Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 9) „Krasse Killer“

Sonntag, 8. Oktober 2017

(Golkonda, 380 S., Pb.)
Einen Großteil ihres Einkommens verdanken Hap Collins und Leonard Pine dem Detektivbüro von Marvin Hanson. Als dieser den Job als Polizeichef annimmt, verkauft er seinen Laden an Haps Lebensgefährtin Brett – mit Hap und Leonard als ihre Vollzeitangestellten. Bei ihrem ersten Auftrag sollen die beiden Freunde für die betagte Dame Lilly Buckner ihre Enkelin Sandy finden, die ihr einst 50.000 Dollar und Wertpapiere aus dem Safe geklaut hatte, Journalismus studierte und vor fünf Jahren spurlos verschwunden ist.
Das Ermittler-Duo sucht das Autohaus Frank’s Unique Used Cars auf, wo offensichtlich nicht nur außergewöhnliche Autos, sondern mit ihnen auch exklusive Models angeboten werden, die mit ihren wohlhabenden Kunden kostspielige Reisen unternehmen, dabei gefilmt und schließlich erpresst werden. Unwillige Kunden werden, so bringen Hap und Leonards Informanten ans Tageslicht, von einem sogenannten Knipser mit einem Draht ums Leben und ihre Eier gebracht.
Doch hinter dem ganzen Unternehmen stecken weit skrupellosere Gangster der Dixie-Mafia, denen bereits das FBI auf den Fersen ist. Mit der Verstärkung von Haps alter Bekannten Vanilla Ride und den furchtlosen Booger und Jim Bob begeben sich Hap und Leonard schließlich in die Höhle des Löwen, um nicht selbst erneut ins Visier des Mobs zu gelangen, der längst eigene Anstrengungen unternommen hat, die hartnäckigen Jungs auszuschalten …
„Auf den Regalen waren auch viele alte, billig gerahmte Fotos aufgestellt. Völlig verstaubt, zeigten sie verschiedene Leute, die sich alle ähnlich sahen. Familienfotos, abwechselnd mit eingelegten Hoden. Schöne Erinnerungen, so richtig heimelig. Ich beugte mich vor und sah mir die Fotos genauer an. Es waren Fotos von aufgebahrten Toten, Männer im Anzug, Frauen im langen weißen Kleid, vielleicht sogar immer der gleiche Anzug, das gleiche Kleid für alle. Das erinnerte mich an viktorianische Fotografien von Toten, damals hatte man den kürzlich Verstorbenen ihre Sonntagsklamotten angezogen und sie so fotografiert.“ (S. 340) 
Als hätten Hap und Leonard mit ihrem zunehmend gefährlicheren Auftrag nicht genug zu tun, wird Hap auch noch mit der Bekanntschaft des jungen Mädchens Chance konfrontiert, das behauptet, Haps Tochter zu sein …
Auch in seinem neunten Band bleibt sich Joe R. Lansdale in seiner erfolgreichen Reihe um den weißen heterosexuellen Kriegsdienstverweigerer Hap und den schwarzen, homosexuellen Vietnamveteran Leonard treu, die mittlerweile auch in einer von den Amazon Studios produzierten Fernsehserie ihr Unwesen treiben dürfen.
In „Krasse Killer“ wird die Vorgeschichte der beiden Buddys nicht weiter thematisiert, aber ihre unterschiedlichen sexuellen Neigungen bieten zwischen den beiden schlagkräftigen Spaßvögeln immer wieder witzigen Gesprächsstoff, ebenso ihr Verhältnis zur Gewaltanwendung. In ihrem neuen Abenteuer haben es Hap & Leonard nicht nur mit der obligatorischen Suche nach einer Vermissten zu tun, sondern sie legen sich zunächst mit einer Biker-Gang und schließlich mit der Dixie-Mafia an, ohne ihrem eigentlichen Ziel wirklich nahezukommen. Diesen Plot inszeniert Lansdale mit so viel Witz, Tempo und Action, dass das Buch nach einer Verfilmung nur so schreit – wenigstens in einer Staffel der dazugehörigen Amazon-Serie.
Vor allem das Finale hat es in sich und bringt dabei auch zutiefst menschliche Regungen zutage. Toll!

Jo Nesbø – (Harry Hole: 11) „Durst“

Freitag, 6. Oktober 2017

(Ullstein, 624 S., HC/eBook)
Um mehr Zeit für seine Familie zu haben, hat sich Spezialfahnder Harry Hole aus dem aktiven Dienst zurückgezogen und einen Job als Dozent an der Polizeihochschule Oslo angenommen, wo er als prominenter Spezialist für Serienmorde den Polizeinachwuchs in seinen Vorlesungen und Seminaren an die Ermittlungsarbeit heranführt. Doch dann wird Holes Jagdinstinkt geweckt, als er von den Vampiristenmorden erfährt, die schnell die nationalen, dann auch internationalen Schlagzeilen bestimmen.
Der Täter scheint seine weiblichen Opfer über die Dating-Plattform Tinder kennenzulernen und sie mit Hilfe eines Metallgebisses nicht nur tödlich zu verletzen, sondern auch ihr Blut zu trinken. Unter den Opfern befindet sich auch die Kellnerin Marte Ruud aus Harry Holes Stammkneipe.
Da Polizeichef Mikael Bellman kurz davor steht, Justizminister zu werden, will er den Fall schnell gelöst haben und lässt er eine Sondereinheit gründen, die unter Leitung von Harry Hole parallel zu der Truppe von Kriminalkommissarin Katrine Bratt ermitteln soll. Vor allem der in Akademikerkreisen belächelte Vampiristen-Experte Hallstein Smith entwickelt sich zu einer großen Hilfe bei der Jagd auf den Killer, dessen Vorgehen Hole an Valentin Gjertsen erinnert, der vor vier Jahren auf spektakuläre Weise aus dem Gefängnis ausgebrochen war und sich diversen plastischen Operationen unterzogen hatte, weshalb er bis heute untertauchen konnte.
„‚Ich glaube nicht, dass es nicht Valentin Gjertsen ist. Obwohl mir dieser Gedanke tatsächlich auch schon gekommen ist. Ein Mörder begeht zwei Morde, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Das erfordert Planung und einen kühlen Kopf. Und dann überfällt er plötzlich jemanden und verteilt wie nichts Spuren und Beweise? Das ist auffällig, als legte der Betreffende es darauf an, seine Identität preiszugeben. Und das weckt dann natürlich den Verdacht, dass uns da jemand manipulieren und auf eine falsche Fährte führen will.‘“ (Pos. 3557) 
Auch in dem elften Band seiner populären Reihe um den charismatischen Spezialermittler Harry Hole gelingt es dem norwegischen Bestseller-Autor Jo Nesbø, den Leser von Beginn an mit einem faszinierenden Fall zu fesseln, der mit ungewöhnlicher Prämisse ausgestattet ist. Durch den Vampiristen-Experten Hallstein Smith erhalten wir einen kurzen Abriss über die Vampir-Mythologie und die psychische Disposition von Vampiristen, darüber hinaus bekommen wir Einblicke in das komplexe Beziehungsgeflecht, in das Hole mit seiner Frau Rakel, ihrem Sohn Oleg, der nun auch an der Polizeihochschule studiert, und seiner Kollegin Katrine Bratt vertrickt ist, die sich gerade von ihrem Kollegen, den Kriminaltechniker Bjørn Holm, getrennt hat.
Die Ermittlungen nehmen mit jedem weiteren Mord an Fahrt auf. Dabei verdichten sich die Hinweise, dass die Polizei und die Sondereinheit an der Nase herumgeführt werden. Zum Ende hin schlägt der Plot einige schon irrwitzig anmutende Kapriolen, die sicher für dramaturgische Spannung sorgen, aber auch zu konstruiert wirken, um wirklich überzeugen zu können.
Was „Durst“ neben dem an sich interessanten Thema besonders auszeichnet, sind eher die persönlichen Aspekte, die allerdings oft nur angerissen werden, aber im Vergleich zu anderen Reihen im Thriller-Genre sind Nesbøs Figuren gut gezeichnet und verleihen dem Werk eine angenehme psychologische Tiefe.
Leseprobe Jo Nesbø - "Durst"

Andrea De Carlo – „Ein fast perfektes Wunder“

Sonntag, 1. Oktober 2017

(Diogenes, 400 S., HC)
Als ein Blackout, der den öffentlichen Verkehr, die Telekommunikation, Sicherheitssysteme und Computernetzwerke und die Stromversorgung im gesamten Stadtgebiet von Fayence in der Provence-Alpes-Côte d‘Azur lahmlegt, droht Milena Migliari auf ihren Eiskreationen sitzenzubleiben. Nachdem sie eher vergeblich versucht hat, das Eis an Passanten zu verschenken, kommt ihr der unerwartete Auftrag mehr als gelegen, zehn Kilo mit all ihren Eissorten nach Callian zu bringen. Dort versucht der Rockmusiker Nick Cruickshank, sich mit seiner Band Bebonkers auf ein Benefiz-Konzert im Aerodrom und seine Hochzeit mit der Anti-Leder-Designerin Aileen vorzubereiten, begleitet von Journalisten, einem Kameramann und einem Fotografen des „Star Life“-Magazins.
Als er von Milenas Eis kostet, ist er hin und weg, wenig später sucht der Bebonkers-Frontmann, der auf zwei gescheiterte Ehen und fünf Kinder zurückblickt, Milena in ihrer Eisdiele „La Merveille Imparfaite“.
Was in den wenigen Momenten der kurzen Begegnungen auf Nicks Anwesen in Les Vieux Oliviers und in Milenas Eisdiele mit ihnen geschieht, ist beiden Beteiligten ein Rätsel. Schließlich bereitet sich Milena mit ihrer Lebensgefährtin Viviane gerade auf die künstliche Befruchtung vor, doch ein Baby auszutragen kommt Milena momentan wenig erstrebenswert vor. Auch Nick ist sich im Unklaren über die Beziehung mit der selbstbewussten Aileen, die alles, was mit der Band zu tun hat, im Griff zu haben scheint. Überrascht von der merkwürdig intensiven Anziehung, die Milena und Nick füreinander empfinden, lassen sie sich auf etwas ein, das ihnen ebenso fremd wie selbstverständlich, aufregend und vertraut erscheint.
„Was war dieser Kuss? Ein Fluchtversuch? Ein Überrumpelungsversuch? Eine Verzweiflungstat? Er war jedenfalls etwas absolut Unerwartetes: Ihm schien, als erkenne er sie von wer weiß welchem Punkt in Zeit und Raum und erkenne auch sich selbst oder einen Teil von sich, den er verloren hatte. Oder längst nicht mehr suchte.“ (S. 304) 
Andrea De Carlo („Zwei von zwei“, „Creamtrain“) bringt in seinem neuen Roman „Ein fast perfektes Wunder“ zwei außergewöhnlich kreative Menschen zusammen, die jeder für sich in ihrem ganz eigenen Kosmos leben - Nick in der schimmernd-glitzernden Welt der Rockmusik, die ihm nicht nur viel Geld, sondern auch die Anbetung durch unzählige Fans beschert hat; Milena in ihrer Eisdiele, die sie nach ihrer Flucht vor enttäuschten Liebesbeziehungen aus Italien in die französische Provinz gegründet hat, wo sie so außergewöhnliche Eissorten wie Kaki und Brustbeere kreiert.
Minutiös schildert er abwechselnd aus Nicks und Milenas Perspektive, wie sie mit ihrem Alltag, ihren Mitmenschen und Herausforderungen umgehen, wie das Zusammentreffen zwischen ihnen etliche Fragen darüber aufwirft, ob die gegenwärtigen Lebens- und Liebesumstände so aufrechterhalten sollten.
Sprachlich präsentiert sich De Carlo einmal mehr als großer Fabulierkünstler, vor allem in der Beschreibung der Geschmacksempfindungen bei der Verkostung von Milenas Eis, aber auch in der Kartierung der Gefühlswelten und der Fragestellungen, die die Beziehung zwischen Nick und Milena begleiten. So manch ein Leser wird sich mit Freuden oder Stirnrunzeln selbst und sein (Gefühls-) Leben hinterfragen wollen. Ein größeres Lob kann man einem Autor kaum zollen. 
Leseprobe Andrea De Carlo - "Ein fast perfektes Wunder"

Stephen King – „Es“

Samstag, 30. September 2017

(Heyne, 860 S., Jumbo)
Im Herbst 1957 wurde der sechsjährige George Denbrough tot, mit ausgerissenem Arm, an einem Gully aufgefunden. Sein bettlägeriger älterer Bruder William hatte ihm zuvor ein Boot aus Papier gebastelt und mit ihm zusammen wasserdicht gemacht. Mit diesem Boot machte sich Georgie im Regenmantel auf den Weg, das mit Paraffin bestrichene Papierschiffchen an der Kante zwischen Straße und Bürgersteig im Strom dahinschwimmen zu lassen, der sich durch vier Tage wolkenbruchartigen Regen entwickelt hat. 27 Jahre später kommt Adrian Mellon unter ähnlichen Umständen ums Leben. Zeugen meinten einen Clown unter der Brücke am Tatort gesehen zu haben, der wie eine Mischung aus Ronald McDonald und dem Fernsehclown Bozo wirkte.
Mike Hanlon, Bibliothekar in Derry, ahnt, dass „Es“ zurückgekommen ist, eine unheimliche Macht, der seine Freunde Bill Benbrough, Stanley Uris, Richard Tozier, Eddie Kaspbrak und Beverly Marsh damals nur dadurch in die Flucht schlagen konnten, weil sie als Freunde zusammengehalten haben. Während alle außer Mike als Erwachsene Derry verlassen haben, um erfolgreicher Komiker (Richie), Schriftsteller (Bill), Architekt (Ben), Modedesignerin (Bev) oder Prominenten-Chauffeur (Eddie) zu werden, hat Mike eine Chronik über die Welle von Gewaltverbrechen erstellt, die in regelmäßigen 27-Jahres-Zyklen Derry heimsuchen – und zwar seit nachweisbar sehr langer Zeit. Als Mike und seine Freunde damals „Es“ besiegt, aber nicht getötet hatten, schworen sie sich, wieder zusammenzukommen, sollte „Es“ zurückkehren.
Mike ruft seine alten Freunde an, die mit Ausnahme von Stan tatsächlich ihre Verpflichtungen liegen lassen und nach Derry kommen, um ihr Versprechen einzulösen. Schnell zeigt sich, dass Mike mit seiner Befürchtung recht gehabt hat: „Es“ hat nach wie vor allerlei Tricks auf Lager, seine Gegner mit ihren ureigensten Ängsten zu konfrontieren …
„Er wusste es nicht, aber er glaubte – ebenso wie er glaubte, dass alle Morde auf ein und dasselbe Konto gingen -, dass Derry sich tatsächlich verändert hatte, und dass diese Veränderung mit dem Tod seines Bruders begonnen hatte. Die Schreckensvisionen in seinem Kopf hatten ihren Ursprung in seiner tief verborgenen Überzeugung, dass in Derry jetzt alles Mögliche passieren konnte. Alles.“ (S. 168) 
Im Jahr seines 70. Geburtstages erlebt Stephen King eine bemerkenswerte Renaissance seiner Werke. Der „King of Horror“ schreibt nicht nur unermüdlich weiter, sondern durfte auch verfolgen, dass in diesem Jahr nach „The Dark Tower“ auch sein bereits 1990 durch Tommy Lee Wallace verfilmtes Epos „Es“ erneut eine filmische Adaption erfahren hat, diesmal für die große Leinwand und weitaus gruseliger als der frühere Fernseh-Zweiteiler.
Als Stephen King 1986 „Es“ veröffentlichte, konnte er bereits mit u.a. „Carrie“, „Shining“, „The Stand“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und „Der Talisman“ (zusammen mit Peter Straub) auf etliche Bestseller zurückblicken. Aber erst mit „Es“ schuf Stephen King eine über mehrere Zeitebenen perfekt ausbalancierte Geschichte, die vor allem durch die sehr sorgfältige Zeichnung der sympathischen Figuren brilliert, die King jeweils mit sehr ausführlichem Hintergrund ausgestattet hat.
Geschickt verleiht er dem Grauen in Derry durch einen verführerischen Clown Gestalt und macht für die Kinder das Leben in der an sich idyllischen Kleinstadt zum Alptraum, zu dem nicht zuletzt der bösartige Henry Bowers mit seiner Clique mit ihren durchaus brutalen Gemeinheiten beitragen. Stück für Stück enthüllt Stephen King vor allem durch seinen Chronisten Mike Hanlon die Geschichte des Bösen in Derry, das es auf überdurchschnittlich viele Kinder abgesehen hat. Obwohl King selbst innerhalb eines Satzes von Kapitel zu Kapitel zwischen den Zeiten springt, hält er die Spannung immer aufrecht. Das gelingt ihm vor allem durch die minutiös geschilderten Biografien der „Club der Verlierer“-Mitglieder mit ihren ganz individuellen Geschichten, psychischen Dispositionen, Träumen und Ängsten, mit ihren persönlichen Beziehungen, Berufen und Problemen, so dass der Leser sich mitten im Geschehen erlebt und zusammen mit den Figuren zwischen den 1950er und 1980er Jahre hin- und herspringt.
Wenn zum Ende hin deutlich wird, wie es den Kindern damals gelang, „Es“ zu besiegen, wirkt das Vorgehen nicht gerade nachvollziehbar, aber King erweist sich als dermaßen souveräner und mitreißender Erzähler, dass der Spruch, dass ungewöhnliche Situationen ungewöhnliche Maßnahmen erfordern, in dieser Hinsicht auch auf „Es“ zutrifft.
Als ich den Roman 1986 – nach meinem Abitur - zum ersten Mal gelesen hatte, war ich so gefesselt, dass ich fortan – und bis heute – ein großer Fan von Stephen King wurde, der zugleich meine Lust zunächst an der Schauerliteratur und so am Lesen im Allgemeinen geweckt hat, womit ich ihm mehr als nur dankbar bin. Dreißig Jahre später hat das Horror-Epos für mich nichts an seiner Faszination eingebüßt, die auf die permanent gruselige Atmosphäre und die geschickte Dramaturgie zurückzuführen ist, wie sie nur Stephen King zu inszenieren vermag. 
Leseprobe Stephen King - "Es"

Ned Beauman – „Glow“

Dienstag, 26. September 2017

(Tempo, 320 S., Pb.)
Raf ist gerade dabei, sich bei einem illegalen Rave in einem Waschsalon ein Achtelgramm einer undefinierten Mischung aus Speed, Glutamat und einem noch nicht zugelassenen Medikament gegen soziale Phobie bei Hunden reinzuziehen, als er sich Hals über Kopf in Cherish verliebt, Tochter einer Burmesin und eines amerikanischen Ingenieurs, der für den international agierenden Minenkonzern Lacebark arbeitet. Wenn Raf sich nicht gerade auf irgendwelchen Raves herumtreibt und experimentelle Drogenmixturen ausprobiert, behütet er einen Staffordshire Bullterrier, der auf dem Dach eines achtzehnstöckigen Wohnhauses den Piratensender Myth FM bewacht.
Als nicht nur immer mehr Burmesen scheinbar spurlos verschwinden, sondern Raf auch beobachtet, wie mit Theo der Chef des Radiosenders durch einen geräuschlos fahrenden weißen Lieferwagen entführt wird, kommt Raf, der unter einer seltenen Schlaf-Wach-Rhythmusstörung leidet, die seinen Tag 25 Stunden dauern lässt, einer komplexen Verschwörung auf die Spur, in der auch Cherish und der Chemiker Win unklare Rollen einnehmen. Dabei geht es vor allem um die neue Droge Glow, bei deren Herstellung interessanterweise Füchse eine besondere Rolle spielen …
„Jetzt sind die Leute von Lacebark im Londoner Süden, sie infiltrieren die Stadt, sie verändern sie und verbreiten einen Nebel der Angst in den Straßen, die ihm einmal so viel bedeutet haben. Als seine Freundin ihn verlassen hatte, wurde hier für einige Zeit alles zu Scheiße, und er konnte nur dasitzen und leiden. Sieben Wochen später wird wieder alles zu Scheiße, aber diesmal kann Raf etwas dagegen unternehmen.“ (S. 152) 
Der britische Autor Ned Beauman hat nach seinem Studium in Cambridge für Zeitungen und Magazine wie „The Guardian“ und „The Daily Telegraph“ geschrieben, seit 2010 („Der Boxer“) ist er auch als Schriftsteller zu einer anerkannten Größe der europäischen Literaturszene herangewachsen und wurde für seinen zweiten Roman sogar für den Man-Booker-Prize nominiert.
Mit „Glow“, 2014 bereits als Hardcover bei Hoffmann und Campe erschienen, entführt Beauman seine Leser auf eine atemberaubende Odyssee, in der das waghalsige Erzähltempo durch exzessiven Drogenkonsum, wilde Rave-Partys und das Verschwinden von immer mehr Burmesen im Londoner Süden bestimmt wird. Rezepte gibt es dabei nicht nur für Drogencocktails, sondern auch für asiatische Gerichte, und Raf wird ebenso wie der Leser Zeuge des unerbittlichen Kampfes internationaler Großkonzerne (hier in Gestalt von Lacebark) gegen alternative Lebensformen (wie sie im Rave, Drogenkonsum und Piratensendern zum Ausdruck kommen).
So stellt sich „Glow“ einerseits als origineller Krimi dar, der durch sein irres Tempo und die mal verschnörkelt-verschachtelte, dann wieder wunderbar klare Sprache charakterisiert wird, andererseits aber als unorthodoxe Globalisierungskritik, die durch ihre ungewöhnlichen Auswüchse sehr zum Unterhaltungswert des Romans beiträgt.
Das ist bei der Lust des Autors an sprachlichen Kapriolen und dem vertrackten Plot nicht immer ein einfaches, aber bis zum Ende hin doch ein lohnendes Lesevergnügen.

Tom Drury – „Grouse County“

Sonntag, 24. September 2017

(Klett-Cotta, 795 S., HC)
Der aus Iowa stammende Tom Drury begann nach seinem Journalismus-Studium seine berufliche Laufbahn zunächst als Reporter und Redakteur in der regionalen Presse, ehe er 1994 mit „Das Ende des Vandalismus“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Zusammen mit „Die Traumjäger“ (2000 in den USA veröffentlicht, 2008 in Deutschland) und dem hierzulande bislang unveröffentlichten Roman „Pazifik“ (2013) hat Klett-Cotta die hochgelobte „Grouse County“-Trilogie nun in einem Band veröffentlicht und dabei die ersten beiden Romane komplett überarbeitet.
In „Das Ende des Vandalismus“ macht der Leser Bekanntschaft mit einer bunt zusammengewürfelten Schar von Figuren, die vor allem das 321-Seelen-Dorf Grafton, aber auch die umliegenden Ortschaften Pinville, Wylie oder Boris bevölkern. Zu den Hauptdarstellern, wenn es denn welche gibt, in Drurys genau beobachteter Gesellschaftsstudie zählt dabei der amtierende Sheriff Dan Norman, der nicht nur den Diebstahl von mehreren Landmaschinen aufklären muss, sondern sich auch noch mitten im Wahlkampf befindet und mit Louise, der von Tiny Darling gerade geschiedenen Frau, zusammenlebt. Das kann der Taugenichts und Gelegenheitsdieb Tiny schwer ertragen, weshalb er nach Colorado geht, wo er auf einem Holzplatz in Lesoka eine Arbeit findet und mit Kathy Streeter von der Bäuerlichen Genossenschaftsbank eine Beziehung eingeht. Die Leser erleben mit, wie Alvin Getty seinen Lebensmittelladen aufgeben muss, wie Louise sich zunächst im Fotostudio von Perry Kleeborg engagiert, doch dann ein Schicksalsschlag ihr Leben völlig durcheinanderbringt.
Auch sonst haben es die Bewohner in Grafton nicht leicht. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte es noch zwei Gastwirtschaften, drei Kirchen, einen Friseur, einen Holzhandel und eine Bank gegeben, nun sind nur noch zwei Kirchen und ein Lokal davon übrig, nur ergänzt von einem Schönheitssalon und eine Art Gebrauchtwagenhandel. Zu den Höhepunkten des gesellschaftlichen Lebens zählt die Schulaufführung von „Tarantella“.
„Es war in gewissem Sinn eine verkehrte Welt – Jugendliche lieferten zur Unterhaltung der Erwachsenen eine anspruchsvolle Darbietung -, während allgemein in Grouse County, wie sonst überall auch, das Theater nicht als etwas Sinnvolles angesehen wurde, womit man sich nach Abschluss der Schule noch abgeben konnte. Sich Geschichten auszudenken und sie dann auf die Bühne zu bringen, das war den Leuten einfach nicht geheuer.“ (S. 240f.) 
Tom Drury macht es dem Leser mit seinem Debütroman nicht leicht, einem wie auch immer gearteten Plot zu folgen und sich in der Vielzahl von gut siebzig Personen zurechtzufinden, die das wie ein buntes Potpourri zusammengewürfelte Geschehen bestimmen oder auch nur mal kurz auftauchen und dann wieder von der Bildfläche verschwinden. Allerdings gelingt es Drury, mit seiner detaillierten Beschreibung des ländlichen Lebens irgendwo im Mittleren Westen die Sorgen und Träume nachzuvollziehen. Das tut er ebenso einfühlsam wie humorvoll, so dass einem manche Figuren dann doch ans Herz wachsen.
Der Nachfolgeroman „Die Traumjäger“, der – im Original - sechs Jahre später erschien (2000), ist nicht nur weitaus kürzer ausgefallen, sondern wartet auch mit einem weitaus reduzierteren Figurenensemble und einer stringenteren Erzählung auf. Tiny Darling hat sich mittlerweile auf seinen richtigen Namen Charles besonnen und lebt mit seiner zweiten Frau Joan, ihrem gemeinsamen Sohn Micah und Joans 16-jähriger Tochter Lyris zusammen, die als Baby zur Adoption freigegeben wurde und seither eine wenig erbauliche Odyssee durch verschiedene Pflegefamilien durchgemacht hatte, bis sie wieder von Joan aufgenommen worden ist. Charles versucht nicht nur, das alte Gewehr seines Stiefvaters, mit dem er viele Jagdausflüge in seiner Jugend unternommen hatte, von der Pfarrerswitwe Farina Matthews zurückzukaufen, sondern fragt sich auch, warum seine Frau, die Geschäftsführerin eines Tierschutzvereins mit Sitz in Stone City ist, zu einer Rede vor der Kreisversammlung einen Badeanzug mitnimmt.
Ganz unbegründet sind seine Sorgen nicht, denn wie schon Louise im vorherigen Band begibt sich auch Joan auf einen Selbstfindungstrip, von dem sie erst im kommenden Frühjahr zurückzukehren gedenkt …
Erst 2013 erschien mit „Pazifik“ der hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte dritte Band der „Grouse County“-Trilogie. Auf wiederum nur wenig mehr als 200 Seiten verfolgt Drury das Leben der Darling-Familie weiter. Joan Gower hat eine Karriere als Schauspielerin beim Fernsehen eingeschlagen und kehrt nach sieben Jahren in ihre alte Heimat zurück, um ihren mittlerweile 14-jährigen Sohn Micah nach Los Angeles mitzunehmen, wo er eine für ihn völlig neue Welt kennenlernt. Tiny hat sein Klempnergeschäft nach der Klage durch eine Versicherungsgesellschaft verloren und ist gar nicht begeistert, dass nun auch die erwachsene Lyris ihr Zuhause verlassen hat, um mit ihrem Verlobten, dem Journalisten Albert Robeshaw, zusammenzuleben.
Dan Norman ist nach dem Verzicht, ein sechstes Mal für das Sheriff-Amt zu kandidieren, Privatdetektiv geworden und wird von einem Ehepaar beauftragt, den zukünftigen Schwiegersohn ihrer Tochter Wendy unter die Lupe zu nehmen. Jack Snow betreibt einen Versandhandel mit keltischen Kunstgegenständen und „stinkt vor Geld“, was Wendys Eltern nicht geheuer ist.
Wenig später bekommt Dan Besuch von zwei staatlichen Ermittlern, die Jack Snow seit längerer Zeit im Visier haben …
Mit der über einen Zeitraum von knapp zwanzig Jahren entstandenen „Grouse County“-Trilogie hat Tom Drury eine Art liebevolle Bestandsaufnahme des ländlichen Lebens in Iowa kreiert, mit einer zunächst nahezu unüberschaubaren Schar an Figuren, die von knapp siebzig in „Am Ende des Vandalismus“ nahezu auf die Familien von Tiny Darling und Dan Norman reduziert wurden, aber allesamt ihre ganz persönlichen Sehnsüchte, Leidenschaften und Sorgen haben, die ihr Erzähler allesamt ernst nimmt und die im abschließenden Band „Pazifik“ sogar metaphysische und surreale Züge annehmen. Die Fürsorge, die Drury seinen Figuren angedeihen lässt, die wunderbare Sprache, die lebendige Dialoge und der lakonische Humor machen das epische „Grouse County“ zu einem unvergleichlichen Lesevergnügen, das zudem wie eine Anleitung zur Selbstverwirklichung und ein moralischer Kompass aufgefasst werden kann. 
Leseprobe Tom Drury - "Grouse County"

Antoine Laurain – „Die Melodie meines Lebens“

Dienstag, 12. September 2017

(Atlantik, 254 S., HC)
Als die Post bei Modernisierungsarbeiten in einer ihrer Pariser Filialen vier Briefe unter Holzregalen findet, die nicht zugestellt worden sind, ist auch einer aus dem Jahre 1983 dabei, der nun mit 33 Jahren Verspätung dem Empfänger zugestellt wird. Der über fünfzigjährige Allgemeinmediziner Alain Massoulier staunt nicht schlecht, als er so erfährt, dass die Band The Hologrammes, die er damals mit der Sängerin Bérangère Leroy, dem Schlagzeuger Stanislas Lepelle, dem Bassisten Sébastien Vaugan und dem Pianisten Frédéric Lejeune unterhalten hat, von Polydor einen Plattenvertrag angeboten bekommen hätte. Stattdessen hat sich die New-Wave-Band recht schnell aufgelöst, ihre Mitglieder haben sich in alle Winde zerstreut.
Alain, der von seiner Frau betrogen wird und ein unspektakuläres, aber zufriedenes Leben im 8. Arrondissement führt, macht sich auf die Suche nach den alten Bandmitgliedern und vor allem nach dem Demotape mit den fünf Songs, die damals für Furore hätten sorgen können. Sébastien war Alain als Kopf einer rechtsextremistischen Gruppe noch bekannt.
Durch seine Recherche im Internet erfährt er schließlich, dass Stan Lepelle ein aufstrebender Künstler geworden ist, Frédéric Lejeune in Thailand gerade ein Hotel eröffnet hat, Sébastien und der Texter Pierre Mazart ein Antiquitätengeschäft am linken Seine-Ufer unterhält. Der Produzent der Band, Mazarts Bruder Jean-Bernard – kurz JBM genannt -, kandidiert gerade für das Präsidentschaftsamt. Nur bei Bérangère hilft Alain das Internet nicht weiter, sondern der Zufall.
„Was sagt man zu einer Frau, die vor mehr als dreißig Jahren geliebt hat und der man zufällig am Bahnhof begegnet? Die man nur für ein paar Minuten und danach nie wieder sehen wird? Das ist, als ob das Leben einem ein Almosen gibt, keine zweite Chance, sondern eine Art Augenzwinkern.“ (S. 144) 
Mit seinem neuen Buch „Die Melodie meines Lebens“ spielt der Pariser Schriftsteller Antoine Laurain („Der Hut des Präsidenten“, „Das Bild aus meinem Traum“) weniger mit der „Was wäre, wenn …“-Möglichkeit, die das 33 Jahre zu spät erhaltene Angebot eines Plattenvertrags für die Bandmitglieder einer ambitionierten New-Wave-Band bereitgehalten hätte, als mit einem Abgleich der Persönlichkeiten von damals mit ihrem heutigen Leben.
Besonders gelungen sind dem Autor dabei die Rückblenden in die 1980er Jahre, als sich die Band gegründet und gefunden hatte. Weniger gut nachzuvollziehen sind die Schicksale der Protagonisten in der heutigen Zeit. Hier verliert sich Laurain in Einzelschicksalen und unzusammenhängenden Anekdoten. Allein JBMs Präsidentschaftswahlkampf und die Beziehung zu seiner ehrgeizigen persönlichen Assistentin Aurore sowie das Aufsehen erregende Kunstprojekt, mit dem Stan auf einmal weltberühmt wird, nehmen etwas mehr Raum im Strudel der Episoden ein.
Die Charakterisierungen und die Erzähldramaturgie leiden unter den sprunghaften Perspektivwechseln, zu denen auch die eingeschobenen Ich-Erzählungen einzelner Beteiligter zählen. Davon abgesehen verzaubert der kurze Roman aber mit nostalgischem Charme und Gedanken zu verpassten Möglichkeiten und verlorenen Lieb- und Freundschaften.