Nach viereinhalb Monaten Fernbeziehung plant der 23-jährige Germanistik-Student Martin Schlosser, von Berlin zu seiner Freundin Andrea nach Aachen zu ziehen, denn im Gegensatz zu ihm, der sein Studium zum Wintersemester ´85/86 in Köln fortsetzen könne, bleibt Andrea diese Flexibilität bei ihrem Sozialpädagogik-Studium vorenthalten. Martin erhofft sich von diesem Coup vor allem, seine Freundin vor ihrer Neigung zu anderen Männern kurieren zu können, obwohl sie vereinbart haben, eine offene Beziehung zu führen. Martin findet ein günstiges WG-Zimmer und wird von Andrea erst einmal zu einem Bioenergetik-Seminar geschleift, jobbt bei Tetra Pak und verfolgt zwischen seinen ermüdenden Schichten in der Getränkeverpackungsindustrie und dem ähnlich aufreibenden Beziehungsgeplänkel auch die deutsche Kulturlandschaft zu erkunden, bis er nach Oldenburg zieht und seinen Traum zu verwirklichen sucht, Schriftsteller zu werden.
Dass er dafür sein Studium hinschmeißt, stößt bei seinen Eltern in Meppen auf wenig Verständnis. Und kompliziert bleibt auch die Beziehung zu Andrea. So wie sich Martin immer wieder in andere, leider unerreichbare Frauen verguckt, findet auch Andrea andere Männer attraktiv. Es folgen Streitereien, Trennungs- und Versöhnungsbriefe und Tarot-Sitzungen.
„Nach einer wonnevollen Nacht holte Andrea wieder zum Angriff aus: Ihr sei nicht daran gelegen, ‚die inneren Widersprüche unserer Beziehung mit einer verklärenden Soße zuzukleistern‘, fuhr sie mich an, nachdem ich den Fauxpas begangen hatte, das Thema Birgit zu streifen.„Künstlerroman“ stellt nach „Kindheitsroman“ (2004), „Jugendroman“ (2009), „Liebesroman“ (2010), „Abenteuerroman“ (2012) und „Bildungsroman“ (2014) bereits den sechsten Band der Chronik um den Ich-Erzähler Martin Schlosser dar und verbindet auf höchst vergnügliche Weise einen weiteren turbulenten Lebensabschnitt des jungen Studenten mit Momentaufnahmen aus der deutschen Medien-, Kultur- und Politikgeschichte der 80er Jahre.
Schon wieder stand alles auf der Kippe. Obwohl’s gerade noch so schön gewesen war.
But every day of he year’s like playin‘ Russian roulette …
Mußten bei uns denn immer die Stühle fliegen? Und das vor den Ohren der beiden Mitbewohnerinnen?
Sie ging dann ohne mich spazieren, und ich nahm ein Beruhigungsbad mit allem, was die Hausapotheke hergab: Lavendel, Baldrian, Melisse und Calendula.“ (S. 279)
Henschel verzichtet dabei auf eine Einteilung seiner Geschichte in Kapitel, sondern fügt die Episoden aus Schlossers Leben und Betrachtungen über den Zustand der deutschen Kultur in lose zusammenhängenden Absätzen aneinander. Dabei ist die Beziehungsakrobatik, in die sich Schlosser und seine Freundin Andrea verheddern, ebenso unterhaltsam wie Schlossers Ausflüge in die Provinz von Meppen oder Walter Kempowskis Ferienlager in Nartum. Und wenn der sympathische Ich-Erzähler bei seinen umständlichen Bemühungen, seinen Lebensweg und –sinn zu finden, über die Ereignisse in Politik und Medien nachsinnt, wird dem Leser genüsslich vor Augen geführt, was die Welt Mitte der 80er bewegte und schockierte, von Kohls Erinnerungslücken in der Flick-Affäre über Mike Krügers Familienshow „Vier gegen Willi“, Jörg Drews Verriss von Isabel Allendes „Von Liebe und Schatten“ im „Merkur“, Gorbatschows Abrüstungsbestrebungen, Geißlers Stellungnahme zu den Risiken der Atomkraftnutzung, Henscheids Kolumne „Sudelblätter“ im „Zeitmagazin“, die Fußball-WM und der Umgang mit der radioaktiven Katastrophe von Tschernobyl, um nur einige zu nennen.
Henschel präsentiert sich damit als Polaroid-Chronist der deutschen Geschichte, wobei er die einzelnen Ereignisse nur kurz anreißt, hier und da einen Kommentar zitiert, um dann selbst kurz und prägnant mit Schlossers Ein-Satz-Fazit abzuschließen. Zusammengehalten wird diese amüsant zusammengestellte Chronik durch eine faszinierend vielschichtige und vergnügliche Lebens- und Liebesgeschichte, in die sich wunderbar nachfühlend die Lebenswirklichkeit der 80er Jahre wiederfindet, das Trampen zwischen den Autobahnanschlussstellen, die Suche nach günstigen WG-Zimmern ohne Badezimmer, die Abenteuer mit Mietwagenfirmen, die Lotterie bei den Studentenjobs und die Faszination für Tarot und alternative Medizin.
Wir sind gespannt, wie es wohl weitergeht im Leben von Martin Schlosser!
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