Hinter verschlossenen Türen“ wird der Leser mit einer Detektivgeschichte konfrontiert, die konventioneller beginnt als die beiden vorangegangenen. Vor sieben Jahren bekam der Ich-Erzähler einen Brief von einer Frau namens Sophie Fanshawe, die sich als Ehefrau seines besten Freundes entpuppt, mit dem er schon als Baby aufgewachsen ist, den er Zeit seines Lebens bewundert, aber irgendwann aus den Augen verloren hat. Fanshawe sei vor sechs Monaten spurlos verschwunden, schrieb sie. Der Erzähler wurde allerdings nicht damit beauftragt, Fanshawe zu suchen, sondern dessen unveröffentlichte Manuskripte zu sichten und zu entscheiden, was mit ihnen geschehen solle.
Kaum schlägt Fanshawes größtes Werk, der Roman „Niemalsland“, bei Kritik und Publikum ein, erhält der Erzähler einen Brief von Fanshawe. Indem er sich an die Biografie seines alten Freundes macht, begegnet er sich in vielerlei Hinsicht selbst …
Auch wenn die „New York-Trilogie“, deren drei Geschichten im Original zwischen 1985 und 1986 erschienen sind und den New Yorker Schriftsteller Paul Auster weltberühmt machten, zunächst voneinander unabhängig erscheinen, führt sie schon die thematische Ähnlichkeit zusammen. Was jeweils als klassische Detektivgeschichte beginnt, entwickelt sich im Verlauf der Handlung zu einer Auseinandersetzung zu Fragen der Rolle eines Autors und der Namen, unter denen er seine Werke veröffentlicht, es geht um die Biografien von Individuen, deren Sinn im Leben sich erst im Tod offenbart; letztlich geht es um Wahrnehmung und Identität, um Täuschung und Fiktion, um Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Auster erweist sich in diesem komplexen Territorium als stilistischer Meister. Mühelos zieht er den Leser in den Bann – vor allem bei „Stadt aus Glas“ und der hervorragenden letzten Geschichte „Hinter verschlossenen Türen“ -, lässt sich ihn von dem meist überraschten, dann zunehmend interessierten Erzähler/Protagonisten an die Hand nehmen und auf die Suche nach verschwundenen Personen gehen, deren Geschichte sich immer mehr mit der des Autors/Detektivs vermischt.
Am Ende jeder einzelnen Geschichte und vor allem am Ende der Trilogie bleibt der Leser ebenso fasziniert wie verwirrt zurück und beginnt bestenfalls, seine eigene Biografie und Identität zu hinterfragen.

Cormac McCarthy – „Draußen im Dunkel“

Samstag, 18. März 2017

(Rowohlt, 220 S., HC)
Irgendwo im Süden der Vereinigten Staaten bringt die 19-jährige Rynthie Holme in einer heruntergekommenen Hütte einen Jungen zur Welt. Der Vater des Kindes, Ryhnthies Bruder Culla, bringt das Neugeborene in den Wald und erzählt der jungen Mutter, dass das Kind verstorben sei. Tatsächlich wird es von einem umherfahrenden Kesselflicker aufgelesen. Rynthies entlarvt die Lüge ihres Bruders und macht sich auf die Suche nach ihrem Kind. Culla wiederum sucht nach seiner Schwester und nimmt unterwegs immer wieder einfache Jobs für Unterkunft und Essen an. Bei einem Friedensrichter zerlegt er einen Baum, an anderer Stelle soll er ein Grab ausheben.
Ihre ganze Suche nach dem Baby/der Schwester sind die Holmes auf die Gnade und Barmherzigkeit ihrer Mitmenschen angewiesen, auf einen kühlen Schluck Wasser hier, einen Teller voll Bohnen mit knochentrockenem Brot dort. Doch immer wieder begegnen sie auch Menschen, die es nicht so gut mit ihnen und ihren Mitmenschen meinen, Tod, Gewalt und Blut begleiten ihre Wege durch die kärgliche Landschaft ebenso wie Hunger und Durst und der Wunsch nach einem Dach über dem Kopf.
„Er marschierte hangab aus bebautem Land in sonnenloses Gehölz; die kühle Landschaft beschrieb eine dunkle, von riesigen Farnen überhangene Kurve, das graue Moos an den Bäumen wie Hexenhaar, ein grüner triefender Hag voller Vogellaute, wie er sie nie gehört hatte. Keine Spuren im festgetretenen Sand, auch er hinterließ keine.“ (S. 109) 
„Outer Dark“ ist der zweite, im Original 1968 veröffentlichte Roman des 1933 geborenen Schriftstellers Cormac McCarthy, der später durch seine erfolgreich verfilmten Romane „All die schönen Pferde“, „Kein Land für alte Männer“ und „Die Straße“ weltberühmt wurde. In „Draußen im Dunkel“, 1994 endlich durch den Rowohlt Verlag auch der deutschen Leserschaft zugänglich gemacht, beschreibt McCarthy von Beginn an eine düstere, schreckliche Welt, in der ein Geschwisterpaar in ärmlichen Verhältnisse durch die Folgen ihres Inzest auseinandergetrieben wird und sich in den staubigen, unwirtlichen Landstrichen einfach nicht wiederfinden, dafür immer wieder in Situationen geraten, in der sie um Wasser betteln, nach Mitfahrgelegenheiten oder Arbeit suchen, aber auch um ihr Leben kämpfen müssen.
Für ihre Sünde bezahlen Culla und Rynthie einen hohen Preis, ungeschützt irren sie durch von finsteren Gestalten bevölkerte Landschaften, atmen den Geruch von Blut und Tod und verzweifeln selbst an den erbärmlichen Verhältnissen, in die sie hineingezwungen wurden.
„Draußen im Dunkel“ ist ein zutiefst pessimistischer, deprimierender Roman, der keine Hoffnung bereithält, weder für die bemitleidenswerten Figuren noch für die Leser. Faszinierend ist vor allem, mit welch starken Bildern McCarthy die Landschaft und das schreckliche Schicksal seiner Protagonisten beschreibt, für die das Leben nur eine zermürbende Aneinanderreihung von Ärgernissen bereithält. Diese apokalyptische Wucht muss man auch als Leser erst einmal ertragen können.

Wallace Stroby – (Crissa Stone: 2) „Geld ist nicht genug“

Sonntag, 12. März 2017

(Pendragon, 336 S., Pb.)
1978 machten sechs Mafiosi richtig Kasse, als sie in das Lufthansa Cargo-Terminal am JFK-Flughafen marschierten und mit mindestens acht Millionen, nicht nachzuverfolgenden Dollar und Juwelen wieder herauskamen. Offensichtlich wurde einiges von dem Geld an die Bosse abgegeben, aber eine Menge blieb für die Mannschaft übrig. Allerdings wurden die Leute gierig. Jimmy „der Gent“ Burke, der das Ding durchzog, hatte immer einen Anteil an seinen Boss, Joey Dio, abdrücken müssen. Schon wenige Tage nach dem Job legten Jimmy und Joey die Beteiligten um, allein Benny Roth konnte rechtzeitig im Zeugenschutzprogramm untertauchen.
Nachdem nun aber auch Joey gestorben und das Geld von damals immer noch nicht aufgetaucht ist, macht sich nun Danny Taliferro mit ein paar Handlangern auf die Suche nach den verschwundenen Millionen und hat wenig Mühe, Benny ausfindig zu machen.
Zwar kann der mittlerweile 62-Jährige mit seiner viel jüngeren Freundin Marta gerade noch so fliehen, aber die nächste, sicherlich tödliche Konfrontation wird nicht lange auf sich warten lassen. Durch seinen alten Kumpel Jimmy lernt er die taffe Bankräuberin Crissa Stone kennen, Benny führt sie zum Anwesen von Joey Dios Geliebte, bei der er die Millionen im Safe vermutet, den Joey eigens im Keller einbauen ließ, doch bevor Benny und Crissa die Lage sondiert haben, sitzen ihnen schon wieder Taliferro und seine Jungs im Nacken …
„Sie war irritiert, wütend. Wieder etwas, das ihr weggenommen wurde. Zuerst der Schlamassel in South Carolina, dann Cavanaugh, jetzt das. Eine lange Kette von Pech. Ereignisse, die sie vorwärtstrieben, als wenn sie keine Kontrolle über sie hätte, keine Wahl, ihr Schicksal schon entschieden. Alles rutschte ihr weg, bevor sie es in Ordnung bringen konnte. Alles war auf dem Weg zur Hölle.“ (S. 172) 
Nach „Kalter Schuss ins Herz“ veröffentlicht der Bielefelder Pendragon-Verlag mit „Geld ist nicht genug“ den zweiten Roman um die charismatische Bankräuberin Crissa Stone, mit der der ehemalige Polizeireporter Wallace Stroby eine außergewöhnliche Figur geschaffen hat.
Stroby führt seine Protagonistin bei einem ihrer ganz speziellen Fähigkeiten ein, und das daraus resultierende Desaster macht deutlich, dass in Crissas Leben einiges im Argen liegt, ihr Lover Wayne sitzt noch im Gefängnis, ihre Tochter Maddie lebt bei einer Verwandten. Um mit Wayne und Maddie ein neues Leben anzufangen, braucht sie das gewisse Startkapital. Der Deal, den ihr Benny anbietet, klingt allzu verlockend, doch wenn die Mafia im Spiel ist, sind oft tödliche Komplikationen vorprogrammiert.  
Stroby beweist ein feines Händchen bei der Charakterisierung seiner Figuren, die er in einem äußerst realen Setting agieren lässt. Doch während Martin Scorsese aus dem spektakulären Lufthansa-Raub in seinem grandiosen Gangster-Epos „GoodFellas“ thematisierte, formt Stroby aus dem wahren Fall einen temporeichen Hardboiled-Thriller, der ohne Umschweife und unnötige Nebenhandlungen eine fesselnde Jagd nach den verschwundenen Millionen inszeniert.
Leseprobe Wallace Stroby - "Geld ist nicht genug"

Cynan Jones – „Alles, was ich am Strand gefunden habe“

Samstag, 11. März 2017

(Liebeskind, 237 S., HC)
Der polnische Emigrant Grzegorz hat in einer walisischen Küstenstadt auf ein besseres Leben für sich und seine Familie gehofft, kommt mit seiner Arbeit in einem Schlachthof aber mehr schlecht als recht gerade so über die Runden. Da kommt ihm das Angebot, als Fahrer eines Bootes für eine Kurierfahrt etwas hinzuzuverdienen, mehr als gelegen.
Auch der einheimische Garnelen-Fischer Hold träumt von einem glücklicheren Leben, trauert aber auch seinem besten Freund Danny nach, der vor drei Jahren gestorben ist und Hold das Versprechen abnahm, sich um seinen Sohn Jake zu kümmern, aber er kann nicht verhindern, dass das Haus, in dem der Junge mit seiner Mutter Cara lebte, wahrscheinlich verkauft werden muss.
Ebenso wie Grzegorz wartet Hold auf die einmalige Chance, aus seinem Leben etwas zu machen, genug Geld zu verdienen, um für Cara und Jake sorgen zu können. Als er am Strand ein Boot mit einer Männerleiche entdeckt, fallen ihm drei Drogen-Päckchen in die Hände.
„Er hatte dieses Bild von Cara vor sich gehabt, wie sie mit dem Hals in einem Netz steckte und sich bis zur Erschöpfung abkämpfte. Von seiner Mutter. Greif zu, dachte er. Greif zu und versuch, etwas daraus zu machen. Sonst stehst du wieder nur da und schaust zu.“ (S. 100) 
Doch als Hold die Drogen zu Geld machen will, läuft die Sache aus dem Ruder …
Aus der Perspektive zweier Männer, die nichts anderes vom Leben kennen, als zu arbeiten und mit ihrem kümmerlichen Lohn weit davon entfernt sind, ihre Träume verwirklichen zu können, beschreibt der walisische Schriftsteller Cynan Jones („Graben“) den harten Überlebenskampf und von den Träumen, irgendwie an so viel Geld zu kommen, dass das Elend hinter sich gelassen werden kann.
Die Handlung gerät dabei fast in den Hintergrund und wird auch nicht mit Tempo vorangetrieben. Der verpatzte Drogendeal dient nur als Aufhänger für das vermeintliche Glück, das Grzegorz und dann Hold unerwartet in die Hände fällt, aber letztlich nicht erfüllt wird. Jones fokussiert seine Erzählung eher auf die nachdenklich-melancholische Stimmung, in der die beiden Arbeiter verzweifelt nach einer Möglichkeit suchen, ihre Familien ordentlich versorgen zu können.
Indem Jones sein Figuren-Ensemble auf ein Minimum beschränkt und sehr tief in ihre emotionalen Gefilde eintaucht, entsteht ein Roman von fesselnder Eindringlichkeit, die vor allem durch die wunderbare Sprache evoziert wird.
Leseprobe Cynan Jones - "Alles, was ich am Strand gefunden habe"

Paul Auster – „4 3 2 1“

Montag, 6. März 2017

(Rowohlt, 1259 S., HC)
Als Enkel des aus Minsk stammenden Großvaters Isaac Reznikoff, der über Warschau, Berlin und Hamburg am Neujahrstag 1900 nach New York kam und sich fortan nach einem Missverständnis bei der Immigration Ichabod Ferguson nannte, wächst Archibald „Archie“ Ferguson im Newark der fünfziger Jahre auf.
Sein Vater Stanley, der tüchtigste von insgesamt drei Ferguson-Jungen, lernte 1943 seine damals 21-jährige Frau Rose Adler kennen, die bei dem Portraitfotografen Emanuel Schneiderman arbeitete, während er das lange Zeit erfolgreiche Geschäft Three Brothers Home World führte, bis es sich durch die kriminelle Energie seines Bruders Lew buchstäblich in Rauch aufgelöst hat, wobei er selbst in den Flammen umkam. Doch was wäre geschehen, wenn Stanley Ferguson nicht im Lagerhaus seines Geschäfts verbrannt wäre?
Dies ist nur eine der möglichen Weggabelungen im Leben von Archie Ferguson, der sich in den fünfziger Jahren für Baseball und Basketball begeistert, nach dem tragischen Autounfall mit seiner Tante Mildred aber an zwei Fingern verstümmelt wurde und seitdem eine Karriere als Journalist bzw. Autor einschlägt, sich in seine Cousine Amy verliebt (oder in die Schwester eines Freundes), aber seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Jungen macht und auch später keine eindeutigen Präferenzen bei der Partnerwahl hegt.
Die Sommerferien verbringt er mit anderen jüdischen Jugendlichen im Camp Paradise, wo er seinen guten Freund Artie Federman durch ein Hirnaneurysma verliert. Archie beginnt sich für klassische Musik, große Literatur oder grandiose Filme zu interessieren – je nachdem, wie sich die Wege seines Lebens ausgestalten. Ferguson erlebt die Wahl John F. Kennedys, die Kuba-Krise, die Attentate auf Kennedy und Martin Luther King, reist nach Paris und wird Walt-Whitman-Stipendiat an der Universität von Princeton.
„Er war nicht mehr der Junge, der mit vierzehn als schwachköpfiger Niemand Sohlenverwandte geschrieben hatte, doch er trug diesen Jungen noch immer in sich und spürte, dass sie beide einen langen gemeinsamen Weg vor sich hatten. Das Fremde mit dem Vertrauten verbinden: Das war es, was Ferguson anstrebte, die Welt so genau beobachten wie der hingebungsvollste Realist und sie trotzdem durch eine andere, leicht verzerrte Linse sehen, denn wer Bücher las, die nur auf Vertrautes eingingen, erfuhr zwangsläufig, was er schon wusste …“ (S. 659) 
Auch wenn Paul Austers neuer Roman „4 3 2 1“ weit umfangreicher ist als viele seiner bisherigen Bücher zusammen, bleibt er seinen bevorzugten Themen doch treu und verknüpft sie auf atemberaubend virtuose Weise. Es ist vor allem ein grandioser Coming-of-Age-Roman, der nicht nur eine Entwicklungsgeschichte beschreibt, sondern derer gleich vier. Der bei Auster so beliebt eingesetzte Zufall und seine Auswirkungen auf das weitere Geschehen und die Geschichte werden in „4 3 2 1“ zu gleich vier Lebensentwürfen ausgestaltet, die nebeneinandergestellt werden und stets interessante Züge annehmen.
Vor dem Hintergrund großer politischer Ereignisse wie dem Vietnamkrieg, Bürgerrechtsbewegungen, Rassenkonflikten und Studentenunruhen, politischen Skandalen und Hiroshima entdeckt Archie Ferguson seine zügellose sexuelle Begierde, seine Liebe zu den großen kulturellen Errungenschaften, bewertet seine Beziehungen zu seinen Eltern, Freunden und Verwandten immer wieder neu und versucht letztlich nur, unter stets schwierigen Umständen und nach schweren emotionalen Rückschlägen seinen Weg und sein Glück zu finden.
Zwar verliert der Roman im letzten Viertel doch etwas an Schwung, aber die Idee, einen jungen Menschen über zwanzig Jahre lang auf vier verschiedenen Wege zu begleiten, ihn an der Columbia oder in Princeton studieren, ihn als Journalist oder Schriftsteller arbeiten und diese oder jene Menschen lieben zu lassen, ist in seiner Detailverliebtheit, in der sprachlichen Ausgestaltung und unter ausführlicher Einbeziehung all der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Begleiterscheinungen einfach großartig.
 Leseprobe Paul Auster - "4 3 2 1"

Anthony McCarten – „Licht“

Mittwoch, 22. Februar 2017

(Diogenes, 364 S., HC)
New York im Jahr 1878. Der schwerhörige Erfinder Thomas Alva Edison arbeitet im Alter von 32 Jahren an der Erfindung der Glühbirne. Als der berühmte Bankier John Pierpont Morgan – der von der Times sogar als „Napoleon der Wall Street“ bezeichnet wird - im Dezember in der New York Times vom Triumph des großen Erfinders liest, sieht er bereits das große Geschäft vor Augen, das die Elektrifizierung der Stadt verspricht.
Doch das Projekt ist noch weit davon entfernt, in die Praxis umgesetzt zu werden, denn bislang hält die Leuchtkraft einer Birne nur für zwei Stunden an. Edison schickt einen Mann auf der Suche nach dem idealen Glühfaden durch die ganze Welt, hat aber auch mit dem hartnäckigen Konkurrenten Nikola Tesla zu kämpfen, der bei jeder Gelegenheit öffentlich proklamiert, dass sein Wechselstrom viel besser sei als der von Edison bevorzugte Gleichstrom.
Was Edison aber wirklich entsetzt, ist die Tatsache, dass sein Stromkonzept auch zur humaneren Hinrichtung von Menschen eingesetzt werden soll …
„Er dachte an die Ketzer der Wissenschaft im Laufe der Geschichte, verurteilt für Ansichten oder Entdeckungen, die als Verbrechen galten, Leute, die sich weigerten, zu widerrufen oder zu leugnen. Jetzt spürte er deutlich, was für einen Preis solche Leute für ihre Tapferkeit und Aufrichtigkeit bezahlt hatten. Und wie stand er im Vergleich zu solchen Männern da? Wer war er im Vergleich zu einem Galileo oder Giordano Bruno?“ (S. 272) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten, der durch das Theaterstück bzw. das Drehbuch zum (unautorisierten) Film „The Full Monty – Ganz oder gar nicht“ und international bekannt geworden ist, hat auch mit seinen Romanen „Englischer Harem“, „funny girl“ oder „Liebe am anderen Ende der Welt“ weltweit Publikum und Kritiker begeistern können.
Auch der 2012 erschienene Roman „Brilliance“ ist 2010 zunächst als Theaterstück konzipiert gewesen, bevor er jetzt bei Diogenes unter dem Titel „Licht“ in deutscher Übersetzung erscheint. Auf den Ausführungen von Edisons Biografen und Historikern basierend schildert der Roman das beschwerliche Leben eines großen Mannes, der mit seinen Erfindungen stets das Leben der Menschen erleichtern wollte, aber nicht zuletzt durch den teuflischen Pakt mit dem Finanzier J. P. Morgan mit zunehmenden Alter erkennen musste, dass seine Erfindungen ein Eigenleben entwickelten, dem er nichts entgegenzusetzen hatte.
Wie in seinen vorangegangenen Werken erweist sich McCarten in „Licht“ einmal mehr als sehr Erzähler außergewöhnlicher Schicksale. Zwar könnte er bei der Charakterisierung seiner Figuren, die sich bei „Licht“ nahezu auf Edison und Morgan beschränkt, noch mehr in die Tiefe gehen und auch den Interessenkonflikt zwischen den beiden Männern deutlicher herausarbeiten, aber bei aller knackiger Dramaturgie wird doch deutlich, wie sehr Edisons Herzensangelegenheiten (vor allem seine beiden Ehen) und vor allem sein Gewissen unter der gnadenlosen Kommerzialisierung seiner Erfindungen leiden.
Auf der anderen Seite wird gerade im Finale sehr pointiert herausgestellt, wie die skrupellosen Geschäftsinteressen mächtiger Bankiers die Geschicke der Welt leiten.
McCarten präsentiert mit „Licht“ die etwas andere, leicht zu konsumierende Biografie eines außergewöhnlichen Mannes, der unter dem Druck der übermächtigen Geschäftswelt zusammenbricht.
Leseprobe Anthony McCarten - "Licht"

Gerhard Henschel - (Martin Schlosser: 7) „Arbeiterroman“

Sonntag, 19. Februar 2017

(Hoffmann und Campe, 527 S., HC)
Nach dem Abbruch seines Studiums beginnt für den 25-jährigen Martin Schlosser 1988 der Ernst des Lebens. Um die Miete seiner Wohnung in Oldenburg bezahlen zu können, jobbt er als Hilfsarbeiter in der Spedition für neun Mark die Stunde, während seine Freundin Andrea immerhin eine Mark mehr bekommt, wenn sie putzen geht. Eigentlich will Schlosser sein Prosadebüt mit dem Arbeitstitel „Die Weißheit der Indianer“ bei einem Verlag unterbringen, doch trotz etlicher Absagen lässt er sich nicht unterkriegen und bekommt mit seinen Kurzgeschichten und Reportagen immerhin beim „Alltag“ einen Fuß in die Tür.
Zwischen der Plackerei in der Spedition und dem Schreiben von Reportagen über das Leben im friesischen Jever und Kaffeefahrten verbringt Schlosser seine Zeit mit dem Lesen von „Der Spiegel“, „Frankfurter Rundschau“, „taz“, „Kowalski“, „Titanic“, „konkret“ und Karheinz Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“ sowie Romanen von Eckhard Henscheid, John Le Carré und Walter Jens. Vor allem hält ihn aber seine Familie auf Trab.
Seine Mutter möchte aus Meppen wegziehen, was der Vater überhaupt nicht versteht, dann bringt sich sein Cousin Gustav um, und der Mutter geht es mit ihrem Lymphdrüsenkrebs immer schlechter. Schließlich zieht Schlosser mit seiner Andrea nach Heidmühle, wo Schlosser nun in einer Kneipe jobbt und die Folgen der Wiedervereinigung am eigenen Leib zu spüren bekommt.
 „Die DDR-Menschen, die sich im Fernsehen äußerten, sahen fast alle so aus, als ob sie sich um eine Nebenrolle in einer Parodie auf die TV-Serie Miami Vice bewerben wollten. Sie trugen sonderbare Formfleischfrisuren und hatten sich gruselige Oberlippenbärte wachsen lassen, die in mir den Verdacht erweckten, daß die realsozialistische Mangelwirtschaft auch dem Bartwuchs hinderlich gewesen sei.“ (S. 410)
Aufmerksam verfolgt Schlosser das Zeitgeschehen und steht auch einer spirituellen Weiterentwicklung offen gegenüber, während seine Freundin Andrea vielleicht doch nicht mehr mit Kindern arbeiten, sondern als Bauchtänzerin Karriere machen möchte …
Nach „Kindheitsroman“, „Jugendroman“, „Liebesroman“, „Abenteuerroman“, „Bildungsroman“ und „Künstlerroman“ legt der bei Hamburg lebende Schriftsteller Gerhard Henschel mit „Arbeiterroman“ bereits den siebten Band der großartigen Chronik seines Ich-Erzählers und Alter Egos Martin Schlosser vor.
Wie gewohnt gehen in kurzen Absätzen Alltagsbeschreibungen und -bewältigung, Familien- und Liebesprobleme, Lese- und Hörgewohnheiten sowie geistvolle Kommentare zum Zeitgeschehen fast nahtlos ineinander über und bilden so über einen Zeitraum von über einem Jahr umfassend sowohl Schlossers (alias Henschels) Kampf um die Anerkennung als Autor (inklusive Aufnahme bei der Künstlersozialkasse) als auch familiäre Auseinandersetzungen ab.
Besonders amüsant fallen aber vor allem seine Beobachtungen und Kommentare zu politischen Entwicklungen wie der Auflösung der DDR und kulturgeschichtlichen Anekdoten wie den Themen, die in der NDR Talk Show oder im Feuilleton der Tages- und Wochenzeitungen abgehandelt werden. Das ist so lebendig geschrieben, als würde der Leser die Jahre 1988 bis 1990 noch einmal live miterleben und dazu die humorvoll-bissigen, aber durchaus treffenden Analysen zum Zeitgeschehen gleich mitgeliefert bekommen.