Stefan Bonner/Anne Weiss – „Wir Kassettenkinder. Eine Liebeserklärung an die Achtziger“

Donnerstag, 27. Oktober 2016

(Knaur, 272 S., Pb.)
Wer wie ich in den 1980er Jahren aufgewachsen ist, weiß noch sehr genau, was er an ihnen gehabt hat: eine musikalische Vielfalt und Aufbruchsstimmung, die noch heute aus dem Programm halbwegs seriöser Radiosender nicht mehr wegzudenken ist; eine tiefe Bewunderung für technische Errungenschaften vom Ghettoblaster über die Stereoanlage und den Walkman bis hin zum Videorecorder, Videospielkonsolen und den ersten Heimcomputern; endlose Sommer in Badeanstalten, Blockbuster wie „Zurück in die Zukunft“, „Indiana Jones“ und Straßenfeger wie „Wetten, dass …?“.
Stefan Bonner und Anne Weiss erinnern sich ebenfalls noch sehr gut an das für viele Zeitgenossen goldene Jahrzehnt und rekapitulieren stellvertretend für uns alle in ihrem Buch „Wir Kassettenkinder“ die Besonderheiten, als Kind und Jugendlicher in den 80er Jahren aufgewachsen zu sein. Der Titel des Buches ist deshalb so passend gewählt, weil Tonbandkassetten damals die ersten Möglichkeiten geboten haben, nicht nur ausgewählte Sendungen und Lieblingshits der Charts-Sendungen am Wochenende aufzunehmen, sondern daraus auch allseits beliebte Mixtapes zu erstellen, die unseren Soundtrack zum Leben darstellten.
Besonders eindringlich beschreibt das Duo, welchen Zauber Vinyl-Platten auf uns ausübten.
„Das stolze Nachhausetragen der Langspielplatte, das Auspacken und erste Anhören waren ein Akt von beinahe sakraler Würde. Es war ein unglaubliches Gefühl, das neue Album zum ersten Mal vorsichtig selbst aus der Innenhülle des Covers zu ziehen, die ein wenig daran klebte – die Platte glänzte in frischem Schwarz, alles war makellos, kein Kratzer, und es roch neu nach Vinyl.“ (S. 229)
Auf höchst unterhaltsame Weise beschreiben die Autoren, in welcher Art von Elternhaus wir aufgewachsen sind, mit Wohnzimmer-Schrankwand, Spirituosen hinter einer Schiebetür und nebst einem mehrbändigen Lexikon Bestsellern von Simmel, Eco und Allende im Regal. Vater verdiente das Geld, Mutter kümmerte sich um Haushalt und die Kinder.
Mit leichter Hand beschreiben Bonner/Weiss, wie wir Kassettenkinder uns mit Brettspielen wie „Cluedo“, „Spiel des Lebens“ und „Scotland Yard“ vergnügten, wie wir das Leben unserer Stars in der BRAVO, POPROCKY und POPCORN verfolgten und „Formel Eins“ zu einem Höhepunkt in der Woche avancierte. Es war die Zeit von Bum-Bum-Boris und Vierfarb-Kugelschreibern, unvergesslichen Werbeslogans („Nur, wo Nutella draufsteht, ist auch Nutella drin.“) und der Neuen Deutschen Welle, von Punks, Poppern, Rappern und Gruftis.
Urlaubsreisen wurden noch im Reisebüro gebucht, nachdem Unmengen von entsprechenden Katalogen gewälzt worden sind. Die Achtziger waren aber natürlich kein reines Spaß-Jahrzehnt. Die Autoren verweisen auch auf den drohenden Dritten Weltkrieg, den Ausbruch der AIDS-Epidemie, Umweltkatastrophen und das Reaktor-Unglück von Tschernobyl, auf das Erwachen eines politischen Bewusstseins, mit dem wir uns bemühten, unseren eigenen Kindern eine lebenswerte Erde zu hinterlassen.
Alles in allem ist dem Autorengespann eine höchst vergnügliche Zeitreise in die Achtziger gelungen, die etliche Erinnerungen an Fernsehshows und -sendungen, Markenartikel und Freizeitaktivitäten wachruft, von denen zum Glück einige die Zeit überdauert haben – auch das schöne Vinyl.
Leseprobe Stefan Bonner, Anne Weiss - "Wir Kassettenkinder"

Jeffery Deaver – (Kathryn Dance: 4) „Wahllos“

Montag, 24. Oktober 2016

(Blanvalet, 576 S., HC)
Um gegen den Anstieg des kombinierten Waffen- und Drogenhandels anzukämpfen, haben CBI, FBI, DEA und die örtlichen Strafverfolgungsbehörden in Kaliforniern vor sechs Monaten die Operation Pipeline ins Leben gerufen, doch bislang blieben nennenswerte Erfolge aus. Erst als die innerhalb von Pipeline agierende Guzman Connection unter Leitung der Verhörexpertin Kathryn Dance durch einen Informanten an Joaquin Serrano herankommt, scheint Bewegung in die Ermittlungen zu kommen, denn Serrano könnte eine Verbindung zwischen den Mord an einem Belastungszeugen und dem psychotischen Gangster Guzman herstellen.
Doch als sich herausstellt, dass Serrano in Wirklichkeit auf Guzmans Gehaltsliste steht und Dance und ihre Kollegen an der Nase herumgeführt hat, wird Kathryn Dance in die Civil Division versetzt, wo sie keine Waffe tragen darf.
Dort wird sie mit dem Fall einer Massenpanik beauftragt, die in dem Klub Solitude Creek einige Menschenleben gefordert hat. Der Täter hat in einer Öltonne mit Motoröl und Benzin getränkte Lumpen in Brand gesteckt und den Notausgang mit einem LKW zugestellt.
„Wieso hat er den Schuppen nicht einfach niedergebrannt? Warum hat er die Leute nicht erschossen? Weil er will, dass sie sich gegenseitig umbringen. Er spielt mit ihren Wahrnehmungen, Empfindungen, ihrer Panik. Es ist egal, was die Leute sehen. Es geht darum, was sie glauben. Das ist seine Waffe, die Angst.“ (S. 234) 
Wenig später kommt es zu ähnlichen Vorfällen in einem Krankenhausfahrstuhl und einem Freizeitpark. Dance und ihre Kollegen haben es mit einem äußerst raffinierten wie kaltblütigen Täter zu tun, der sich seine Ziele sehr genau auszusuchen scheint und die Bevölkerung zunehmend verunsichert. Schließlich könnte der nächste Kino- oder Restaurantbesuch zu einer tödlichen Falle werden.
Davon abgesehen hat es die Civil Division mit einigen Hassverbrechen zu tun, mit denen auch Kathryn und ihre Familie in Berührung kommen. Überhaupt steht bei Kathryn Dance das Privatleben leicht Kopf, denn die Entscheidung, ob ihr Herz eher an dem Computer-Spezialisten Jon Boling oder an ihren Kollegen Michael O’Neil, leitender Detective des Monterey County Sheriff’s Office, hängt, fällt ihr wirklich schwer …
Nachdem Kathryn Dance erstmals als Kinesik-Expertin in dem Lincoln-Rhyme-Fall „Der gehetzte Uhrmacher“ hinzugezogen worden war, begann Jeffery Deaver 2007 ihr eine eigene Reihe zu widmen, in der nach „Die Menschenleserin“, „Allwissend“ und „Die Angebetete“ mit „Wahllos“ nun auch schon der vierte Band vorliegt. Dabei bekommt sie es mit gleich drei verschiedenen Fällen zu tun, die allerdings unterschiedlich gewichtet sind.
Die Pipeline-Operation dient zunächst nur als Aufhänger, um die Versetzung von Kathryn Dance vom California Bureau of Investigation zur Civil Division zu begründen. Der Fokus der Geschichte liegt eindeutig auf den sich häufenden Fällen, bei denen ein perfider Täter gezielt eine Massenpanik initiiert, bei der die Menschen zu einer scheinbar hirnlosen Masse verschmelzen, die sich zu Tode quetscht. Und die Hassverbrechen legen schließlich eine Spur zu Kathryns Familie.
Leider gelingt es Jeffery Deaver nicht, die drei Fälle sinnvoll und glaubwürdig zu konstruieren. Die Guzmann-Aktion beginnt durchaus interessant, wird dann aber nur noch sporadisch aufgegriffen und am Ende mit einem wendungsreichen, aber überkonstruierten Showdown gelöst. Die Hassverbrechen werden auch nur immer wieder kurz thematisiert, um eine Spur zu Kathryn und ihrer Familie zu legen, um auch hier wieder mit einer „überraschenden“ Pointe aufgelöst zu werden. Am meisten Raum nimmt Antioch March ein, der nicht nur Investoren für seine vermeintlich humanitären Projekte sucht, sondern auch immer wieder seine Strategien erläutert, wie er die nächsten Massenpaniken auslösen kann. Dabei wird allerdings nicht überzeugend herausgearbeitet, warum es March schließlich auch auf die Ermittlerin Kathryn Dance abgesehen hat.
Im Gegensatz zu den beiden überkonstruierten Auflösungen der anderen beiden Nebenstränge wirkt das Finale im zentralen Fall überraschend zahm. Während die drei Fälle, mit denen die Kinesik-Expertin zu tun hat, kaum echte Spannung generieren, könnten die Themen im Privatleben von Kathryn Dance für lesenswerten Ausgleich sorgen und zumindest auf emotionaler Ebene wieder Punkte gut machen. Doch die Frage, zu welchem Mann sich Kathryn Dance nun mehr hingezogen fühlt, wird im Verlauf der Geschichte so unbeholfen thematisiert, dass auch Kathryns Entscheidung am Ende wenig überzeugt.
„Wahllos“ ist so leider zum Programm für den vierten Kathryn-Dance-Fall geworden, denn sowohl die kriminalistischen Herausforderungen als auch die privaten Themen wirken lieblos zusammengeschustert und wenig inspiriert zum vorschnellen Abschluss geführt.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Wahllos"

Stefan Volk – „Was Sie schon immer über Kino wissen wollten“

Sonntag, 23. Oktober 2016

(Schüren, 288 S., Tb.)
In kaum einem Industriezweig wird so viel Geld umgesetzt wie im Filmgeschäft. Seit 120 Jahren werden auf Zelluloid und in digitalen Pixeln Träume und Ängste, Hoffnungen und Katastrophen, Märchen und Tragödien festgehalten und dem faszinierten Publikum zur moralischen Erbauung, politischen Propaganda, kritischen Auseinandersetzung oder emotionalen Anteilnahme präsentiert. Wie erfolgreich ein einzelner Film ist, spiegelt sich nicht nur an der Kinokasse, sondern auch im Feuilleton und auf Filmfestivals wider. Und es gibt immer unzählige Themen, über die sich Fans und Kritiker lebhaft austauschen können, über die Qualität der Special Effects ebenso wie über die Figurenzeichnung und die Sinnhaftigkeit der Plots.
Der Freiburger Journalist, Film- und Literaturkritiker Stefan Volk hat es sich mit seinem Buch „Was Sie schon immer über Kino wissen wollten“ zur Aufgabe gemacht, interessante Listen zu erstellen, die in erster Linie einfach informativ sind, aber auch anregen, sich aus den zusammengestellten Fakten Fragen über die Bedeutung dieser (Rang-)Listen zu stellen.
Da sich der Titel des vorliegenden Sammelsuriums an Woody Allens „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten“ anlehnt, führt der Autor beispielsweise gleich zu Beginn die Filme auf, bei denen (a) Woody Allen mitgespielt und Regie geführt hat, (b) Woody Allen Regie geführt, aber nicht mitgespielt hat, (c) Woody Allen mitgespielt, aber nicht Regie geführt hat, und (d) das Drehbuch verfasst, aber weder Regie geführt noch mitgespielt hat.
Es geht weiter mit beispielsweise den Top Ten der besten Filme aller Zeiten, wie sie unterschiedliche Organe wie „The Hollywood Reporter“, „Sight & Sound“, „Rotten Tomatoes“, „Cahiers du Cinema“, „Empire“ oder das „American Film Institute“ zusammengestellt haben. Dazu gibt es Listen über die All-Time-Blockbuster, Millionen-Dollar-Filme mit dem niedrigsten Budget, die teuersten Filme aller Zeiten, die zehn beliebtesten Tier-Horror-Filme, die erfolgreichsten Filmregisseure, die 100 populärsten Originalzitate der US-Kinogeschichte und die größten Flops der Filmgeschichte.
Doch das Buch begnügt sich nicht damit, verschiedene Hitlisten aneinanderzureihen, sondern stellt in kurzer Textform auch famose Filmanfänge, tierische Helden, aufregende Küsse und Scientologen in Hollywood vor.
„Was Sie schon immer über Kino wissen wollten“ präsentiert damit einen informativen Überblick über populäre wie weniger bekannte Themen, regt zum Durchblättern und zeitweiligen Verweilen an, um es dann wieder wegzulegen und jederzeit für ein weiteres Rendezvous aufzusuchen, wenn man sich gerade für die Preisträger der „Goldenen Himbeere“ oder Schauspieler mit den meisten Mehrfachrollen in einem Film interessieren sollte.
Mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotos und übersichtlichen Tabellen illustriert, bietet „Was Sie schon immer über Kino wissen wollten“ ebenso unterhaltsame wie informative Lektüre über eine der schönsten Nebensachen der Welt.
Leseprobe Stefan Volk - "Was Sie schon immer über Kino wissen wollten"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 2) „Blut in den Bayous“

(Pendragon, 456 S., Pb./Edel:eBooks, 309 S., eBook)
Nachdem Dave Robicheaux seine Polizistenkarriere in New Orleans an den Nagel gehängt hat, verkauft er im Bayou südlich von New Iberia Fischköder und verleiht Boote, doch die Lust auf die Jagd nach Verbrechern ist ihm noch nicht vergangen. Als er und seine Frau Annie zum Krabbenfischen mit ihrem Boot zwischen den Pecan und Marsh Islands unterwegs sind, stürzt ein zweimotoriges Flugzeug in den Fluss. Robicheaux kann nur ein kleines Mädchen retten, alle anderen Insassen sind bei dem Unfall ums Leben gekommen.
Wie sich später herausstellt, war einer der Passagiere Johnny Dartez, der als Drogenkurier für Bubba Rocque tätig gewesen ist. Allerdings ist seine Leiche wenig später verschwunden und taucht in den offiziellen Berichten nicht auf. Robicheaux vermutet, dass die Einwanderungsbehörde ihre Finger in der Sache hat. Kaum nimmt der Ex-Cop eigene Ermittlungen auf, bekommt er Besuch von einem weiteren Typen, der mit Bubba Rocque Geschäfte macht, Eddie Keats, und einem Haitianer namens Toot, der Robicheaux ordentlich zusetzt. Doch eines Tages gehen Bubbas Schurken zu weit, und Robicheaux kehrt in den Polizeidienst zurück.
„Ich hatte von der Polizei in New Orleans meinen Abschied genommen, ich, der von Bourbonduft umhauchte edle Ritter, der von sich behauptet hatte, er könne die Heuchelei der Politiker und die enthemmte, brutale Hässlichkeit des Polizeidienstes in einer Großstadt nicht länger ertragen. Doch die schlichte Wahrheit war, dass ich Spaß daran hatte, dass mich mein Wissen um die Unzulänglichkeit der Menschen in einen gehobenen Zustand versetzte, dass ich die Langeweile und Berechenbarkeit der normalen Welt genauso verachtete, wie mein unheimlicher alkoholischer Stoffwechsel den Adrenalinstoß der Gefahr liebte … (S. 224f.) 
Zwar ist Robicheaux bei seinen weiteren Ermittlungen nun an die offiziellen Vorschriften gebunden, doch seine Gefühle gegenüber den mutmaßlichen Mördern lassen sich davon kaum beeinflussen. Immer wieder muss er sein wildes Temperament zügeln, um sich nicht zu dummen Provokationen hinreißen zu lassen …
Mit seinem zweiten Band um Dave Robicheaux, den ehemaligen Kripobeamtem und Ex-Alkoholiker aus New Orleans, hat James Lee Burke bereits seine Meisterschaft als Autor stimmungsvoller Kriminalliteratur untermauert. Sein Protagonist Dave Robicheaux ist ein charismatischer Antiheld, der in seinem Alltag immer wieder mit seinen eigenen tief in ihm sitzenden Dämonen zu kämpfen hat und bei seinem Bemühen, für Gerechtigkeit zu sorgen, gern die Grenzen des Gesetzes zu seinen Gunsten auslotet. Das sorgt ebenso für regelmäßige Gewissensbisse, Komplikationen mit den Frauen, mit denen er zu tun hat, und Zurechtweisungen durch Vorgesetzte und Gauner, die dem eigensinnigen Cop auch mal die Stirn bieten.
„Mississippi Delta“ wurde 1996 von Phil Joanou mit Alec Baldwin, Eric Roberts, Mary Stuart Masterson und Kelly Lynch in den Hauptrollen verfilmt und machte Hollywood auf einen bemerkenswerten Autor aufmerksam, der bis heute immer wieder mal Vorlagen für starke Südstaaten-Thriller bietet (zuletzt „In The Electric Mist“ mit Tommy Lee Jones).
Die Romanvorlage fasziniert mit ambivalent angelegten Figuren, einem emotional aufgeladenen Plot und einem furiosen Finale, das Lust auf die nächsten Robicheaux-Fälle macht.
Nachdem der zweite Robicheaux-Band lange Zeit vergriffen und in letzter Zeit nur als eBook unter dem Titel „Mississippi Delta – Blut in den Bayous“ erhältlich gewesen war, hat der Pendragon-Verlag in seinem ehrenwerten Engagement, die Reihe wieder in gedruckter Form wiederzuveröffentlichen, auch „Blut in den Bayous“ leicht überarbeitet und mit einem Nachwort zur Verfilmung ergänzt.
Leseprobe James Lee Burke - "Mississippi Delta - Blut in den Bayous"

Georg Seeßlen – „Steven Spielberg und seine Filme“

(Schüren, 304 S., Pb.)
Mit Filmen wie „Der weiße Hai“, „E.T.“, „Schindlers Liste“, „Der Soldat James Ryan“ und „Jurassic Park“ ist der amerikanische Filmemacher Steven Spielberg zum erfolgreichsten Regisseur aller Zeiten geworden und hat dem Begriff von Hollywoods „Traumfabrik“ eine neue Bedeutung verliehen.
Doch Spielbergs Werke sind weit mehr als nur handwerkliche perfekt inszenierte Märchen, sondern sie sind deshalb auch so erfolgreich, weil sie das Publikum emotional so tief berühren, von Leid, Hoffnung, Mut, Ängsten und Träumen erzählen.
Der angesehene Filmkritiker Georg Seeßlen, der u.a. im Schüren Verlag bereits die mehrere Genres und Bände umfassenden „Grundlagen des populären Films“ und Monographien über David Lynch und Stanley Kubrick veröffentlicht hat, versteht es, auch in der 2., überarbeiteten und aktualisierten Auflage, das Phänomen von Spielbergs einzigartiger Erfolgsgeschichte mit detaillierten Analysen und Beobachtungen zu erklären.
Dass Spielberg in einer mittelständischen, liberalen jüdischen Familie aufgewachsen ist, die von einem Vorort einer Industriestadt zur nächsten gezogen ist, wird dabei ebenso thematisiert wie der außergewöhnliche Beginn seiner Karriere. Nachdem er vom Filmdepartment der University of Southern California abgelehnt worden war, studierte Spielberg nämlich Englische Literatur und vervollständigte sein Filmwissen im Selbststudium, und – so sagen die Legenden – okkupierte mit großem Selbstbewusstsein einfach ein Büro auf dem Produktionsgelände.
Mit erfolgreichen Fernsehfilmen wie „Amblin‘“, „Duel“ und seinem ersten „echten“ Kinofilm „Sugarland Express“ avancierte Spielberg zu einem kommenden Exponenten des „New Hollywood“ und präsentierte in dieser Trilogie die Träume der kleinen Bürger von großen Reisen und Abenteuern, die sie allerdings so sehr überfordern, dass sie im Grunde genommen zurück in den Schoß der Familie und zur Kindheit streben.
Überhaupt ist das Thema der Reise ein immer wiederkehrendes Motiv bei Spielberg, wobei sich das Ziel bereits am Anfang der Reise abzeichnet und diese sich oft erst aus dem Zerfall der Familie ergibt.
„Die Filme sind deshalb so dicht geflochtene Mythen, weil sie beinahe immer zwei Ziele gleichzeitig erreichen müssen. Sie müssen die Familie rehabilitieren oder eine neue Familie imaginieren, und dabei noch mehr die Rolle des Vaters restaurieren. Und zur gleichen Zeit geht es immer auch darum, ‚Gesellschaft‘ zu restaurieren, die amerikanische natürlich. Es geht darum, Menschen zu retten." (S. 287) 
Georg Seeßlen geht in seiner Abhandlung über Spielbergs Werk nicht unbedingt chronologisch vor, sondern kommt in Kapiteln über die Rollen von und (Spielberg-)Themen wie Familie, Einsamkeit, Träume, Erinnerungen, Heldenreisen, Versöhnung und Erlösung immer wieder auf entsprechende Motive in einzelnen Filmen zurück, reiht sie so in eine Gesamtschau ein, dass ein roter Faden im Spielberg-Universum erkennbar wird.
Das ist so unterhaltsam, kenntnisreich, psychologisch fundiert und spannend geschrieben, dass viele Leser Spielbergs Filme nach der Lektüre dieser Monographie vielleicht mit anderen Augen sehen, auf jeden Fall aber besser verstehen werden. Abgerundet wird das höchst informative Werk mit einer Vielzahl von Schwarz-Weiß-Abbildungen und einer ausführlichen Filmografie im Anhang.
 Leseprobe Georg Seeßlen - "Steven Spielberg und seine Filme"

John Williams – „Augustus“

Mittwoch, 19. Oktober 2016

(dtv, 478 S., HC)
Kurz bevor der römische Diktator Julius Cäsar im März des Jahres 44 v. Chr. ermordet wird, sorgt er dafür, dass sein adoptierter Großneffe Octavius in Philosophie, Literatur und Rhetorik unterrichtet wird und trotz schwächlicher Konstitution sein Erbe und Nachfolger wird. Tatsächlich gelingt es dem jungen Mann, sich gegen die Widerstände aus den Reihen von Cäsars Feinden zu behaupten und sich sein Leben lang die Gewalt über Staat und Militär zu sichern. Als Förderer der Künste und des öffentlichen Lebens führt er das Römische Reich schließlich zu Wohlstand und Frieden.
John Williams, dessen Romane „Butcher’s Crossing“ (1960) und „Stoner“ (1965) in den vergangenen Jahren wiederentdeckt worden sind, hat mit seinem letzten noch zu Lebzeiten veröffentlichten Roman „Augustus“ (1972) eine Biografie veröffentlicht, die auf den ersten Blick wenig gemein zu haben scheint mit den zutiefst amerikanischen Vorgängern.
Ungewöhnlich ist schon die erzählerische Form. Ausgehend von einem Brief, mit dem Cäsar 45 v. Chr. seiner Nichte Atia ankündigt, ihr ihren Sohn von Karthago zurück nach Rom zu schicken, damit er in Apollonia seine mangelnden Kenntnisse in den Geisteswissenschaften auf Vordermann bringen und die Position einnehmen kann, die Cäsar ihm angedacht hat, reihen sich in der Folge weitere (fiktive) Briefe, Tagebuchnotizen, Senatsbeschlüsse, Militärbefehle und Ovids Gedichte zu einem umfangreichen zeitgeschichtlichen Portrait zusammen.
Gaius Octavius Cäsar, der erst nach seinem Sieg über seinen Kontrahenten Marcus Antonius und dessen Geliebten Cleopatra den Ehrennamen Augustus erhielt, tritt dabei lange Zeit eher als gelegentliche Anekdote auf, bevor er im abschließenden Buch III mit einem langen Brief an seinen einzig noch lebenden Freund Nikolaos auf sein Leben und den daraus gewonnenen Einsichten zurückblickt.
Zuvor wird in den Briefen seiner Zeitgenossen vor allem deutlich, wie im alten Rom gelebt, geliebt, gehasst und intrigiert worden ist, wie Heiraten arrangiert, Ehen geschieden und Zweckbündnisse geschlossen wurden, um Macht zu gewinnen.
„Das, was wir unsere Welt der Ehe nennen, ist, wie Du sehr wohl weißt, eine Welt notwendiger Verbindungen; und manchmal denke ich, der elendste Sklave besitzt mehr Freiheiten als wir Frauen. Ich möchte den Rest meines Lebens in Velletri verbringen, hier, wo mir meine Kinder und Enkel stets willkommen sind. Vielleicht finde ich ja in mir oder in meinen Büchern noch zu etwas Weisheit während der stillen Jahre, die nun vor mir liegen“, heißt es beispielsweise in einem (ebenfalls fiktiven) Brief, den Octavia 22 v. Chr. an ihren Bruder Octavius Cäsar geschrieben hat. (S. 263) 
An anderer Stelle werden Badegewohnheiten, die Auseinandersetzung mit dem Gesetz zum Ehebruch und philosophische Versammlungen geschildert, so dass am Ende ein vielschichtiges und sehr lebendiges Bild des Römischen Reiches zu seiner Glanzzeit entsteht.
Am Ende hat Augustus dann doch etwas mit Protagonisten aus „Stoner“ und „Butcher’s Crossing“ gemein, nämlich die Erkenntnis, dass persönliche Bedürfnisse zurückgestellt werden müssen, dass familiäre Bindungen darunter zu leiden haben, dass gesellschaftliche Verpflichtungen zu erfüllen sind.
„Augustus“ ist bei aller Komplexität ein farbenprächtiger historischer Briefroman geworden, der 1973 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde und in der deutschen Übersetzung mit einem Who’s Who im alten Rom und einem schönen Nachwort von Daniel Mendelsohn ausgestattet ist, der „Augustus“ in das leider sehr schmale Gesamtwerk des 1994 verstorbenen Autors einordnet.
Leseprobe John Williams - "Augustus"

Stephen King – (Bill Hodges: 3) „Mind Control“

Samstag, 15. Oktober 2016

(Heyne, 526 S., HC)
Als der pensionierte Detective Bill Hodges von seinem ehemaligen Partner Peter Huntley gebeten wird, einen erweiterten Selbstmord zu untersuchen, wird der Privatermittler mit seiner Partnerin Holly erneut mit den schrecklichen Ereignissen konfrontiert, bei denen ein Irrer namens Brady Hartsfield an einem nebligen Morgen des Jahres 2009 mit einem gestohlenen Mercedes in eine Schar von Arbeitssuchenden gerast ist. Ein Jahr später hat der sogenannte Mercedes-Killer versucht, eine Bombe bei einem Konzert der Teenie-Band ´Round Here zu zünden, doch Holly hat den Psychopathen durch einen heftigen Schlag mit einer mit Kugellagerkügelchen gefüllten Socke auf den Schädel ins Kiner Memorial Hospital katapultiert, wo er sich nun in einem unverändert katatonischen Dämmerzustand befindet.
Als sie die Wohnung von Martine Stover untersuchen, die eine der Überlebenden des Massakers am City Center gewesen ist, stoßen Hodges und Holly auf merkwürdige Indizien wie das Selbstmord-Set, ein mit Filzstift gemaltes „Z“ und eine antiquiert wirkende Spielkonsole. Bei ihren weiteren Ermittlungen stößt das „Finders Keepers“-Duo auf weitere Suizide von Menschen, die irgendwie mit Brady Hartsfield zu tun hatten.
Offensichtlich verfügt der Patient über telekinetische Kräfte und kann sich mittels der nicht mehr hergestellten Spielkonsolen in die Köpfe von Menschen wie Krankenpflegern, Ärzten und Besuchern schleichen, die dann Hartsfields Rachepläne in die Tat umsetzen. Mittels einer eigens eingerichteten Website und weiterhin verteilten Zappit-Spielkonsolen setzt Hartsfield eine ganze Kette von Suiziden in Gang, die Bill und Holly mit allen Mitteln aufzuhalten versuchen …
„Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Brady eine erstaunliche Reise hinter sich gebracht. Wie das Endresultat aussehen wird, ist unmöglich vorherzusagen, aber irgendein Resultat wird sich einstellen, da ist er sich sicher. Eines, an dem der alte Exdetective schwer zu knabbern haben wird. Tja, Rache ist eben wirklich süß.“ (S. 294) 
Mit „Mind Control“ bringt Stephen King die Trilogie um Ex-Detective Bill Hodges und den soziopathischen Killer Brady Hartsfield alias Mr. Mercedes, die mit „Mr. Mercedes“ und „Finderlohn“ vielversprechend begonnen hat, zu einem turbulenten und absolut finalen Abschluss. Auch wenn der dritte Band noch einmal die Ereignisse der vorangegangenen Bände rekapituliert und sich durchaus losgelöst davon lesen lässt, macht es wirklich Sinn, sich der Trilogie im Ganzen anzunehmen, denn Stephen King erweist sich hier einmal mehr als Meister der detaillierten Figurenzeichnung.
Da Bill Hodges mit seinen fast siebzig Jahren gesundheitlich nicht mehr ganz auf der Höhe ist und eine niederschmetternde Diagnose verarbeiten muss, schweißt der Hartsfield-Fall ihn und seine Geschäftspartnerin Holly noch mehr zusammen. Die gemeinsamen Szenen von Holly und Bill zählen fraglos zu den eindringlichsten der ganzen Trilogie und zu den erzählerischen Höhepunkten von „Mind Control“.
Davon abgesehen bietet der Roman weit mehr übernatürliche Elemente als „Mr. Mercedes“ und „Finderlohn“, wobei es King wieder souverän gelingt, die an sich schwer nachvollziehbaren Phänomene überaus natürlich erscheinen zu lassen. Aber natürlich bietet „Mind Control“ auch wieder klassischen Krimistoff, der sich manchmal etwas zäh entwickelt, wenn King allzu ausschweifend von Rückblenden Gebrauch macht. Ähnlich wie Bradys Versuchskaninchen vor der „Fishin‘ Hole“-Demo ihres Zappits wird auch der Leser hypnotisch von der packenden Story mitgerissen – bis zum alles erlösenden Finale.
Leseprobe Stephen King - "Mind Control"