Carlos Ruiz Zafón – „Das Labyrinth der Lichter“

Freitag, 21. April 2017

(S. Fischer, 944 S., HC)
Als im Dezember 1959 der Bildungsminister Don Mauricio Valls y Echevarría mit seiner Frau Doña Elena Sarmiento de Fontalva in ihrer Villa einen Maskenball veranstaltet und in derselben Nacht spurlos verschwindet, beauftragt der Leiter des Nationalen Polizeikorps, Don Manuel Gil de Partera, den routinierten Leondro Montalvo mit der Suche nach dem Minister, der von 1939 bis 1944 als Gefängnisdirektor im Castell de Montjuïc in Barcelona gedient hatte.
Montalvo wiederum setzt seine mit außergewöhnlichen Talenten gesegnete Ermittlerin Alicia Gris auf den Fall an, die er aus Madrid nach Barcelona schickt und entgegen ihrer Gewohnheit diesmal nicht im Alleingang agieren lässt, sondern ihr den Offizier Vargas an die Seite stellt.
In Valls‘ Schreibtisch findet Alicia das Buch „Das Labyrinth der Lichter VII. Ariadna und der Scharlachprinz“ von Victor Mataix, das zu einer achtbändigen Reihe gehört, die der Autor 1931 begonnen hatte und unter Sammlern mittlerweile horrende Preise erzielt.
Über den Buchhändler Gustavo Barceló und den Rechtsanwalt Fernando Brians erhält Alicia schließlich Kontakt zum Journalisten Sergio Vilajuana, der Mataix im Herbst 1938 kennengelernt hatte. Schließlich führen ihre Ermittlungen zur Buchhandlung Sempere & Söhne und den Autor Daniel Martin.
„Sie erinnerte sich an die vielen Nächte, die sie schlaflos verbracht hatte im Glauben, der Organist Maese Pérez streiche um Mitternacht vor ihrer Zimmertür herum, und mit dem Wunsch, wieder zu dem verzauberten Buchladen zurückzukehren, wo tausendundeine zu erlebende Geschichten auf sie warteten.“ (S. 369) 
Alicia kommt einem raffinierten Komplott auf die Spur, das bis in die höchsten Kreise des Franco-Regimes reicht. Ehe sie die Zusammenhänge zwischen Valls‘ mysteriösen Verschwinden und ihrem eigenen Schicksal erkennt, müssen etliche Beteiligte noch sterben und um ihr Leben bangen …
Nachdem der aus Barcelona stammende Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón zwischen 1993 und 1995 eine Fantasy-Trilogie und 1999 den alleinstehenden Roman „Marina“ veröffentlicht hatte, gelang ihm mit dem 2001 erschienenen und zwei Jahre später auch ins Deutsche übersetzten Roman „Der Schatten des Windes“ der internationale Durchbruch. Mit dem Auftakt einer Reihe, die sich um den „Friedhof der Vergessenen Bücher“ in Barcelona dreht, verknüpfte er auf fesselnde Weise die düstere Epoche der Franco-Herrschaft mit der Magie der Literatur und einer vielschichtigen Kriminalgeschichte.
Nach den Folgebänden „Das Spiel des Engels“ und „Der Gefangene des Himmels“ schließt Zafón seinen eindrucksvollen Zyklus mit dem epischen „Das Labyrinth der Lichter“ auf komplexe, aber doch nach wie vor fesselnde Weise ab. Der Leser begegnet vertrauten Figuren aus den vorangegangenen Bänden, mit der geheimnisvollen Alicia Gris aber eine seit ihrer Kindheit grausam gezeichnete, unnahbare wie verführerische Femme fatale, die in Montalvo einen Mentor gefunden hatte und unter ihm ihre unorthodoxen Fähigkeiten als Ermittlerin entwickeln konnte.
Ähnlich wie in den drei vorangegangenen Bänden gibt es in „Das Labyrinth der Lichter“ viel zu entdecken und zu entwirren, stellenweise sicher auch mehr, als zum vollen Genuss der geistreichen Lektüre vonnöten gewesen wäre.  
Zafón erweist sich nach wie vor als Meister der atmosphärisch dichten Schilderung sowohl der düsteren Milieubefindlichkeiten in den vierzig Jahren der Franco-Diktatur als auch den Straßen und Vierteln seiner geliebten Heimatstadt sowie den meist sehr sympathischen Charakteren, die oft über eine besondere Beziehung zur Literatur verfügen.
Zwar betont der Autor im Vorwort, dass jeder der vier Bände unabhängig von den anderen gelesen werden könne, doch für den Gesamteindruck macht die chronologische Lesefolge schon Sinn. An die Klasse des Weltbestsellers „Der Schatten des Windes“ kommt „Das Labyrinth der Lichter“ nicht heran. Allzu sehr verliert sich Zafón immer wieder in Nebenhandlungen und sprachlich zu verspielten Sequenzen und Dialogen, aber am Ende wird auch noch mal eine Linie zwischen den vier Bänden gezogen, die in ihrer Gesamtheit ein profundes Stück moderner spanischer Literatur darstellen. 
Leseprobe Carlos Ruiz Zafón - "Das Labyrinth der Lichter"

Richard Laymon – „Die Tür“

Mittwoch, 12. April 2017

(Heyne, 256 S., Tb.)
Bevor Richard Laymon in den 1990er Jahren mit Schockern wie „Das Treffen“, „Die Jagd“, „Das Spiel“ und „Rache“ zumindest in seiner Heimat zum Horror-Star avancierte, erschien 1980 mit „Haus der Schrecken“ nicht nur sein Debütroman, sondern gleichzeitig auch der Auftakt der „Keller“-Trilogie, die Heyne 2008 mit den dazugehörigen Romanen „Das Horrorhaus“ und „Mitternachtstour“ veröffentlicht hat. In Laymons Todesjahr 2001 erblickte schließlich mit „Friday Night in the Beast House“ ein abschließender vierter Band das Licht der Öffentlichkeit. Allerdings umfasst diese Story gerade mal gute 120 Seiten und wurde für die Heyne-Veröffentlichung unter dem Titel „Die Tür“ noch um die ebenso kurze Story „Die Wildnis“ (1998) ergänzt.
Der 16-jährige Mark Matthews überwindet endlich seine Schüchternheit und bittet seinen Schwarm Alison um ein Rendezvous. Die sagt überraschenderweise zu – allerdings nur unter der Bedingung, dass er ihr nachts Zugang zum legendären Horrorhaus in Malcasa Point verschafft. In diesem legendären Haus wurde 1903 nicht nur Ethel Hughes brutal ermordet, sondern über die Jahre hinweg viele weitere Menschen, deren schreckliches Ableben nun naturgetreu nachempfunden und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
Tatsächlich gelingt es Mark, sich außerhalb der Öffnungszeiten in dem Haus zu verstecken und Alison später einzulassen. Doch sehr bald müssen die beiden Teenager bei ihrem Abenteuer feststellen, dass sie nicht allein sind. Offensichtlich treibt sich die legendäre Bestie, die für die brutalen Morde verantwortlich gemacht worden ist, noch immer in den Räumen des Horrorhauses herum.
„Bevor er einen Warnruf ausstoßen konnte, bevor er sich überhaupt bewegen konnte, hatte das Ding die Windjacke vor Alisons Brust gepackt und sie von den Knien gerissen. Sie schrie. Die Kerze fiel ihr aus ihrer Hand. Sie verschwand mit dem Kopf voraus im Loch, als würde sie hineingesogen. Im Nu steckte sie bis zur Hüfte in der Öffnung.“ (S. 111) 
Der Plot von „Die Tür“ gestaltet sich dabei ebenso konventionell wie die beschriebenen Horrorszenen. Die Figuren sind erschreckend eindimensional, die Spannung vorhersehbar gestaltet. Im Finale wird es sogar so absurd unglaubwürdig, dass man Laymon vorwerfen muss, dass er seiner voyeuristischen Fantasie etwas zu viel Auslauf gelassen hat.  
Jack Ketchum weist in seinem Vorwort zu „Die Tür“ zwar darauf hin, dass Laymon nie ein großer Stilist gewesen sei, aber von der sonst so lebendigen und authentisch wirkenden Sprache der besten Laymon-Titel ist „Die Tür“ ganz weit entfernt.
Das trifft leider auch auf „Die Wildnis“ zu, in der Ned Champion seinen Reisebericht von seinem Ausflug nach Lost River vorlegt. Der war eigentlich als Campingabenteuer mit seiner geliebten Cora geplant, doch nach dem Ende der Beziehung macht sich Ned allein auf den Weg durch die Wildnis. Nach anfänglicher Todesangst in der Nacht beginnt Ned schließlich sogar Gefallen an dem Alleinsein zu finden und beobachtet ahnungslose Wanderer. Vor allem die beiden Mädchen Gloria und Susie haben es ihm angetan. Als Ned allmählich der Proviant ausgeht, wird er mutiger und sucht die Schlafstätten seiner ausgekundschafteten „Opfer“ auf und kidnappt eines der Mädchen …
„Die Wildnis“ ist stilistisch ähnlich einfach gehalten, mit einem nicht sehr glaubwürdigen Plot versehen, der allenfalls als dünnes Gerüst für abartige Brutalitäten und Fantasien herhalten darf. Hier macht der Horror auch vor Hässlichen und Dicken nicht Halt! Um das ohnehin schmale Bändchen noch aufzublähen, liefert „Die Tür“ nicht nur das bereits erwähnte, aber wenig aussagekräftige Vorwort von Laymons Kollegen Jack Ketchum („Evil“, „The Lost“), sondern auch eine immerhin 25-seitige Leseprobe aus „Der Keller“ und das obligatorische kommentierte Werkverzeichnis der bei Heyne erschienenen Laymon-Titel.
Für die nächsten beiden Romane „Das Auge“ (1992) und „Das Ende“ (1999), die Heyne noch dieses Jahr veröffentlichen will, dürfen Laymon-Fans hoffentlich wieder bessere Geschichten erwarten …

Marlon James – „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“

Dienstag, 11. April 2017

(Heyne, 858 S., HC)
Am 3. Dezember 1976 stürmen sieben bewaffnete Männer in der Hope Road das Haus des jamaikanischen Reggae-Stars Bob Marley, das im noblen Viertel von Kingston liegt, und eröffnen das Feuer. Während Marleys Manager und Frau jeweils schwer verwundet werden, erleidet der Musiker selbst nur leichte Wunden an Arm und Brust. Scheinbar völlig unbeeindruckt von den Geschehnissen nimmt er wenige Tage später an einem Friedenskonzert der PNP (People’s National Party) teil.
Die Attentäter selbst und die Hintergründe der Tat konnten bis heute nicht aufgeklärt werden.
Mit seinem dritten, 1985 sogar mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ hat der aus Jamaika stammende und von Schriftstellern wie William Faulkner und James Ellroy beeinflusste Marlon James einen epischen Krimi inszeniert, der aufgehängt an dem Attentat auf Bob Marley vor allem über mehrere Jahrzehnte die komplexen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf der karibischen Insel vor Augen führt.
Allerdings bedient er sich dabei nicht der chronologischen Schilderung eines allwissenden Erzählers, sondern der sehr subjektiven Ich-Perspektive von gut siebzig fiktiven Zeitzeugen, die jeweils verschiedene Puzzlestücke zum Gesamtbild beitragen.
Interessanterweise wird Bob Marley stets nur als „der Sänger“ bezeichnet, auch das politisch-gesellschaftliche Umfeld, das Jamaika in den 1970er Jahren und danach geprägt hat, wird nicht eingehend beschrieben, sondern erschließt sich nur im Gesamtkontext durch hier und da eingestreute Bemerkungen, in denen es um den Konflikt zwischen der kommunistisch orientierten PNP und der pro-westlichen, ultrakonservativen rechten und von US-Präsident Ronald Reagan unterstützten Jamaican Labor Party (JLP).
Es geht aber auch um Drogen und den Einfluss der CIA, so dass Drogenkuriere, Gangsterbosse, Ghetto-Kids, Prostituierte, Agenten, ein Journalist vom „Rolling Stone“ und Auftragsmörder zu Wort kommen.
Bob Marley wird in diesem Kontext einerseits mythisch als Volksheld überhöht, andererseits als Mischling diffamiert, der sein Volk verraten, an gefälschten Pferdewetten beteiligt gewesen und nur nach Reichtum und Ruhm gestrebt haben soll.
„Da haben wir also den Sänger und zwei Gangster von einer politischen Partei, die er angeblich nicht unterstützt, und sie scheinen so dick befreundet zu sein wie alte Schulkumpel. In den nächsten Tagen wird er gesehen, wie er mit Shotta Sherrif herumhängt, dem Paten der Eight Lanes, der für die andere Partei arbeitet, die andere Seite. Die beiden Oberbosse in einer Woche, zwei Männer, die mehr oder weniger die sich bekämpfenden Hälften von Downtown-Kingston kontrollieren. Vielleicht gibt er ja einfach den Friedensstifter, schließlich ist er bloß ein Sänger. Aber so langsam versteh ich, dass in Jamaika niemand einfach nur irgendwas ist. Da ist was im Busch, ich kann’s schon riechen. Hab ich bereits erwähnt, dass in zwei Wochen gewählt wird?“, lässt beispielsweise der „Rolling Stone“-Journalist Alex Pierce verlauten, der vor allem im 1991 angesiedelten abschließenden Kapitel „Sound Boy Killing“ die Zusammenhänge etwas deutlicher werden lässt. (S. 92)
Bis dahin erlebt der Leser eine wahre Tour de Force an Grausamkeiten jeder Art, an derben Sprüchen und deftigem Humor, an (homo)sexuellen Fantasien und Praktiken, den unterschiedlichsten Sprechweisen und Slang-Ausdrücken wie Bombocloth, Battyman, Brethren, Busha, Naigger, Jamdown und Hataclaps.
Erst in der Gesamtschau entsteht ein ebenso thematisch wie gesellschaftlich vielschichtiges Jamaika-Portrait, dem einige grundlegende Hintergrunderläuterungen für das Verständnis sicher gutgetan hätten, aber durch die unmittelbare, ungeschminkte und facettenreiche Weise, die Hintergründe des Attentats aus unzähligen sehr persönlichen Perspektiven eher unzusammenhängend darzustellen, wirkt „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ sehr authentisch, verwirrend, bewegend, brutal, komisch und lässt damit Jamaika damit in einem Licht erscheinen, das mit bisherigen Vorstellungen über den karibischen Staat gründlich abrechnet. 
Leseprobe Marlon James - "Eine kurze Geschichte von sieben Morden"

Ian McEwan – „Kindeswohl“

Mittwoch, 5. April 2017

(Diogenes, 224 S., HC)
Die 59-jährige Fiona Maye ist eine angesehene Familienrichterin am High Court in London und seit dreißig Jahren mit dem 50-jährigen Geschichtsprofessor Jack verheiratet. Weil er noch einmal die große Leidenschaft und Ekstase erleben will, bahnt er eine Affäre mit der 29-jährigen Statistikerin Melanie an, will seiner Ehe aber zuvor noch die Chance geben, das alte Feuer wiederzubeleben. Fiona fühlt sich durch diese Konfrontation nur gedemütigt und stürzt sich umso mehr in ihre Arbeit. Insofern trifft es sich ganz gut, dass sie mit einem außerordentlich dringenden Fall betraut wird.
Der 17-jährige Adam Henry ist schwer an Leukämie erkrankt und könnte gerettet werden, wenn er neben der obligatorischen Medikamenteneinnahme auch eine Bluttransfusion bekäme.
Doch das lehnen seine Eltern aus religiösen Gründen streng ab. Bei den Zeugen Jehovas ist es verboten, fremdes Blut „in den Körper aufzunehmen“, wie es ihrer Meinung im griechischen und hebräischen Originaltext der Bibel heißt.
Zwar kann Adam in drei Monaten, wenn er 18 wird, selbst über seine ärztliche Behandlung entscheiden, doch bis dahin liegt es an Fiona, eine Entscheidung zu fällen, ob den Eltern gestattet werden darf, ihren Sohn aus religiösen Gründen qualvoll sterben zu lassen, oder ob dem Krankenhaus als klagende Partei gestattet werden darf, die erforderlichen lebensrettenden Maßnahmen einzuleiten.
„Entweder, dachte Fiona, während ihr Taxi auf der Waterloo Bridge im Stau stand, geht es hier um eine Frau am Rande eines Nervenzusammenbruchs, die sich von ihren Gefühlen zu einer beruflichen Fehlentscheidung hinreißen lässt, oder darum, ob ein Junge durch das Einschreiten eines weltlichen Gerichts dem Glaubenssystem seiner Sekte entrissen wird oder nicht. Beides zugleich schien ihr nicht möglich.“ (S. 99) 
Um sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, ob sich der junge Mann der Konsequenzen seiner Entscheidung (und damit auch der Eltern) in Gänze bewusst ist, besucht Fiona den Patienten im Krankenhaus …
Wie gewissenhaft Fiona Maye mit den Scheidungen, Unterhalts- und Sorgerechtsfällen umgeht, die sie zu verhandeln hat, macht der in London lebende Bestseller-Autor Ian McEwan („Abbitte“, „Am Strand“) in seinem kurzen Roman „Kindeswohl“ mit vielen eindrucksvollen Beispielen deutlich, die die renommierte Juristin in der Vergangenheit verhandelt hat.
Besonders knifflig sowohl in juristischer als auch moralischer Hinsicht gestaltet sich die zeitlich drängende Entscheidung zum Kindeswohl bei dem Zeugen Jehovas Adam, bei dem die gewissenhafte Richterin sogar selbst mit dem todkranken Patienten spricht, um herauszufinden, wie sehr seine Einstellung von der religiösen Erziehung seiner Eltern abhängt, auch wenn sie sein eigenes Todesurteil bedeutet. Fiona fällt schließlich eine Entscheidung, die ungeahnte Konsequenzen mit sich bringt.
Die Stärken von „Kindeswohl“ liegen vor allem in der umfassenden Darstellung der Frage, wie zwischen säkularem und kirchlichem Recht entschieden werden soll, vor allem die minutiös beschriebene Gerichtsverhandlung mit der Argumentation beider Parteien stellt einen außergewöhnlichen Höhepunkt des Romans dar. Dagegen erscheint die weniger tiefgehende Ehekrise eher nebensächlich und weicht die Intensität des lebensbedrohlichen Dramas auf.
Auch die scheinbar wahllose Aneinanderreihung anderer an sich interessanter Fälle aus Fionas Gerichtspraxis wirkt der Dramaturgie der Erzählung etwas entgegen, aber ohne dieses aufbauschende Begleitmaterial wäre „Kindeswohl“ eben nur eine Kurzgeschichte geworden.
Leseprobe Ian McEwan - "Kindeswohl"

Andrea De Carlo – „Zwei von zwei“

Sonntag, 2. April 2017

(Diogenes, 449 S., HC)
Im November 1968 lernt Mario auf einem Gymnasium in Mailand Guido Laremi kennen, doch nach der ersten Begegnung, nach der Mario den ungefähr gleichaltrigen Jungen auf seinem Mofa nach Hause gebracht hat, sehen sich die beiden neun Monate lang nicht, in denen Mario sich in der niederdrückenden Stadt einfach nur langweilt und mit dumpfen Empfindungen ohne Antrieb und Interessen die Zeit an sich vorüberziehen lässt. Als Guido zu Beginn der Quinta allerdings in Marios Klasse versetzt wird und sich zu ihm an den Tisch setzt, freunden sich der schüchterne Mario und der von seinen Klassenkameraden so ganz verschiedene Guido schnell an.
Mit seinem außergewöhnlichen, romantischen Aussehen zieht Guido sofort die Aufmerksamkeit der Mädchen auf sich, Mario hofft in seinem Schlepptau auch auf die eine oder andere Liebelei. Gemeinsam erleben sie das Aufbegehren der Schüler und Studenten gegen das verkrustete Bildungswesen und gehen nach dem Abitur getrennte Wege. Mario studiert Philosophie und geht eine bürgerliche Beziehung ein, Guido lässt sich rastlos durch die Welt treiben, wechselt von einer Frau zur anderen und schreibt schließlich an seinem ersten Roman „Canemacchina“, in dem er voller Abscheu, Verzweiflung und Rachgier mit dem verhassten Mailand abrechnet.
Das Buch wird überraschenderweise ein voller Erfolg, von den Kritikern allerdings als Selbstportrait einer Lost Generation missverstanden. Nachdem sich Mario mit den Mitteln einer kleinen Erbschaft mit seiner Frau Martina auf dem Land eine autark lebende Gemeinschaft aufgebaut hat, treten die unterschiedlichen Lebensentwürfe der beiden Jugendfreunde immer deutlicher zutage.
„Zehn ganze Jahre lang waren Martina und ich in Le Due Case geblieben, hatten immer an ein und demselben Ort gearbeitet, Beziehungen hergestellt und Probleme gelöst, so sehr mit seiner Atmosphäre verwachsen, dass wir – abgesehen von der Stadt, aus der wir geflüchtet waren – ganz vergessen hatten, dass es auch noch andere Orte gab.“ (S. 369) 
Andrea De Carlo hat sich mit seinen ersten Büchern „Creamtrain“ und „Vögel in Käfigen und Volieren“ zum Sprachrohr seiner Generation gemacht und vor allem die sozialen und gesellschaftlichen Missstände in seiner Mailänder Heimatstadt seziert. Mit „Zwei von zwei“ knüpft er nahtlos an diese Thematik an, beschreibt zu Anfang minutiös die Bildungsmisere in der Stadt, die in lautstarken Protesten der Studenten mündete, und benutzt die zwei konträren Lebensentwürfe seiner Protagonisten Mario und Guido dazu, die Konsequenzen dieser zermürbenden Atmosphäre auf das Leben der Städter aufzuzeigen.
Während der Ich-Erzähler Mario sich radikal vom Stadtleben abwendet und eine Art selbstverwaltete Kommune auf dem Land ins Leben ruft, findet der rastlose Guido keinen Halt, weder in örtlicher noch persönlicher Hinsicht. Das Auseinanderdriften der beiden Freunde und ihrer Daseinsformen wirkt in der ersten Hälfte noch sehr interessant und spannend, reduziert sich dann aber zunehmend auf die allzu detaillierte Lebensweise auf dem Land, während Guidos Reisen durch die Welt und Entwicklung immer mehr in den Hintergrund geraten und nur noch durch seine sporadischen Briefe an seinen alten Freund thematisiert werden.
Die Lost Generation hat sich dann irgendwann auch auf dem Land verloren …

Linwood Barclay – (Promise Falls: 3) „Lügenfalle“

Montag, 27. März 2017

(Knaur, 493 S., Pb.)
Die kleine US-amerikanische Ostküstenstadt Promise Falls kommt einfach nicht zur Ruhe. Nachdem vor nicht mal einer Woche jemand das Autokino am Stadtrand in die Luft gejagt und dabei vier Menschen getötet hatte, hat Polizeichef Barry Duckworth am langen Memorial-Day-Maiwochenende nicht nur wie üblich mit seinem Übergewicht zu kämpfen, sondern auch den Ursprung einer echten Epidemie herauszufinden. Offensichtlich hat jemand das Trinkwasser der Stadt vergiftet, so dass im völlig überlasteten Stadtkrankenhaus bald über hundert Tote zu beklagen sind.
Nutznießer dieser Katastrophe scheint wieder einmal der frühere Bürgermeister Randy Finley zu sein, der nach wie vor plant, nach seiner skandalösen Affäre mit einer minderjährigen Prostituierten wieder zu kandidieren. Zum Glück hatte Finley die Produktion seiner Trinkwasser-Anlage seit einer Woche hochfahren lassen, so dass er die besorgten Bürger nun medienwirksam mit kostenlosem Wasser aus seinen Quellen versorgen kann.
Doch Duckworth hat sich kaum in den Fall einarbeiten können, da erreicht ihm vom örtlichen Thackeray-College die nächste Hiobsbotschaft: Dort wird die Studentin Lorraine Plummer in ihrem Zimmer ermordet aufgefunden, mit der gleichen Art von tödlicher Verletzung, die auch vor drei Jahren Olivia Fisher und kürzlich Rosemary Gaynor erlitten haben.
Ins Zentrum der Ermittlungen gerät Victor Rooney, der es offenbar nicht verwunden hat, dass vor drei Jahren zwar 22 Menschen den Mord an seiner Freundin Olivia mitbekommen, aber nichts unternommen haben, und sich dafür vielleicht an der ganzen Stadt rächen will.
„Wie wütend war Victor Rooney wirklich auf das Versagen dieser Stadt? Wütend genug, um es ihr heimzuzahlen? Wütend genug, um Botschaften zu senden? Dreiundzwanzig tote Eichhörnchen an einem Zaun, zum Beispiel? Drei rot beschmierte Schaufensterpuppen in Kabine 23 eines stillgelegten Riesenrads? Einen brennenden, außer Kontrolle geratenen Bus mit einer ‚23‘ auf dem Heck?“ (S. 318) 
Und schließlich sucht der ehemalige Journalist David Harwood, der nun die Öffentlichkeitsarbeit für Finley betreibt, nach Sam und ihrem Sohn Carl, die im Trubel der Trinkwasservergiftung ihre Sachen gepackt und spurlos verschwunden sind …
Im großen Finale seiner „Promise Falls“-Trilogie besinnt sich Thriller-Bestseller-Autor Linwood Barclay („Ohne ein Wort“, „Frag die Toten“) wieder auf seine originären Fähigkeiten und präsentiert von Beginn an einen atmosphärisch dichten, atemlosen Pageturner, in dem eine Katastrophe auf die nächste folgt. Zum Glück konzentriert sich der Autor diesmal wieder auf ein überschaubareres Figuren-Ensemble, nachdem es in „Lügennacht“ doch arg durcheinander herging.
Zwar macht sich Barclay auch diesmal wenig Mühe, seinen Figuren Charakter zu verleihen – abgesehen von dem immer mal wieder als Ich-Erzähler fungierenden Polizeichef bleiben die Einwohner und Verantwortlichen von Promise Falls ziemlich blass -, aber die Suche nach dem Trinkwasser-Attentäter einerseits, dem Frauenmörder andererseits und schließlich dem Zusammenhang mit der ominösen Zahl 23 und den früheren merkwürdigen Vorfällen in der Stadt ist absolut packend beschrieben.
Barclay thematisiert dabei nicht nur mangelnde Zivilcourage und die allgegenwärtige Angst vor Terrorismus, sondern auch generell den Zerfall zivilisierter Werte und Moralvorstellungen.
Leseprobe Linwood Barclay - "Promise Falls III: Lügenfalle"
 

Clive Barker – „Spiel des Verderbens“

Sonntag, 26. März 2017

(Knaur, 510 S., Tb.)
Nach sechs Jahren im Wandsworth-Gefängnis bekommt Marty Strauss die Gelegenheit, neu anzufangen. Ein gewisser Mr. Toy unterbreitet dem Häftling das Angebot, als persönlicher Leibwächter für den in die Jahre gekommenen Joseph Whitehead zu arbeiten, der als Selfmade-Mann mit der Whitehead Corporation eine der größten pharmazeutischen Firmen in Europa aufgebaut hat. Marty muss allerdings schnell feststellen, dass er von einem Gefängnis ins nächste gelangt ist. Das als „Asyl“ bezeichnete Anwesen stellt sich als wahre Festung dar, die der Firmenchef – und somit auch sein Leibwächter - nie verlässt.
Cover der späteren Heyne-Wiederveröffentlichung
Da Marty feststellen muss, dass seine Frau Charmaine kein Interesse mehr an einer Beziehung mit ihm hat, ist sein Freiheitsdrang auch nicht mehr besonders ausgeprägt. Außerdem findet er sehr schnell Gefallen an Whiteheads Tochter Carys, die allerdings von ihrem Vater mit Heroin versorgt wird, damit sie einigermaßen zurechtkommt.
Was Marty allerdings wirklich beunruhigt, ist der geheimnisvolle Mamoulian, der sich als einer der letzten „Europäer“ sieht und zusammen mit Breer, ebenfalls Mitglied einer weiteren aussterbenden Rasse, nämlich der Rasierklingenesser, bei Whitehead alte Schulden einzutreiben gedenkt. Marty erfährt, dass die Auseinandersetzung der beiden Kontrahenten vor sechzig Jahren in Warschau ihren Anfang nahm und nun in einer allumfassenden Apokalypse zu enden droht.
„Heiliger Jesus, dachte er, so musste die Welt enden. Eine Zimmerflucht, Autos auf der Straße, die nach Hause fuhren, und die Toten und beinahe Toten lieferten sich bei Kerzenlicht Handgemenge. Der Reverend hatte sich geirrt. Die Sintflut war keine Woge. Sie war blinde Männer mit Äxten; sie war die Großen auf den Knien, wie sie beteten, nicht durch die Hände von Narren sterben zu müssen, sie war das Jucken des Irrationalen, welches zur Epidemie geworden war.“ (S. 487) 
Der 1952 in Liverpool geborene Clive Barker kam über das Theater und den Film zur Schriftstellerei und fasste seine ersten Kurzgeschichten in den zwischen 1984 und 1985 veröffentlichten sechs „Büchern des Blutes“ zusammen, von denen bis heute immer wieder einzelne Geschichten verfilmt werden.
Durch seine drastisch unverblümte Darstellungsweise, seine ungebändigte Phantasie und seine bildgewaltige Sprache avancierte Barker in kürzester Zeit zum Erneuerer des Horror-Genres und lieferte 1986 mit „Spiel des Verderbens“ seinen ersten Roman ab, der beim Knaur Verlag in deutscher Erstausgabe in der kongenialen Übersetzung von Joachim Körber erschienen ist (aber mit einem so schlechten Cover, dass ich mich hier für das stimmungsvollere Cover der späteren Heyne-Wiederveröffentlichung entschied, die allerdings an Körbers Übersetzung herumgepfuscht hat).
Wie in seinen vorstellungskräftigen Kurzgeschichten kreiert Barker auch in seinem Romandebüt ein allumfassendes Grauen, das in diesem Fall aus den Scharmützeln des Krieges entstanden ist und aus der Gier der Protagonisten in weitschweifende Horror-Szenarien mündet.
Was mit dem Verstand schwer zu fassen ist, beschreibt Barker äußerst minutiös und fast schon genussvoll, so dass Schmerz und Tod nahezu eine willkommene Abwechslung zu den üblichen Alltagsroutinen darstellen. Dazu nimmt sich Barker viel Zeit für die Beschreibung seiner außergewöhnlichen Figuren und der Atmosphäre, in der sich diese bewegen. Dass er sich dabei oft biblischer Motive bedient, hebt die Geschichte in einen mal sakralen, dann wieder ketzerischen Kontext. Wie Whitehead und Mamoulian im Finale für eine letzte Auseinandersetzung zusammentreffen, ist einfach großartig und entschädigt für manche Passagen, in denen die Story nicht so recht vorankommen mag.