Jim Thompson – „Die Verdammten“

Samstag, 7. März 2015

(Heyne, 302 S., Tb.)
Nach dem Tod seines Vaters war es Tom Lord nicht mehr möglich, sein Jura-Studium fortzusetzen. Um die Schulden zu bezahlen, die sich durch die Pflege und Behandlung seines Vaters angehäuft haben, ist Tom gezwungen gewesen, einen Job in seiner Heimatstadt anzunehmen. Als ihm der Sheriff der texanischen Kleinstadt Big Sands einen Job als Deputy Sheriff anbot, griff er ohne zu zögern zu. Seine Mutter hinterließ ihm zwar ein üppiges Stück Land, bevor sie ihrer Familie für immer den Rücken kehrte, doch als einen Vertrag mit Aaron McBride, einem Bohrmeister bei der Highlands Oil & Gas Company abschloss, ist nach dem ersten Scheck über 20.000 Dollar kein Geld mehr geflossen.
Mittlerweile ist Lord überhaupt nicht mehr gut auf McBride zu sprechen, nachdem er erfolglos versucht hat, das an ihm begangene Unrecht wieder gutzumachen. Er nutzt den unrechtmäßigen Waffenbesitz des Bohrmeisters als Vorwand, um ihn auf offener Straße halb tot zu prügeln. Bei dem Besuch eines Bohrturms geraten die beiden Männer erneut aneinander. Bei dem Gerangel löst sich ein Schuss aus McBrides Waffe, die den Ölinspekteur auf der Stelle tötet. Damit bringt Lord nicht nur die drei Zeugen - seine Lebensgefährtin, die heiratswillige Prostituierte Joyce, und die beiden Ölbohrer Norton und Red – in eine schwierige Lage, auch die unlauteren Hintermänner von Highlands Oil sind von diesem Vorfall wenig angetan und wollen Lord dafür ebenso zur Rechenschaft ziehen wie McBrides Witwe Donna.
In einer abgeschiedenen Hütte harrt der Gesuchte der Dinge, die auf ihn zukommen.
„Tom Lord hatte die Hütte vor Jahren entdeckt, damals, als er gerade zum Mann wurde. Nach und nach hatte er sie zu einem komfortablen Zufluchtsort ausgebaut. Er brauchte so einen Ort, hatte ihn immer gebraucht. Er brauchte diese Abgeschiedenheit, die seine Einsamkeit transzendierte, ihn aus den Tiefen emporhob und sanft am anderen Ufer absetzte.“ (S. 168) 
Diese wenigen Worte beschreiben recht treffend, worum es unter anderem in „Die Verdammten“ geht, einer Auftragsarbeit, die der damals 53-jährige Thompson 1960 kurz nach seinem ersten Schlaganfall begonnen hatte und nach Vertragsabschluss ganz nach seinem Ermessen neu modellierte. Vordergründig scheint es um Mord und dessen Vergeltung zu gehen, aber wer mit Thompsons Biografie etwas vertraut ist, wird in Tom Lord das Alter Ego des Autors wiedererkennen, dessen Vater selbst ein Ölmillionär gewesen war und 1921 bankrott ging.
Mit diesem Schicksal muss sich auch Tom Lord herumschlagen, der als eigentlich guter Mann charakterisiert wird, aus dem aber jeden Augenblick der Teufel herausspringen kann. Das bekommen auch die Frauen an seiner Seite zu spüren, zunächst Joyce, die er – so sehr sie sich das auch wünscht – niemals zur Frau nehmen wird, später auch die junge Witwe des getöteten Bohrmeisters. Weder zu ihnen noch zu seinen Kollegen baut Tom Lord enge Beziehungen auf, und so wird die einsame Hütte zum Symbol seiner selbst. Thompson gelingt es, die staubige Einöde und das recht triste, unsichere Leben um die Bohrtürme herum in Texas so stilsicher zu beschreiben, dass man den Staub zu schmecken und die Klapperschlangen rasseln zu hören scheint.
In dieser unwirtlichen Gegend bleibt den Einwohnern scheinbar nichts anderes übrig, als Tag für Tag ums Überleben zu kämpfen. Und doch schafft es Thompson zum turbulenten Finale hin auch einen Hoffnungsschimmer zu entfachen.
Lesenswert ist auch das ausführliche Nachwort von Tobias Gohlis, der die Umstände aufzeigt, unter denen „Die Verdammten“ entstanden ist, und wie es in der Werkbiografie des Autors einzuordnen ist.
Leseprobe Jim Thompson - "Die Verdammten"

Ray Bradbury – „Friedhof für Verrückte“

(Diogenes, 455 S., Tb.)
In der Halloween-Nacht des Jahres 1954 erhält ein junger Drehbuchautor die schriftliche Einladung, sich um Mitternacht in der rückwärtigen Mauer am Green Glades Park einzufinden, wo eine große Offenbarung auf ihn warten würde, eine einmalige Gelegenheit für einen Bestseller-Roman oder ein entsprechendes Drehbuch. Obwohl sich der junge Schreiber eher als Angsthase sieht, kann er der Verlockung nicht widerstehen und begibt sich zum genannten Ort, um dort eine Gestalt von der Leiter fallen zu sehen, den der Autor als James Charles Arbuthnot identifiziert, den vor zwanzig Jahren bei einem Autounfall umgekommenen ehemaligen Studiochef von Maximus Films.
Wenig später ist die mutmaßliche Leiche verschwunden. Doch mit diesem unheimlichen Vorfall nimmt die Halloween-Geschichte erst so richtig Fahrt auf. Mit seinem Freund Roy Holdstrom, der ein wahres Special-Effects-Genie ist, soll er für den derzeitigen Studioboss Manny Leiber ein furchterregendes Monster schaffen, dessen Vorbild sie in einem Restaurant begegnen. Tatsächlich gelingt es Roy, eine schreckliche Kreatur zu modellieren, doch der Studiochef ist überhaupt nicht begeistert und lässt erst das Monster zerstören, dann baumelt auch Roys Leiche von einem Galgen in dem Studio.
Zusammen mit dem Privatdetektiv Crumley versucht der Ich-Erzähler den unheimlichen Ereignissen auf den Grund zu gehen …
„Ich starrte den langen Tunnel hinunter, erstaunt darüber, wie weit wir gerannt waren, von einem Land zum anderen, von einem Geheimnis zum anderen, durch zwanzig Jahre hindurch, von Halloween zu Halloween. Der Tunnel senkte sich durch Lagerhallen voll aufgestapelter Filmbüchsen hinab zu den Lagerhallen voller Reliquien der Namenlosen. Hätte ich diesen Weg zurücklegen können, wenn Crumley und Henry mir nicht geholfen hätten, die Schreckgespenster niederzuknüppeln, während mein Atem gegen die Wände stieß?“ (S. 327) 
Vierzig Jahre nach seinen legendären „Mars-Chroniken“ veröffentlichte der 2012 verstorbene amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury 1990 mit seinem Spätwerk „Friedhof für Verrückte“ eine Hommage an Filmemacher, die nachweislich großen Einfluss auf sein eigenes Werk ausübten: Rouben Mamoulian („Dr. Jeckyll & Mr. Hyde“, 1931, „Im Zeichen des Zorro“, 1940 – und Namensgeber meines Bücher-Blogs …), George Cukor („Das Haus der Lady Alquist“, 1944), John Huston („Die Spur des Falken“, 1941, „Moby Dick“, 1956), Fritz Lang („Dr. Mabuse, der Spieler“, 1922, „Metropolis“, 1927) und natürlich Ray Harryhausen („Herr der drei Welten“, 1960, „Sindbads siebente Reise“, 1958).
So wirkt der namenlose Ich-Erzähler wie Bradburys Alter ego. Mit ehrfurchtsvollem Staunen bewegt sich der junge Drehbuchautor durch die Kulissen des Maximus Filmstudios und die Geschöpfe, die sein Freund Roy zu erschaffen versteht. Der Plot, durch den der junge Mann gleichermaßen treibt und getrieben wird, beginnt wie ein liebevoller wie desillusionierender Blick hinter die Kulissen des Filmgeschäfts in den 50er Jahren, um dann rasant die Genres Geistergeschichte, Detektivstory und philosophisches Traktat zu durchschreiten, in dem die Grenzen zwischen Schein und Sein, Fiktion und reellen Ereignissen, Wahrheit und Täuschung ebenso verschwimmen wie zwischen dem Filmgelände und dem benachbarten Friedhof.
So faszinierend dieses Geflecht auch scheint, hat sich der Altmeister des Fantastischen doch etwas an dem verwirrenden Genre-Mix verhoben. Wie sein ganz spezieller, sehr reifer und bildhafter Schreibstil wirken Bradburys Figuren in „Friedhof für Verrückte“ eher wie schlecht skizzierte Schauspieler, die durch ein unausgereiftes Drehbuch und planlos von einer Wendung zur nächsten stolpern. Erfreuen darf sich der Bradbury-Fan allerdings nach wie vor an der unnachahmlich kreierten Atmosphäre, die das Studiogelände bildlich vor den Augen des Lesers erscheinen lässt. Aber die poetische Wucht und die psychologisch fein gezeichneten Figuren seiner Frühwerke hat „Friedhof für Verrückte“ leider nicht mehr in dem Maße zu bieten, wie wir es von dem großartigen Schriftsteller gewohnt sind.

Peter Abrahams – „Kopflos“

Sonntag, 1. März 2015

(Knaur, 413 S., Tb.)
Jeden Donnerstag flüchtet die Kunstexpertin Francie in die auf einer Insel gelegene Hütte ihrer Freundin Brenda, um dort für ein paar Stunden ihre geheime Affäre mit dem Radio-Moderator Ned Demarco zu genießen. Doch es dauert nicht lange, da bekommt ihr zur Zeit arbeitsloser Mann Roger Wind von den amourösen Abenteuer seiner Frau und plant den perfekten Mord. Mit einem nachgewiesenen IQ von 181 überlegt sich der Wissenschaftler das passende Szenario, um ja nicht mit dem ersehnten Tod seiner Frau in Verbindung gebracht zu werden, und nimmt Kontakt zu dem Mörder Whitey Truax auf, der gerade auf Bewährung im Resozialisierungswohnheim in New Hampshire lebt und gern Rogers Jobangebot annimmt, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt ein Gemälde aus der Inselhütte zu holen.
Doch der ausgeklügelte Plan geht schrecklich schief, und während Francie die Affäre mit Ned zu beenden versucht, nachdem dessen Frau Annie ihre geschätzte Tennis-Doppelpartnerin geworden ist, hat Roger alle Hände voll zu tun, Schadenbegrenzung zu betreiben und Beweise aus dem Weg zu räumen.
„Wie kompliziert konnte es sein, den Radioburschen ebenfalls Whitey vorzuwerfen? Vermutlich schwierig, gestand er sich ein, als ihm nicht augenblicklich eine Lösung einfiel, aber er war dazu geschaffen, Probleme zu lösen. Das war sein Metier. Die Herausforderung war einfach ein wenig größer, das war alles. Er würde zu seinem Recht kommen. Auf der anderen Seite der Tür erreichte Francie lautstark und vulgär den Höhepunkt. Komm nur, du Nutte. Roger stellte sich vor, wie sie im Beerdigungsinstitut im offenen Sarg lag, ihr Gesicht ausdruckslos.“ (S. 191) 
Der amerikanische Schriftsteller Peter Abrahams wurde für seine mittlerweile achtzehn Krimis bereits mehrfach für den begehrten Edgar Award nominiert, was an sich schon eine Anerkennung seiner Qualitäten bedeutet. Auch in seinem 1998 veröffentlichten Thriller „A Perfect Crime“, der jetzt unter dem Titel „Kopflos“ bei Knaur erschienen ist, kreiert Abrahams ein interessantes Szenario, das nicht nur durch die vertrackten Beziehungen der beiden Ehepaare und des von Roger ins Spiel gebrachten Ex-Häftlings geprägt wird, sondern auch von den psychischen Befindlichkeiten in diesem Intrigen-Puzzle, bei dem bald kein Teil mehr zum anderen passen will.
Doch je mehr Roger die Übersicht über sein vermeintlich perfektes Verbrechen zu verlieren droht, umso mehr verliert Abrahams auch die stringente Linie seines Spannungsaufbaus und springt wie seine durch die Vorgänge irritierten Protagonisten etwas kopflos durch die Handlung, wodurch die obligatorischen Wendungen an Wirkung einbüßen.
Nichtsdestotrotz bietet „Kopflos“ anregende Krimiunterhaltung mit psychologisch gut gezeichneten Figuren in einem zum Ende hin nicht ganz so überzeugenden Plot.
Leseprobe Peter Abrahams - "Kopflos"

Dan Brown – (Robert Langdon: 3) „Das verlorene Symbol“

Donnerstag, 26. Februar 2015

(Lübbe, 765 S., HC)
Robert Langdon, Harvard-Professor und prominenter Symbologe, wird von seinem väterlichen Mentor Peter Solomon gebeten, sich umgehend mit ihm im Capitol Building in Washington zu treffen, wo er kurzfristig einen Vortrag über die freimaurerische Geschichte der Stadt halten soll. Doch als er die Rotunde des Kapitols betritt, entdeckt er mit Schrecken die abgetrennte Hand seines Förderers, die tätowierten Zeigefinger und Daumen zur Decke ausgestreckt. Langdon erkennt sofort, dass es sich bei der tätowierten Hand um eine Mysterienhand handelt, die der Meister einem Suchenden als Einladung entgegenstreckt, sich einer Elite anzuschließen, die das geheime Wissen sämtlicher Zeitalter hütet, wie die Legenden meinen.
Langdon muss erfahren, dass nicht Solomon ihn nach Washington bringen ließ, sondern ein Verrückter, der erwartet, dass Langdon ihm ein mystisches Portal öffnet, das eine Welt uralter Geheimnisse und verborgenen Wissens enthüllen würde. Um sein Ziel zu erreichen, hat Mal’akh, wie sich der Adept selbst nennt, nicht nur Peter Solomon in seiner Gewalt, sondern auch dessen Schwester Katherine, die als Noetik-Wissenschaftlerin in dem von ihrem Bruder im Smithsonian Institut eingerichteten Labor kurz davor steht, den wissenschaftlichen Kenntnisstand in bisher unerforschte Gefilde auszuweiten.
Überrascht ist Langdon von der Tatsache, dass auch die CIA ein großes Interesse daran zu haben scheint, was es mit den Alten Mysterien auf sich hat, die der Grund für die unerfreulichen Ereignisse sind, denen Langdon und die Solomons ausgesetzt sind.
„Mal’akh hatte Dinge erfahren, von denen er nichts geahnt hatte, darunter von Katherines Labor und ihren atemberaubenden und zugleich schockierenden Entdeckungen. Die Wissenschaft wird immer mächtiger, hatte Mal’akh erkannt, doch ich werde nicht zulassen, dass sie den Unwürdigen den Weg erhellt. Katherines Arbeit beantwortete alte philosophische Fragen mit moderner Naturwissenschaft. Erhört jemand unsere Gebete? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Haben Menschen Seelen? Es war unglaublich, aber Katherine hatte alle diese Fragen tatsächlich beantwortet – und noch andere mehr. Naturwissenschaftlich. Abschließend. Die Methoden, die sie benutzte, waren unwiderlegbar. Mit den Ergebnissen ihrer Experimente würde sie selbst die größten Skeptiker überzeugen. Wurden diese Informationen veröffentlicht, musste das Bewusstsein der Menschen sich grundlegend verändern.“ (S. 321) 
Um sowohl die Forderungen des Entführers der Solomons zu erfüllen als auch deren Leben zu retten, begibt sich Langdon mit Inoue Sato, der Direktorin des CIA-Office of Security, und Reverend Galloway auf eine Schnitzeljagd durch Washington, die Symbole einer durch die Freimaurer gehüteten Pyramide zu entschlüsseln.
Dan Brown hat mit „Illuminati“ (2003) und „Sakrileg“ (2004) nicht nur zwei internationale und mit Tom Hanks erfolgreich verfilmte Bestseller geschrieben, sondern auch das Interesse der Leserschaft an den dunklen Machenschaften der katholischen Kirche, an der scheinbar unüberwindbaren Kluft zwischen Religion und Wissenschaft, an den Mythen um den Orden der Templer und den Heiligen Gral geweckt.
Das Konzept, kulturgeschichtliche Fakten, die Faszination für geheimnisvolle Rituale und das verborgene Wissen der Alten Mysterien mit einer Thriller-Handlung zu verknüpfen, verfolgt Brown auch im dritten Roman um Robert Langdon. Der Plot unterscheidet sich dabei kaum von seinen Vorgängern, nur dass diesmal nicht der Vatikan („Illuminati“) oder der Heilige Gral („Sakrileg“) im Mittelpunkt des Geschehens stehen, sondern die Freimaurer.
Was „Das verlorene Symbol“ dabei so lesenswert macht, sind nicht allein die Ideen, die den Freimaurern zugrunde liegen, sondern einmal mehr die Verbindung zwischen Wissenschaft und Glaube. Die Botschaft, die der Roman vermittelt, könnte als Leuchtfeuer in einer Zeit dienen, die nach wie vor von religiösem Fanatismus und Intoleranz geprägt ist. Allerdings kolportiert Brown das Wesen der Freimaurer recht unreflektiert und weist ihnen, wie es die USA-Gründungsväter Benjamin Franklin und George Washington sicher geplant haben, die Rolle der Wahrheitshüter zu. Das wirkt dann doch oft arg vereinfacht, entspricht aber wiederum den eindimensional gestrickten Figuren, deren Dialoge sich so hölzern lesen wie Wikipedia-Einträge.
Davon abgesehen bietet „Das verlorene Symbol“ aber kurzweilige Thriller-Unterhaltung mit komprimierten Einblicke in die Geschichte der Freimaurer.
Leseprobe Dan Brown - "Das verlorene Symbol"

Clive Barker – „Mister B. Gone“/“Fahr zur Hölle, Mister B.“

Sonntag, 22. Februar 2015

(HarperCollins, 254 S., HC/Festa, 254 S., Tb.)
Mit seiner umfangreichen Anthologie von bis heute immer wieder verfilmten Kurzgeschichten, die ab 1984 in insgesamt sechs „Büchern der Blutes“ erschienen sind, hat sich der aus Liverpool stammende Künstler Clive Barker im Nu einen Namen im Horror-Genre gemacht, wurde von Stephen King als die „Zukunft des Horrors“ gepriesen und schuf mit der Verfilmung seiner eigenen Novelle „The Hellbound Heart“ unter dem Titel „Hellraiser“ einen der wichtigsten Horrorfilme des 20. Jahrhunderts. Seither hat Barker vor allem dunkle Fantasy und Kinderbücher veröffentlicht und sich als Maler etabliert. Hierzulande hat das Interesse an Barker allerdings stark nachgelassen.
So erscheint das 2007 von HarperCollins als edles Hardcover veröffentlichte Werk „Mister B. Gone“ erst sieben Jahre später als lieblos aufgemachtes Taschenbuch bei Festa.
Im Vergleich zur epischen „Abarat“-Reihe, deren vierter Band für den Sommer dieses Jahres angekündigt ist, kehrt Barker mit „Fahr zur Hölle, Mister B.“ wieder zu seinen Horror-Wurzeln zurück. Auf 250 kurzweiligen Seiten versucht der Dämon Jakabok Botch, den Leser seiner Lebensgeschichte zum Verbrennen des Buches zu animieren, das er in den Händen hält, aber natürlich will der Leser wissen, wie der Dämon überhaupt in dieses Werk gelangt ist.
Die Geschichte beginnt damit, dass Jakabok Botch mit seinem verhassten Vater Pappy G. in einem Abfallhaufen auf ein saftiges Steak und Bier stoßen, doch handelt es sich dabei um einen Köder, der die beiden Dämonen in ein Netz geraten lässt, das sie durch die neun Kreise der Hölle an die Oberwelt zieht. Allerdings kappt Jakabok unterwegs das Netz seines Vaters und trennt sich so für immer von ihm. In der Oberwelt sorgt der Dämon mit seinem verbrannten und entstellten Äußeren für Angst und Schrecken. Als er allerdings wieder in Gefangenschaft zu kommen droht, eilt ihm mit Quitoon ein Dämon zur Seite, der Jakabok stark beeindruckt.
„Quitoon kannte die Welt gut. Und er kannte nicht nur die Menschheit und deren Werke, sondern auch alles Mögliche, das ohne eindeutige Beziehung zwischen beiden existierte. Er wusste etwas über Gewürze, Parlamente, Salamander, Schlummerlieder, Flüche, Formen von Debatten und Krankheiten; über Rätsel, Ketten und Geisteszustände; über die Herstellung von Süßigkeiten, über Liebe und Witwen; über Geschichte für Kinder, über Geschichten für Erwachsene und Geschichten, die man sich an Tagen, wenn nichts eine Bedeutung zu haben scheint, selbst erzählen kann. Mir schien, als gäbe es kein einziges Thema, über das er nicht wenigstens ein bisschen Bescheid wusste. Und falls er über etwas Bestimmtes doch einmal nichts wusste, dann log er so unverfroren, dass ich jedes seiner Worte wie ein Evangelium akzeptierte.“ (S. 125) 
Gemeinsam ziehen sie im 14. Jahrhundert eine blutige Spur aus Feuer und Tod durch die Dörfer, die sie durchqueren. Nachdem sie unterwegs getrennt wurden, begegnen sie sich in Mainz wieder, wo die Schlacht zwischen Dämonen und Engeln entschieden zu werden scheint …
Der mittlerweile in Los Angeles lebende Clive Barker erweist sich in „Mister B. Gone“ einmal mehr als einfallsreicher Erzähler einer Geschichte, wie sie nur Barker zu kreieren versteht. Wenn er von Dämonen schreibt, betritt auch der Leser ganz neue Welten.
„Mister B. Gone“ zählt zwar nicht zu den besten Werken des Autors, aber ein kurzweiliges und dämonisches Lesevergnügen bietet es allemal.
Leseprobe Clive Barker - "Fahr zur Hölle, Mister B."

Reif Larsen – „Die Karte meiner Träume“

Samstag, 21. Februar 2015

(S. Fischer, 447 S., HC)
Der zwölfjährige Tecumseh Sparrow Spivet lebt auf der Coppertop Ranch nahe der winzig kleinen, von den Pioneer Mountains umgebenden Stadt Divide, Montana, als er einen Anruf erhält, der sein noch so junges Leben für immer verändern sollte. Am anderen Ende der Leitung meldet sich ein gewisser G. H. Jibson, Kustos für Illustration und Design am berühmten Smithsonian, und teilt T. S. mit, dass er den Baird-Preis für herausragende Leistungen in der populären Vermittlung wissenschaftlicher Sachverhalte gewonnen hat.
Spivets Mentor Dr. Yorn hat dem Institut ein Portfolio des leidenschaftlichen Kartographen vorgelegt, der die Tradition des Namens Tecumseh in der Spivet-Familie ebenso in Karten und Diagrammen festhält wie den Whiskykonsum seines Vaters, die Entstehung von Wurmlöchern in Iowa, das Vergehen der Zeit oder wie erwachsene Männer tanzen.
Der junge Spivet nimmt die Einladung nach Washington an, verrät dem Kustos allerdings nicht, dass er noch ein Kind ist, noch unterrichtet er seine etwas aus der Art geschlagene Familie von seinen Reiseplänen. Der Junge bringt einen Güterzug zum Stehen, indem er eine Signallampe rot anmalt, und macht sich auf eine abenteuerliche Reise, während der er das Tagebuch seiner Mutter liest. Während der Reise lernt der Leser nicht nur die Familiengeschichte der Spivets kennen - den schweigsamen, an Ritualen hängenden Vater, der die Ranch betreibt, die Mutter, die als Wissenschaftlerin einem nicht existierenden Käfer nachjagt, und die beiden Geschwister Gracie und Layton, der bei einem tragischen Unfall verstorben ist -, sondern auch warum und was T. S. Spivet alles in Diagrammen festhält.
„… seit der Steinzeit stellten die Menschen nun schon Dinge in Bildern dar, auf Höhlenwänden, im Staub, auf Pergament, auf Bäumen, Esstellern, Servietten, ja sogar auf der eigenen Haut, und einzig und allein zu dem Zweck, dass wir uns erinnern konnten, wo wir gewesen waren, wohin wir wollten und wohin wir gehen sollten. Tief in uns steckt der Wunsch nach solchen Wegweisern, nach Koordinaten, nach Absichtserklärungen, die uns aus dem Wust unseres Hirns herausführten, die sichtbar wurden in der wirklichen Welt. Seit meinen ersten Diagrammen davon, wie man Gott die Hand schüttelt, hatte ich gelernt, dass eine Darstellung nicht das Dargestellte selbst ist, doch konnte man sagen, genau dieser Zwiespalt war ja das Gute daran: der Unterschied zwischen einer Karte und dem Land selbst gab uns den Abstand, um unseren Platz in der Welt zu bestimmen.“ (S. 67) 
Gleich mit seinem Debütroman „Die Karte meiner Träume“ ist dem damals 28-jährigen New Yorker Reif Larsen 2009 ein ganz großer Wurf gelungen, der zeitgleich in 30 Ländern veröffentlicht und 2014 kongenial von Jean-Pierre Jeunet („Die fabelhafte Welt der Amelie“) verfilmt worden ist.
Schon optisch hebt sich das Werk von anderen Romanen ab, ist es doch liebevoll mit Randnotizen, Karten, Diagrammen und Anekdoten verziert, die das Lesen selbst zu einem Abenteuer machen und den Blick immer wieder von der eigentlichen Romanhandlung abschweifen lassen. „Die Karte meiner Träume“ ist ein Coming-of-Age-Roman der etwas anderen Art.
Er erzählt die Geschichte eines Jungen, der wie ein Fremdkörper in seiner eigenen Familie wirkt und der auf seiner Güterzugreise nach Washington auch zu sich selbst findet. Die Geschichte hat durchaus ihre Längen, aber durch den Charme, den der wissbegierige Ich-Erzähler ausströmt, bleibt der Leser gern am Ball, denn so liebevoll ist eine Geschichte über junge Persönlichkeitsentwicklung, Freundschaft, wissenschaftliche Neugierde, Schuld und Familie selten erzählt worden.
Leseprobe Reif Larsen - "Die Karte meiner Träume"

Ray Bradbury – „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“

Samstag, 14. Februar 2015

(Diogenes, 272 S., Tb.)
Kurz vor ihrem jeweils 14. Geburtstag fällt den beiden benachbarten Freunden James Nightshade und William Halloway ein Handzettel in die Hände, der für den morgigen 24. Oktober den Zirkus von Cooger & Dark ankündigt, einen bunten Rummelplatz und vielen Attraktionen wie der schönsten Frau der Welt, Mademoiselle Tarot, dem schwebenden Menschen, der Dämonen-Guillotine, Mr. Elektriko und dem illustrierten Mann. In der Nacht trifft der Zirkus mit dem Zug ein, wie Jim und Will mit freudiger Erregung beobachten, doch sie merken schnell, dass ungewöhnliche Dinge in der Stadt vorgehen: Der Friseur hat sein Geschäft wegen Krankheit geschlossen, auf dem Weg zum Zirkus entdecken sie die herrenlose Tasche des Blitzableiterverkäufers, der Jim zuvor noch einen Blitzableiter geschenkt hatte.
Besonders fasziniert sind sie von einem Karussell, das je nachdem in welche Richtung es sich dreht, die darauf fahrenden Menschen jünger oder älter macht. Allerdings werden Jim und Will bei ihrer Entdeckung selbst bemerkt und müssen nun um ihr Wohl fürchten. Wills Vater Charles entdeckt in der Bibliothek im Zeitungsarchiv Berichte über den Zirkus, wie er nachweisbar ab 1848 alle dreißig, vierzig Jahre im Oktober in die Stadt gekommen ist.
Schon hat Mr. Dark, der illustrierte Mann, die Spur der neugierigen Jungen aufgenommen und bietet ihnen Freikarten an. Zusammen mit Wills Vater versuchen die beiden Jungen, das Böse, das mit dem Zirkus in die Stadt gekommen ist, zu besiegen.
„Der Tod existiert nicht. Es hat ihn nie gegeben, es wird ihn nie geben. Aber wir haben von ihm so viele Bilder gemalt, all die Jahre hindurch, haben versucht, ihn festzuhalten, zu verstehen, dass wir ihn als Wesenheit ansehen, seltsam lebendig und gierig. Aber er ist nichts weiter als eine stehengebliebene Uhr, ein Verlust, ein Ende, Dunkelheit. Nichts. Und der Zirkus ist klug genug zu wissen, dass wir uns vor dem Nichts mehr fürchten als vor dem Etwas. Gegen ein Etwas kann man kämpfen. Aber … das Nichts?“ (S. 194). 
Kaum einer hat es je so eindringlich, einfühlsam und fantasiereich das Staunen von Kindern und Jugendlichen über die Wunder der Welt und des Lebens in Worte und Geschichten zu verpacken wie der amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury („Die Mars-Chroniken“, „Fahrenheit 451“) in der Blütezeit seiner auch produktivsten Schaffensperiode zwischen den 50er und 60er Jahren.
In seinem auch von Disney verfilmten Roman „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ (1962) erzählt er eine wunderbare Halloween-Geschichte von zwei abenteuerlustigen Jungen, die unverhofft mit dem Bösen konfrontiert werden, das sich zunächst nur in Andeutungen und unheilvollen Hinweisen manifestiert, dann aber zunehmend bedrohlichere Formen annimmt. Hier verbindet Bradbury geschickt den Reifungsprozess heranwachsender Jungen mit der fantastischen Geschichte eines unheimlichen Zirkus, wobei Wills Vater die Jungen immer wieder mit faszinierenden Monologen über die großen Themen verzaubert und sie so zur Schwelle zum Erwachsenensein befördert.
Der 2012 verstorbene Schriftsteller verblüfft dabei mit einer wunderbar poetischen Sprache, bildgewaltigen Beschreibungen und wundersamen Assoziationen, die zum Träumen und Fantasieren einladen und Erinnerungen an jene goldenen Tage weckt, als man selbst noch unbeschwert und neugierig durch die Sommer und Herbste tanzte.