Joe R. Lansdale – „Kahlschlag“

Samstag, 22. August 2015

(Suhrkamp, 460 S., Tb.)
An einem Nachmittag, als ein Zyklon Frösche, Flussbarsche und Elritzen in dem osttexanischen Kaff Camp Rapture vom Himmel regnen lässt, verabreicht der nicht nur leicht angetrunkene Pete Jones seiner Frau Sunset wieder eine ordentliche Tracht Prügel und hat ihr schon fast alle Kleider vom Leib gerissen, als Sunset den .38er Revolver aus dem Holster des Sheriffs holt und ihn mit einem Schuss in den Schädel ins Jenseits schickt. Sie sucht Zuflucht bei ihrer Schwiegermutter Marilyn, die Verständnis für Tat aufbringt, weil ihr eigener Mann auch gewalttätig ist und den sie daraufhin aus dem Haus wirft.
Als Hauptanteilseignerin der örtlichen Sägemühle setzt sie sich dafür ein, dass Sunset (die ihren Namen der Farbe ihres Haars verdankt, das rot wie ein Sonnenuntergang leuchtet) den Job ihres verstorbenen Mannes übernimmt. Sie setzt den gut aussehenden Durchreisenden Hillbilly und den etwas verwahrlosten Clyde als Deputys ein und bekommt es mit einem Fall zu tun, bei der ein Schwarzer die schwangere Geliebte ihres Mannes und den dazugehörigen Säugling in einem Tongefäß auf seinem Feld gefunden hatte.
Viele glauben, dass Sunset Jimmy Joe und das Baby aus Rache getötet hat, also setzt sie sich daran, den Fall selbst aufzuklären. Bei ihren Recherchen stößt Sunset im Nachbardorf auf den skrupellosen McBride mit seinem irren Schläger Two Schläger, die das Leben der Schwarzen zur Hölle machen und ihnen ihr Land wegnehmen, auf dem auch Öl zu finden ist.
„Jede Wette, dass ich mit allen im Einklang bin, die sich hier auf dieser Kugel aus Erde drehen. Im Einklang mit allen, außer mit den Arschlöchern, die Farbige hassen und am liebsten lynchen, auch wenn ihnen eigentlich eine gerechte Verhandlung zusteht. Im Einklang mit allen außer meiner Tochter, von der ich nicht weiß, wie ich mit ihr zurechtkommen soll.“ (S. 331) 
Sunset hat alle Hände voll zu tun, ihr fast erwachsene Tochter Karen, ihre taffe Schwiegermutter und sich selbst in einer gewalttätigen Männerwelt zu behaupten, in der die Schwarzen und Frauen in Angst vor Mord, Prügel und Vergewaltigung leben, in der uneingeschränkt das Gesetz des Stärkeren zählt und Männer für ihre Taten nicht gradestehen müssen.
Mit diesen Zuständen räumt die unerschrockene Sunset gnadenlos auf, auch wenn sie dabei immer wieder Rückschläge und Enttäuschungen einstecken muss, weitere Morde und Gewalttäten nicht verhindern kann, aber zuverlässige Freunde auf ihrer Seite weiß.
Der mit dem American Mystery Award, dem British Fantasy Award und fünfmal mit dem Bram Stoker Horror Award ausgezeichnete Autor Joe R. Lansdale zählt vor allem mit seinen Krimis, die in seiner texanischen Heimat angesiedelt sind, zu den wichtigsten Vertretern seines Genres. Durch die Veröffentlichung seiner Werke bei Suhrkamp und Heyne findet Lansdale endlich auch in Deutschland die verdiente Anerkennung.
Mit „Kahlschlag“ hat er einen faszinierenden Plot mit einer außergewöhnlichen Ausgangslage kreiert, aus der eine gut aussehende Frau in einer von skrupellosen Männern regierten Welt ihren Weg macht. Die Figuren, die Lansdale dabei ins Spiel bringt, sind dabei selten in klaren Gut- und Böse-Kategorien einzuordnen. Stattdessen muss Sunset erst selbst auf schmerzvolle Weise erfahren, auf wen sie sich verlassen kann, während ihre Gefühle dabei oft widersprüchliche Signale aussenden. Der in den 1930er Jahren angesiedelte Roman strotzt vor Gewalt und sexuellen Anspielungen und beschreibt anschaulich, wie Frauen und Schwarze unterdrückt werden, aber auch ihre Bestimmung finden können. Das ist alles in allem so packend und unterhaltsam geschrieben, als würde dieser Mix aus bewährten Rachemotiven des Westerngenres mit bilderreichen Horrorakzenten und gesellschaftskritischen Tönen das Normalste der Welt sein.
Lansdale entpuppt sich in „Kahlschlag“ einmal mehr als Meister des psychologisch tiefgründigen Thrillers, in dem starke Figuren auch mal Fehler machen dürfen.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Kahlschlag"

Gerhard Henschel – (Martin Schlosser: 6) „Künstlerroman“

Sonntag, 16. August 2015

(Hoffmann und Campe, 573 S., HC)
Nach viereinhalb Monaten Fernbeziehung plant der 23-jährige Germanistik-Student Martin Schlosser, von Berlin zu seiner Freundin Andrea nach Aachen zu ziehen, denn im Gegensatz zu ihm, der sein Studium zum Wintersemester ´85/86 in Köln fortsetzen könne, bleibt Andrea diese Flexibilität bei ihrem Sozialpädagogik-Studium vorenthalten. Martin erhofft sich von diesem Coup vor allem, seine Freundin vor ihrer Neigung zu anderen Männern kurieren zu können, obwohl sie vereinbart haben, eine offene Beziehung zu führen. Martin findet ein günstiges WG-Zimmer und wird von Andrea erst einmal zu einem Bioenergetik-Seminar geschleift, jobbt bei Tetra Pak und verfolgt zwischen seinen ermüdenden Schichten in der Getränkeverpackungsindustrie und dem ähnlich aufreibenden Beziehungsgeplänkel auch die deutsche Kulturlandschaft zu erkunden, bis er nach Oldenburg zieht und seinen Traum zu verwirklichen sucht, Schriftsteller zu werden.
Dass er dafür sein Studium hinschmeißt, stößt bei seinen Eltern in Meppen auf wenig Verständnis. Und kompliziert bleibt auch die Beziehung zu Andrea. So wie sich Martin immer wieder in andere, leider unerreichbare Frauen verguckt, findet auch Andrea andere Männer attraktiv. Es folgen Streitereien, Trennungs- und Versöhnungsbriefe und Tarot-Sitzungen.
„Nach einer wonnevollen Nacht holte Andrea wieder zum Angriff aus: Ihr sei nicht daran gelegen, ‚die inneren Widersprüche unserer Beziehung mit einer verklärenden Soße zuzukleistern‘, fuhr sie mich an, nachdem ich den Fauxpas begangen hatte, das Thema Birgit zu streifen.
Schon wieder stand alles auf der Kippe. Obwohl’s gerade noch so schön gewesen war.
But every day of he year’s like playin‘ Russian roulette … 
Mußten bei uns denn immer die Stühle fliegen? Und das vor den Ohren der beiden Mitbewohnerinnen?
Sie ging dann ohne mich spazieren, und ich nahm ein Beruhigungsbad mit allem, was die Hausapotheke hergab: Lavendel, Baldrian, Melisse und Calendula.“ (S. 279)
„Künstlerroman“ stellt nach „Kindheitsroman“ (2004), „Jugendroman“ (2009), „Liebesroman“ (2010), „Abenteuerroman“ (2012) und „Bildungsroman“ (2014) bereits den sechsten Band der Chronik um den Ich-Erzähler Martin Schlosser dar und verbindet auf höchst vergnügliche Weise einen weiteren turbulenten Lebensabschnitt des jungen Studenten mit Momentaufnahmen aus der deutschen Medien-, Kultur- und Politikgeschichte der 80er Jahre.
Henschel verzichtet dabei auf eine Einteilung seiner Geschichte in Kapitel, sondern fügt die Episoden aus Schlossers Leben und Betrachtungen über den Zustand der deutschen Kultur in lose zusammenhängenden Absätzen aneinander. Dabei ist die Beziehungsakrobatik, in die sich Schlosser und seine Freundin Andrea verheddern, ebenso unterhaltsam wie Schlossers Ausflüge in die Provinz von Meppen oder Walter Kempowskis Ferienlager in Nartum. Und wenn der sympathische Ich-Erzähler bei seinen umständlichen Bemühungen, seinen Lebensweg und –sinn zu finden, über die Ereignisse in Politik und Medien nachsinnt, wird dem Leser genüsslich vor Augen geführt, was die Welt Mitte der 80er bewegte und schockierte, von Kohls Erinnerungslücken in der Flick-Affäre über Mike Krügers Familienshow „Vier gegen Willi“, Jörg Drews Verriss von Isabel Allendes „Von Liebe und Schatten“ im „Merkur“, Gorbatschows Abrüstungsbestrebungen, Geißlers Stellungnahme zu den Risiken der Atomkraftnutzung, Henscheids Kolumne „Sudelblätter“ im „Zeitmagazin“, die Fußball-WM und der Umgang mit der radioaktiven Katastrophe von Tschernobyl, um nur einige zu nennen.
Henschel präsentiert sich damit als Polaroid-Chronist der deutschen Geschichte, wobei er die einzelnen Ereignisse nur kurz anreißt, hier und da einen Kommentar zitiert, um dann selbst kurz und prägnant mit Schlossers Ein-Satz-Fazit abzuschließen. Zusammengehalten wird diese amüsant zusammengestellte Chronik durch eine faszinierend vielschichtige und vergnügliche Lebens- und Liebesgeschichte, in die sich wunderbar nachfühlend die Lebenswirklichkeit der 80er Jahre wiederfindet, das Trampen zwischen den Autobahnanschlussstellen, die Suche nach günstigen WG-Zimmern ohne Badezimmer, die Abenteuer mit Mietwagenfirmen, die Lotterie bei den Studentenjobs und die Faszination für Tarot und alternative Medizin.
Wir sind gespannt, wie es wohl weitergeht im Leben von Martin Schlosser!

Joe R. Lansdale – „Drive-In“

Samstag, 15. August 2015

(Heyne, 736 S., Pb.)
Viertausend Autos fasst das „Orbit“, das größte, an der letzten Ausfahrt der Interstate-45 liegende Autokino in Texas. Nachdem Jack die obligatorische All-Night-Horror-Show am Freitag besucht hat, trifft er sich mit seinen Jungs in Dans Schuppen, wo sie beim Billardspielen den coolen Willard kennenlernen. Randy, Bob und Jack verabreden sich mit Willard für den nächsten Freitag, um mit ihm ins Drive-In zu fahren. Als sie dort eintreffen, ist die Party schon voll in Gange. Bevor die angekündigten Filme „I Dismember Mama“, „Evil Dead“, „Die Nacht der lebenden Toten“, „Toolbox Murders“ und „Texas Chainsaw Massacre“ anlaufen, haben es sich die Cowboys und Cowgirls, Punks, Alt-Hippies und Familien mit ihren Holzkohlengrills und Bierdosen auf Gartenstühlen, Motorhauben und Decken gemütlich gemacht.
Kaum hat der Trash-Klassiker „I Dismember Mama“ angefangen, taucht ein gewaltiger roter Komet am Himmel auf und löscht den Nachthimmel mit seinen Sternen aus. Doch nicht nur der Mond und die Sterne sind verschwunden, als der Komet erloschen ist – alles außerhalb des Autokinos liegt in völliger Schwärze. Mehr noch: Als ein Cowboy seinen Arm in die Schwärze außerhalb der Umzäunung ausstreckt, löst sich nicht nur sein Arm auf, sondern sein Körper verflüssigt sich zu einer ekligen Brühe. Was folgt, ist ein Ausnahmezustand der besonderen Art.
Während die „Orbit“-Besucher über den Ursprung der Katastrophe die wildesten Vermutungen anstellen, versorgt der Manager die Menschen mit kostenlosem Popcorn und Softdrinks, doch als nach Tagen der Vorrat aufgebraucht ist, steht bald auch Menschenfleisch auf der Speisekarte. Randy und Willard vereinen sich zu einem Wesen namens Popcorn King, der seine Jünger mit außergewöhnlichem Popcorn beglückt.
„Bob und ich dösten die meiste Zeit vor uns hin, und wenn wir so hungrig waren, dass wir’s nicht mehr aushielten, gingen wir zum Camper, legten uns auf den Boden und aßen, kauten ganz langsam, redeten hin und wieder, als ob es was zu sagen gäbe, hörten uns einen Film an, dessen Ton gedämpft über den Lautsprecher in den Camper drang. Es fiel mir schließlich schwer, mich an das Leben vor dem Drive-In zu entsinnen. Ich konnte mich an Mom und Dad erinnern, aber ich sah ihre Gesichter nicht vor mir und hätte nicht sagen können, wie sie sich bewegt oder wie sie geredet hatten. Ich konnte mich an keine Freunde erinnern, nicht mal an Freundinnen, deren Gesichter häufig durch meine Träume gespukt hatten. Meine Vergangenheit verflüchtigte sich wie Feuchtigkeit auf einem beschlagenen Spiegel.
Und die Filme liefen weiter.“ (S. 133) 
Doch Jacks eigentliche Odyssee geht erst ab dem zweiten Band („Keins dieser üblichen Sequels“, so der programmatische Untertitel) so richtig los. Dann erwarten ihn und seine Wegbegleiter Cryer und Bob ein urzeitlicher Dschungel mit Dinosauriern und Popalong, ein Fernsehgesicht, das seinen Anhängern Popcorn und Candy und Softdrinks vom Himmel fallen lässt. So richtig abgefahren wird es allerdings im dritten Teil, wenn Jack mit seinen Gefährten erst eine abenteuerliche Bustour unternimmt und nach wochenlangem Treiben auf dem Meer dann wie Noah in einem Wal landet, in dem das nächste Grauen wartet …
Der Texaner Joe R. Lansdale ist zwar vor allem durch seine Krimi-Reihe um Hap Collins und Leonard Pine bekannt geworden, doch seinen literarischen Einstand feierte er mit der 1997 begonnenen „Drive-In“-Trilogie, die aus der Einladung des „Twilight Zone“-Herausgebers T.E.D. Klein resultierte, einen Artikel für das Magazin zu schreiben. Lansdale wollte „eine liebevolle Satire auf Horrorfilme und die menschliche Dummheit schreiben. Über unser ureigenes Bedürfnis, so gut wie alles für bare Münze zu nehmen, wenn man sich dabei nur besser fühlt. Religion, Astrologie, Numerologie, was man sich nur vorstellen kann“, so der Autor in seinem Vorwort zur jetzt erstmals komplett auf Deutsch erschienen „Drive-In“-Trilogie (S. 9).
Tatsächlich lässt Lansdale in seiner aberwitzigen Tour de Force so einige selbsternannte Prediger und Anführer auffahren, die ihre Anhänger mit den absurdesten Versprechen verführen. Dem Autor gelingt dabei eine höchst unterhaltsame, mit beißendem Humor versehene Hommage an die längst vergessene Autokino-Kultur und den trashigen Filmen, die dort immer wieder zu sehen waren. Zu den Vorführungen von „Die Nacht der lebenden Toten“ und „The Texas Chainsaw Massacre“ bildet „Drive-In“ das literarische Pendant. Mit sichtlicher Freude an den geschilderten menschlichen Gelüsten und den oft abseitigen Wegen zu ihrer Befriedigung seziert Lansdale die bizarre Landschaft der menschlichen Spezies. Das liest sich stellenweise wie bitterböser Horror und ätzende Science-Fiction, aber „Drive-In“ stellt vor allem eine blutgetränkte, nach Scheiße und Sperma stinkende Gesellschaftssatire dar, die einen ganz anderen Autor präsentiert, als wir ihn durch starke, ganz und gar realistisch gezeichnete Psycho-Thriller wie „Die Kälte im Juli“ und „Dunkle Gewässer“ kennen. „Ihre heftige ästhetische Wirkung rührt daher, dass sie etwas mit obsessiver Detailbesessenheit ausgestalten, was im Horror-Genre sonst eher nur einzelne Schockszenen ergibt, hier eine Vignette, da einen Höhepunkt: den Abgrund“, resümiert Dietmar Dath, einer der Übersetzer, in seinem Nachwort (S. 733).
Wer also keine Berührungsängste mit einem zutiefst verstörenden Subtext kennt, den uns Lansdale mit seiner ebenso unterhaltsamen wie perfiden Genre-Mixtur präsentiert, wird bei der Lektüre von „Drive-In“ viel zu lachen und einiges nachzudenken haben, wenn der höchste Grad an Vorstellungskraft erst einmal aktiviert ist.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Drive-In"

F. Paul Wilson (Handyman Jack 10) – „Der Erbe“

Sonntag, 9. August 2015

(Festa, 469 S., Tb.)
Jack sitzt gerade vor seinem Kaffee in seiner Stammkneipe Julio’s an der Upper West Side von New York, als er von dem einst erfolgreichen Werbefuzzi Timmy O’Brien darum gebeten wird, bei der Suche nach seiner am Vormittag verschwundenen 14-jährigen Nichte Caitlin zu helfen. Jack tätigt einige Anrufe und bekommt nach einiger Zeit tatsächlich einen Hinweis durch einen Obdachlosen, der etwas gesehen haben will. Tatsächlich kann Jack im letzten Augenblick verhindern, dass das Mädchen Opfer einer offensichtlich rituellen Zeremonie geworden ist.
Jack heftet sich an die Fersen der Männer, die in ihren schwarzen Anzügen mit Hüten und Sonnenbrillen einen merkwürdigen Eindruck hinterlassen, und sieht sich unversehens mitten in der seit ewigen Zeiten währenden Auseinandersetzung zwischen den „Verbündeten“ und der „Andersheit“.
„Die Pointe war die, dass die Menschheit und ihre Nische der Realität nicht einmal der Hauptgewinn, sondern nur ein ganz kleiner Jeton in einem Spiel mit sehr hohen Einsätzen waren, das sich über das ganze Multiversum erstreckte. Und offenbar wechselten die Jetons auch schon mal den Besitzer. Keine Seite konnte sich zum Sieger erklären, solange sie nicht über alle Jetons verfügte. Vielleicht würde es nie einen Gesamtsieger geben, aber das Spiel ging weiter. Und weiter.
Und auch wenn die Erde kein besonders wertvoller Spielstein war, war der Einsatz hier doch sehr hoch. Es ging um alles.“ (S. 105) 
Ehe sich Jack versieht, wird er von einem der Oculi, die sich als Netzwerk von Männern und Frauen verstehen, die als Agenten des Verbündeten den Besitzstand der Menschheit wahren sollen, zum Erbe des Verbündeten erklärt. Mit dieser Offenbarung kann Jack ebenso wenig anfangen wie die Yeniceri im unmittelbaren Umfeld des Oculus, denn vor allem Miller hat damit gerechnet, dass der Erbe aus ihren eigenen Reihen käme.
Wie Jack bald am eigenen Leib erfahren muss, ist die Entführung von Caitlin nur der Auftakt zu einer Operation gewesen, in deren Verlauf Jack um seine Allerliebsten bangen muss, um seine Frau Gia, seine Stieftochter Vicky und das noch ungeborene gemeinsame Kind von Gia und Jack …
Mit dem 1984 veröffentlichten Roman „The Tomb“ (dt. „Die Gruft“) hat der amerikanische Mediziner und Autor F. Paul Wilson die Reihe um Repairman Jack eröffnet, der in der deutschen Übersetzung kurioserweise als Handyman Jack eingeführt wurde und sich mittlerweile in einer eigenen Serie als Problemlöser der besonderen Art etabliert hat. In der Handyman-Jack-Reihe verknüpft Wilson Elemente aus Krimi, Horror und Science-Fiction, wobei der kosmische Krieg zwischen den Verbündeten und der Andersheit auch in „Der Erbe“, dem mittlerweile 10. Band im Handyman-Jack-Zyklus, eine wesentliche Rolle spielt. Dabei werden Ereignisse aus Jacks jüngerer Vergangenheit wieder an die Oberfläche gespült, vor allem der dem Zorn Allahs zugeschriebene Anschlag auf dem La-Guardia-Flughafen, bei dem auch Jacks Vater ums Leben kam.
Das übernatürliche Element spielt in „Der Erbe“ zwar eine handlungstreibende Rolle, wird aber von Wilson recht diffus dargestellt. Weitaus lebendiger und überzeugender ist der Plot ausgefallen, in dem Jack ganz programmatisch mit der Herausforderung umgeht, das Leben seiner jungen Familie zu schützen und sich endlich eine offizielle Identität zu verschaffen, damit er die Rolle des Vaters auch legitim ausfüllen kann.
„Der Erbe“ zählt zwar nicht zu den besten Werken der Reihe, zeigt Handyman Jack aber von einer sehr menschlichen Seite und ist ebenso spannend wie unterhaltsam geschrieben, auch wenn der Plot gerade an den Stellen an Glaubwürdigkeit einbüßt, wenn kosmische Kräfte Dinge in Gang bringen, die der menschlichen Erfahrung zuwiderlaufen.
Leseprobe F. Paul Wilson - "Der Erbe"

Don Winslow (Neal Carey 1) – „London Undercover“

Dienstag, 4. August 2015

(Suhrkamp, 370 S., Tb.)
Seit Neal Carey als elfjähriger Junge, dessen Vater sich nie hatte blicken lassen und dessen Mutter mit ihrer Sucht mehr Geld verprasste, als sie nach Hause brachte, beim Taschendiebstahl von Joe Graham erwischt worden ist, nahm dieser den talentierten Jungen unter seine Fittiche und brachte ihm alles bei, bis Neal zu einem echten Überwachungsgenie herangewachsen war. Neal begann für die Bank der Familie Kitteredge zu arbeiten, deren Kunden größten Wert auf Diskretion legen, und so wurde seit 1913 eine bankinterne Agentur aufgebaut, die sich um das Glück und die Sicherheit der prominenten Bankkunden kümmert.
Nachdem Neal acht Monate lang nichts von Graham gehört hat, bekommt er von ihm den Auftrag, die 17-jährige Tochter von Senator Chase ausfindig zu machen, die seit drei Monaten verschwunden ist und zuletzt in London gesehen wurde. Die Polizei wurde bislang nicht involviert. Bis zum August, wenn John Chase seinen Wahlkampf beginnt, soll seine Tochter Allie wieder aufgetaucht sein. Bevor Neal nach London reist, erfährt er bei seinen Recherchen, dass John Chase gar nicht der Vater von Allie ist, sie aber jahrelang missbraucht hat.
„Also läuft es wie immer. John Chase ist ein Vertreter des US-Senats, vielleicht wird er eines Tages Vizepräsident, und er hat Geld auf der Bank. Er vergewaltigt seine Stieftochter und kommt ungeschoren davon, weil einer wie ich alles unter den Teppich kehrt. Neal Carey, Hausmeister der Reichen und Mächtigen.
Und dieses Arschloch verlässt sich darauf, dass Allie vor lauter Scham die Klappe hält, während sie mit der Familie für Pressefotos posiert und auf eine weit entfernte Schule geschickt wird, möglicherweise in der Schweiz. Und ich werde ihm dabei helfen. Weil das besser ist, als dass ein Mädchen da draußen rumläuft und zugrunde geht, weil sie glaubt, mit dem eigenen Vater Sex gehabt zu haben. Und weil ich irgendwann auch mal mit dem College fertig werden will.“ (S. 64f.) 
Doch die Suche nach Allie in London gestaltet sich für Neal erwartungsgemäß schwierig, weil es nicht den kleinsten Anhaltspunkt für ihren Aufenthaltsort gibt. Doch sobald Neal dann doch eine Spur aufgenommen hat, bewegt sich der junge Mann in einem Strudel aus Drogen, Betrug und Gewalt …
Der amerikanische Schriftsteller Don Winslow zählt seit seinen Bestsellern „Tage der Toten“ (2010) und „Zeit des Zorns“ (2011) zu den international angesagtesten Krimi-Autoren. Seine Karriere begann er 1991 mit „A Cool Breeze on the Underground“, dem ersten Roman um den raffinierten Privatermittler Neal Carey, dem bis heute vier weiter folgen sollten. Der in der Neuübersetzung von Conny Lösch 2015 unter dem Titel „London Undercover“ veröffentlichte Debütroman von Winslow fasziniert durch einen vielschichtigen Plot und sympathische Protagonisten, wobei vor allem das Vater-Sohn-ähnliche Verhältnis zwischen Graham und seinem Schüler Neal durch Rückblenden großartig herausgearbeitet wird.
Dabei wird schnell deutlich, dass Neal nicht nur ein Schüler mit glänzender Auffassungsgabe ist, sondern seine Aufträge ebenso gewissenhaft wie raffiniert ausführt. Neal geht es eben nicht nur darum, ein vermisstes Mädchen zu seiner Familie zurückzubringen, sondern auch jene Leute auszutricksen, mit denen Neal bei seinem Einsatz offene Rechnungen zu begleichen hat.
Das ist nicht nur spannend und unterhaltsam geschrieben, sondern ist auch für die eine oder andere witzige Überraschung, literarische Anspielung und subkulturelle Akzente gut.
Leseprobe Don Winslow - "London Undercover"

Richard Laymon – „In den finsteren Wäldern“

Sonntag, 26. Juli 2015

(Festa, 256 S., Tb.)
Neala O’Hare ist gerade mit ihrer Freundin Sherri in ihrem MG zu einem Wanderurlaub in die Wälder von Kalifornien unterwegs, als ein beinloses Wesen mit kraftvollen und stark behaarten Armen ihren Weg kreuzt. Um diesen Schrecken zu verdauen, kehren sie abends in einen Imbiss ein, der sich als entsetzliche Falle entpuppt. Die beiden jungen Frauen werden von vier Männern verschleppt, die ihre Habseligkeiten einsammeln und ihre Opfer in den Wald verschleppen, wo sie an Bäume gefesselt und ihrem Schicksal überlassen werden. Zur gleichen Zeit ist der Highschool-Lehrer Lander Dills mit seiner Frau Ruth, der volljährigen Tochter Cordelia und ihrem Freund Ben ebenfalls in den Urlaub unterwegs. Da sie es nicht wie geplant bis zum Mule Ear Lake schaffen, wollen sie in Barlow übernachten, doch das angesteuerte Motel erweist sich ebenfalls als eine Falle.
Als sich Ben und Cordie abseits der Motelanlage miteinander vergnügen, werden sie ebenfalls verschleppt, dann gerät auch seine Frau in die Fänge von unheimlichen Kreaturen. Wie die beiden Mädchen bald herausfinden, haben die Einwohner von Barlow vor Generationen einen Handel mit den sogenannten Krulls in den Wäldern geschlossen, die sich durch jahrzehntelange Unzucht vermehrt haben. Junge Frauen sollen dafür sorgen, dass ihr Genpool mit frischem Blut versorgt wird. Als Lander sich aufmacht, seine Familie zu retten, wird er von einem ebenso starken Rachedurst wie von der erotisch geprägten Faszination für die im Wald lebenden Kreaturen getrieben.
„Er sollte von diesem Dorf voller Wahnsinniger verschwinden, so weit ihn die Füße trugen. Und versuchen, Cordelia zu finden.
Und Ruth?
O Gott, was war mit Ruth?
Vielleicht befand sie sich in diesem Augenblick irgendwo in diesem Dorf. Noch am Leben. Darauf wartend, bis sie damit an der Reihe wäre, Futter für diese Dämonen zu werden.
Die Chancen dafür, dass sie noch lebte, standen tatsächlich nicht schlecht. Wenn diese Monster auch nur einen Hauch Vernunft besaßen, würden sie Ruth noch eine Weile am Leben lassen. Und zuerst die Leichen verzehren, bevor sie ihre lebenden Gefangenen schlachteten.“ (S. 96) 
Es ist vor allem dem Heyne-Verlag zu verdanken, den Großteil des hierzulande unbekannten Werkes des 2001 verstorbenen Horror-Schriftstellers Richard Laymon posthum veröffentlicht zu haben, doch auch der Festa-Verlag bringt immer wieder mal den einen oder anderen Band aus Laymons umfangreichen Schaffen heraus.
„In den finsteren Wäldern“ zählt sicher nicht zu den besten Arbeiten von Laymon, aber sicher zu seinen kompromisslosesten. Interessant ist vor allem die Entstehungsgeschichte von Laymons erst zweiten Roman nach „Haus des Schreckens“ (1980), den der Heyne-Verlag 2008 zusammen mit den Folgebänden „Das Horrorhaus“ und „Mitternachtstour“ in „Der Keller“ publizierte.
Wie Laymons Tochter Kelly im Vorwort rekapituliert, hat Warner Books nicht nur die Umschlagillustration versaut, sondern auch rigide Änderungen am Manuskript vorgenommen, so dass Laymon später meinte, „The Woods Are Dark“ (1981) sei das Buch gewesen, das seine Karriere ruinierte. Kelly ist es irgendwann gelungen, die überall verstreuten Seiten des Originalmanuskripts zu finden, so dass es 2008 endlich in der ursprünglich angedachten Fassung erscheinen konnte. Laymon hält sich dabei nicht mit auch nur irgendwie gearteten Einleitung auf, sondern konfrontiert den Leser ebenso wie seine beiden hübschen Protagonistinnen Neala und Sherri mit einem furchterregenden Wesen, das stellvertretend für die später so degeneriert dargestellten Krulls eingeführt wird. Der Autor hält sich auch nicht mit den persönlichen Hintergründen seiner Figuren auf. Außer den vagen Ferienzielen und den Namen erfährt der Leser eigentlich nichts über sie. Dass Lander Dills immer wieder literarische Zitate von sich gibt, wird mit seiner Highschool-Lehrtätigkeit erklärt.
Was Laymon an Figurenzeichnung und psychologischer Tiefe hier vermissen lässt, macht er aber durch Tempo, Spannung und blutigen Horror wieder locker wett. Dabei dürfen erotische Eskapaden und Wunschträume natürlich ebenso wenig fehlen wie sein ausgesprochen bizarrer Humor, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Allerdings ist der Leser auch aufgefordert, den holprigen Plot mit seiner Fantasie zu füllen. Selten bekommt man das Gefühl, dass hier tatsächlich das vollständige Manuskript vorliegt und Laymon eine zusammenhängende Geschichte erzählt.
Aber wie Schriftsteller-Kollege Brett McBean im Nachwort richtig bemerkt, kommt auch in „In den finsteren Wäldern“ der filmnahe Schreibstil des Autors voll zur Geltung.
„Es ist der beste Low-Budget-Exploitation-Horrorstreifen, der nie gedreht wurde“, schreibt er und kommt zu dem Schluss: „Das Buch gleicht einer raschen, vor Blut strotzenden Geisterbahnfahrt. Es ist wie Menschenfleisch, das von jeglichem Fett befreit in einer wahnsinnigen literarischen Orgie verschlungen wird.“ (S. 255f.)
Leseprobe Richard Laymon - "In den finsteren Wäldern"

Jilliane Hoffman – „Samariter“

Samstag, 25. Juli 2015

(Wunderlich, 479 S., HC)
Die Überraschungsparty, die Nick „Big Mitts“ Lavecki für seine Frau Charity zu ihrem dreißigsten Geburtstag veranstaltet hat, wird Charitys Schwester Faith Saunders lange in Erinnerung bleiben. Obwohl Nick sie erst am Sonntagmorgen eingeladen hatte, hat sich Faith mit ihrer vierjährigen Tochter Maggie von Parkland aus die 250 Kilometer auf den Weg nach Sebring gemacht, wo sie am Abend wieder einmal feststellen durfte, dass Nick ein ausgemachtes Arschloch ist, der sich vor aller Augen an andere Frauen heranmacht. Allerdings hält Charity nach wie vor zu ihrem Mann, so dass es nicht nur zu einem Streit zwischen den Schwestern kam, sondern Faith mit Maggie trotz der Orkanwarnung überstürzt aufgebrochen ist.
Faith spielt das Drama auf dem Rückweg noch einmal in ihrem Kopf ab, als sie merkt, dass sie etwas angefahren hat, doch als sie aussteigt, kann sie nichts entdecken. Offensichtlich hat sie sich aber verfahren. Als Faith bei starkem Regen in der Ferne eine Leuchtreklame und damit ein Zeichen von Zivilisation entdeckt, fällt ihr zunächst ein Stein vom Herzen, doch dann klopft plötzlich eine Frau um Hilfe bittend an ihr Fenster. Statt diesem Hilferuf nachzukommen, verschließt Faith die Türen und beobachtet nur noch, wie zwei Männer die junge Frau wegführen. Erst als Maggie den Vorfall ihrem Vater Jarrod schildert, meldet sich Faith bei der Polizei, die endlich einen Hinweis auf den Serienmörder bekommen, den die Polizei als Derrick Poole identifiziert. Doch als die 17-jährige Noelle Langtry verschwindet, kann Poole, der von der Detective Bryan Nill unter Beobachtung steht, nichts mit ihrer Entführung zu tun haben. Faith ist von den Vorgängen so traumatisiert, dass sie sich niemandem anzuvertrauen vermag, weder ihrem Mann Jarrod, dem sie seine Affäre mit einer jungen Anwaltsgehilfin noch nicht verziehen hat, noch ihrer Geschäftspartnerin und Freundin Vivian oder Detective Nill.
„Es war Zeit, reinen Tisch zu machen und das schreckliche Chaos aufzuräumen, das sie zu ersticken drohte, das jeden Aspekt ihres Lebens vergiftete und mit all den Lügen jeden ihrer Gedanken verschlang. Sie musste das Richtige tun, egal mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen hatte. Sie musste tun, was sie konnte, um Poole und seinen Partner/Freund von der Straße zu bekommen, nicht nur, damit sie nachts wieder schlafen konnte, sondern auch wegen der anderen Frauen, denen die beiden in Zukunft weh tun würden.“ (S. 241) 
Doch die Möglichkeit, der Polizei alles zu erzählen, was sie gesehen hat, lässt Faith verstreichen. Stattdessen flüchtet sie sich immer mehr in den Alkohol und muss dabei zusehen, wie Jarrod sich immer weiter von ihr entfernt und ausgerechnet Poole tiefer in ihr eigenes Leben eindringt …
Die amerikanische Schriftstellerin Jilliane Hoffman weiß, wovon sie schreibt. Immerhin war sie Staatsanwältin Florida und unterrichtete die verschiedensten Spezialeinheiten der Polizei in allen juristischen Belangen. Gleich mit ihrem Romandebüt „Cupido“ eroberte Hoffman weltweit die Bestsellerlisten und ließ mit „Morpheus“, „Vater unser“, „Mädchenfänger“ und „Argus“ weitere Bestseller folgen. Dazu wird sich fraglos auch „Samariter“ gesellen.
Der Plot wirkt nicht immer unbedingt glaubwürdig, aber einer alkoholkranken Protagonistin, die weder mit ansehen kann, wie sich ihre geliebte Schwester an der Seite ihres widerwärtigen Ehemanns zugrunde richtet, noch die Affäre ihres Mannes zu verzeihen vermag, nimmt man einige merkwürdige Entscheidungen und Gedanken schon mal ab.
„Samariter“ – so der wenig schlüssige deutsche Titel der amerikanischen Originalausgabe von „All the little pieces“ – überzeugt ohnehin weniger auf der psychologischen Seite, sondern in dem rasant entwickelten Plot, der sich dank einer einfachen Sprache flüssig lesen lässt. Gerade die persönlichen Hintergründe der beiden Täter bleiben leider im Dunkeln, und Hoffman konzentriert sich so sehr auf ihre verkorkste Anti-Heldin, dass wenig Raum für die Nebenschauplätze und –figuren bleibt. Was an psychologischer Tiefe und Logik fehlt, macht die Autorin allerdings durch den temporeichen, durchweg spannenden Plot wieder wett. Das ist nicht die hohe Thriller-Kunst eines Don Winslow, Lee Child, Jeffery Deaver oder einer Patricia Cornwell und Kathy Reichs, aber durchaus kurzweilige Krimi-Unterhaltung.
Leseprobe Jilliane Hoffman - "Samariter"