Quentin Tarantino – „Es war einmal in Hollywood“

Sonntag, 17. Dezember 2023

(Kiepenheuer & Witsch, 416 S., HC) 
Mit Filmen wie „Pulp Fiction“, „Kill Bill“, „Django Unchained“ und „The Hateful 8“ avancierte Quentin Tarantino zu einem der beliebtesten und versiertesten Filmemacher der heutigen Zeit. Nun ist der passionierte Filmliebhaber auch unter die Schriftsteller gegangen. Im Jahr 2021 legte der US-Amerikaner mit der Vorliebe für Italo-Western, Blaxploitation- und Martial-Arts-Filme sein Romandebüt vor, eine Adaption seines letzten Spielfilms „Once Upon a Time in Hollywood“
Hollywood im Jahr 1969. Als der 42-jährige Schauspieler Rick Dalton den Agenten Marvin Schwartz‘ aufsucht, geht es mit ihm nicht nur die Höhepunkte seiner Karriere durch, sondern Schwartz‘ legt am Ende dieser Rekapitulation auch die Finger in die Wunde, als er darauf anspielt, dass Dalton in den Augen des Publikums als Prügelknabe für jeden Platzhirschen herhalten muss, der neu im Geschäft ist. Außerdem muss der ehemalige Star der Westernserie „Bounty Law“ dem Agenten auch die oft kolportierte Geschichte wiedergeben, wie er „um ein Haar“ Steve McQueens Rolle in „Gesprengte Ketten“ gespielt hätte. Nachdem Dalton die „Deine Karriere ist am Ende“-Grabrede des Agenten über sich ergehen lassen musste, erhält er das Angebot, die Hauptrolle in einem italienischen Film zu übernehmen. 
Die Erkenntnis, dass er mit 42 Jahren bereits am Ende seiner Karriere angelangt sein könnte, die nur mit Engagements im Ausland zu retten sei, erschüttert Dalton so sehr, dass er noch im Büro des erfahrenen Agenten zu weinen beginnt und später seinen Kummer in Whiskey Sours ertränkt. Der 46-jährige Kriegsveteran und Daltons langjähriges Stunt-Double Cliff Booth lebt mit seinem Pitbull Brandy in einem Trailer, fährt Dalton durch die Stadt und assistiert ihm bei allen möglichen Arbeiten. Da er seine Frau umgebracht haben soll und Bruce Lee am Rande von Dreharbeiten bei einer nicht ganz freundschaftlichen Kräftemesse am Set von „The Green Hornet“ schlecht aussehen ließ, findet Booth sich damit ab, keine anderen Jobs in der Filmbranche zu finden. 
Als der gefeierte Regisseur Roman Polański und seine Frau, die in Hollywood durchstartende Schauspielerin Sharon Tate, in Daltons Nachbarhaus einziehen, sieht Dalton die einmalige Chance, durch die Bekanntschaft mit dem berühmten Paar seine eigene Karriere wieder in Schwung bringen zu können. Währenddessen sieht er, wie ein unbekannter Mann, Charles Manson, bei den Nachbarn klingelt und nach dem Musikproduzenten Terry Melcher fragt, von dem er sich erhofft, dass er durch ihn einen Plattenvertrag bekommt. Und während Cliff so durch die Gegend fährt, nimmt er das verdreckt aussehende Hippie-Mädchen Pussycat mit und fährt sie zur Spahn-Ranch, die Cliff noch als Westernkulisse für „Bounty Law“ kennt und nun von Charles Manson und seinen Anhängern bewohnt wird… 
„Nachdem er Pussycats wilde Geschichte gehört hat, kann Cliff nicht anders, als einen gewissen Respekt vor diesem Charlie zu empfinden. Ein paar durchgeknallte Hippie-Girls zu manipulieren, das ist eine Sache. Das könnte Cliff wahrscheinlich auch. Aber über wütende Väter mit Schrotgewehren hat Cliff nie viel Macht besessen.“ (S. 317) 
Wie umfassend Tarantinos Wissen über die Filmgeschichte ist, hat er nicht nur in seinen gefeierten Filmen bewiesen, die voller Zitate und Anspielungen sind, sondern auch in Interviews und zuletzt in seinem ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch „Cinema Speculation“. Sein erster Roman stellt weit mehr als eine Nacherzählung seines zweifach Oscar-prämierten Meisterwerks „Once Upon a Time in Hollywood“ dar. Stattdessen nutzt Tarantino die Möglichkeit, die Geschichte, die sich rund um den Übergang des klassischen Hollywood-Kinos zur New-Hollywood-Bewegung und die Morde der Manson-Familie dreht, aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen und neue Schwerpunkte zu setzen. 
Als besonderen Kniff implementiert der Autor rund um Rick Daltons Biografie eine (fiktive) Filmografie, die mit bekannten Hollywood-Darstellern und -Regisseuren gespickt ist und vor allem dazu dient, Hintergründe von Filmproduktionen zu erläutern. Das kommt vor allem im ersten Kapitel zum Tragen, als der Agent Marvin Schwartz und der auf dem absteigenden Ast befindlichen Schauspieler Rick Dalton dessen Werksbiografie durchgeht und Beispiele aufführt, wie Schauspieler durch geschickt geflochtene Beziehungen oder Verträgen zu ihren Rollen gekommen sind. 
Indem Tarantino später auch die Filmhandlung von Daltons Gastrolle als Bösewicht in der Westernserie „Lancer“ ausführlich wiedergibt, führt Tarantino eine Meta-Ebene in seine Erzählung ein, die ohnehin immer wieder zwischen Dalton, Booth, Sharon Tate und den Mitgliedern der Manson-Family wechselt. Dabei fließt weit weniger Blut, ist viel weniger Action am Start als in dem dazugehörigen Film mit Leonardo DiCaprio und Brad Pitt in den Hauptrollen. Dafür fesselt Tarantinos Romandebüt mit saftigen erotischen Episoden, einer flüssigen, sehr bildhaften Sprache und faszinierenden Hintergründen zu Hollywoods Filmproduktionen in der Hippie-Zeit. 
Das mag zwar keine große Literatur sein, macht aber einfach Spaß und ist als Pflichtlektüre für Filmfans nur zu empfehlen. 

John Banville – „Singularitäten“

Sonntag, 10. Dezember 2023

(Kiepenhauer & Witsch, 432 S., HC) 
Bereits mit seinem dritten, 1976 veröffentlichten Roman „Doctor Copernicus“ setzte sich der mittlerweile 78-jährige irische Schriftsteller und Literaturkritiker John Banville mit dem Leben und der Arbeit von Wissenschaftlern auseinander, was er in folgenden Werken wie „Kepler“, „Newtons Brief“, „Das Buch der Beweise“ oder „Athena“ fortsetzte. Mit seinem neuen Roman erweist sich der Ire einmal mehr als eigensinnige Stimme, der das Erbe seiner berühmten Landsmänner Samuel Beckett und James Joyce selbstbewusst auf seinen Schultern trägt und mit seiner verschachtelten Erzählung geschickt zwischen Schein und Sein, Traum und Wirklichkeit laviert. 
An einem windigen Aprilmorgen wird der wegen Mordes lebenslänglich verurteilte Freddie Montgomery aus dem Gefängnis entlassen und mietet sich einen Wagen, um an die Stätte seines Verbrechens zurückzukehren, doch hat sich einiges verändert. 
Freddie Montgomery behält zwar seine Initialen, benennt sich aber in Felix Mordaunt um, und was ihm einst als Coolgrange House bekannt war, heißt jetzt Arden House und wird von der Familie des bereits verstorbenen Wissenschaftlers Adam Godley bewohnt, der nicht nur mit Montgomerys Frau schlief, sondern durch seine von ihm entwickelte sogenannte Brahma-Theorie zu einer Größe unter den Metamathematikern avancierte. Als er sich der fast vierzigjährigen ehemaligen Schauspielerin Helen Godley vorstellt, verrät er ihr, dass er vor langer Zeit in diesem Haus geboren worden sei, doch bringt sie seinen Namen nicht mit den Blounts in Verbindung, die Arden House gebaut haben. 
Irgendwie gelingt Mordaunt es, hier sein Lager aufzuschlagen, im Haus von Adam Godley Jr., seiner Frau Helen und der alternden Haushälterin Ivy Blount. Als Godley Jr. den etwas abgehalfterten Wissenschaftler William Jaybey, Autor von „Die Macht der Schwerkraft: Isaac Newton und seine Zeit“ und Professor am Arcady College, engagiert, um die Biografie seines berühmten Vaters zu schreiben, geraten die Dinge in Schieflage. 
Jaybey glaubt nicht nur, sich in Helen verliebt zu haben, sondern entwickelt bei der Durchsicht von Godleys Briefen und Unterlagen ein Bild des Mathematikers, das so gar nicht mit dem übereinstimmt, das Godley von sich selbst der Welt präsentierte. 
„Wenn er nicht an seinem Schreibtisch saß, sondern irgendwo in der Welt unterwegs war, bekannten die Leute, sie hätten das unheimliche Gefühl, dass er da sei und gleichzeitig nicht da, hier anwesend und gleichzeitig irgendwo anders. Er genoss diese Legendenbildung sehr, förderte sie aktiv und trug häufig heimlich selbst dazu bei. In späteren Jahren machte es ihm Freude, sich als Magus zu sehen, als einen, der eingeweiht ist in Geheimnisse, als Hohepriester des Arkanums, als Zelebrant uralter Rituale in einer Bruderschaft des Einen …“ 
John Banville erweist sich bereits in den ersten Kapiteln als geübter Fabulierkünstler. Wenn er beschreibt, wie Montgomery (den Banville-Kenner bereits aus den Romanen „Das Buch der Beweise“, „Athena“ und „Geister“ kennen) das Gefängnis hinter sich lässt, um mit neuer Identität an den Ort zurückzukehren, an dem er das Dienstmädchen ermordete, wird schnell deutlich, mit welch großem Spaß er sein neues Leben zu formen versteht. 
Wer mit Banvilles sprachlicher Virtuosität noch nicht so vertraut ist, wird einige Kapitel benötigen, um von diesem komplexen Strom der Wörter mitgerissen zu werden. Doch dann entfesselt sich eine faszinierende Geschichte, in der die Persönlichkeiten, die die Handlung vorantreiben oder von ihr vorangetrieben werden, sich allesamt einer Überprüfung ihrer Existenz unterziehen müssen. Während Montgomery/Mordaunt genüsslich seine eigene Biografie erfindet, Godleys Schwiegertochter ihrer Schauspielkarriere hinterhertrauert und ihren Mann ausgerechnet mit dem Mörder betrügt, scheint nur der allwissende, gottgleiche Erzähler mehr zu wissen, was er mit großer Genugtuung seinem Publikum kundtut. Auf der anderen Seite ist Godleys Biograf sichtlich verstört von den ihn umringenden Personen und Ereignissen ebenso wie von dem Bild, das sich von seinem Studienobjekt abzeichnet. 
 Banville präsentiert sich als versierter Meister der Sprache und des Spiels mit Identitäten, die sich aus verschiedensten Quellen speisen, nicht zuletzt aus dem Erfindungsreichtum und den Sehnsüchten der Protagonisten. Je mehr man sich diesem Spiel mit realen wie fiktionalen Persönlichkeiten und ihren vielschichtigen Geschichten hingibt, desto prächtiger gestaltet sich das Lesevergnügen. 

Robert R. McCammon – „Tauchstation“

Montag, 4. Dezember 2023

(Knaur, 400 S., Tb.) 
Als Robert R. McCammon Ende der 1970er Jahre seine Schriftsteller-Karriere begann, arbeitete er sich zunächst an den Archetypen des Horror-Sujets ab. Nach seinem Debüt mit „Baal“, der auf der Welle von Blockbustern wie „Der Exorzist“ und „Das Omen“ schwamm, beschwor „Höllenritt“ alte Dämonen herauf, und so durfte man gespannt sein, was dem amerikanischen Genre-Schreiber für sein nächstes Werk einfallen würde. „Tauchstation“, 1980 unter dem passenderen Titel „The Night Boat“ im Original veröffentlicht, vermischt das von den Nazis erzeugte Grauen mit Voodoo-Flüchen, kommt aber über das Mittelmaß nie hinaus. 
Nachdem er vor ein paar Jahren seine Frau und seine Tochter bei einem tragischen Unglück verlor, zog sich der ehemalige Finanzier David Moore auf die kleine Karibik-Insel Coquino zurück, wo er nicht nur das Hotel „Indigo Inn“ führt – in das sich selten genug Touristen verirren -, sondern auch ausführliche Tauchfahrten unternimmt, um versunkene Schiffswracks aufzuspüren. Bei einem dieser Tauchgänge stößt Moore unter einem Berg von Sand auf ein sehr gut erhaltenes U-Boot, das sich nach der Detonation einer ebenfalls freigelegten Wasserbombe an die Oberfläche bewegt und als das nazideutsche U-Boot 198 entpuppt. 
Durch die Strömung bewegt sich das Boot zielstrebig auf den Hafen der Insel zu und sorgt dort für extreme Unruhe. Constable Steve Kip lässt das Boot erst einmal in einem Schuppen von Langstrees Bootswerft einschließen, bis geklärt worden ist, was mit dem Wrack geschehen soll, denn darüber herrscht auf der Insel Uneinigkeit. Während die einen es gar nicht erwarten können, den vermeintlichen „Schatz“ zu erforschen, sind es vor allem die Ureinwohner, die das unheilvolle Wrack schnellstmöglich wieder in den Meerestiefen versinken lassen wollen. 
Doch ein übereifriger Inselbewohner kommt diesen Überlegungen zuvor und verschafft sich Zugang zu dem U-Boot, doch statt des erhofften Goldes findet der Mann den Tod und befreit die mumifizierten Leichen der Besatzung aus ihrem Grab. Nachdem sie vor gut vierzig Jahren auf dem Meeresgrund ihre Lebenssäfte eingebüßt haben, dürsten sie nun nach Rache und versetzen die Bewohner auf Coquino in Angst und Schrecken. Dass mit Schiller der letzte Überlebende der U-198 und mit Dr. Jana Thornton eine für das Britische Museum arbeitende Meeresarchäologin die Insel besuchen, trägt nicht gerade zur Beschwichtigung der um sich greifenden Hysterie bei, während sich die verfluchten U-Boot-Soldaten in einem unerbittlichen Blutrausch an den noch wirklich Lebenden zu laben beginnen … 
„Als er in diese Augenhöhlen starrte, begriff Moore, worin das Erbe des U-Boots bestand. Seine Insassen waren zu einem Leben im Tode verdammt, einem Schwebezustand von seelischer Qual und fleischlicher Verwesung. Irgendeine gottlose Macht hatte sie am Leben erhalten, als lebende Leichname in einem eisernen Sarg … und er selbst hatte sie aus dieser Gruft befreien helfen.“ (S. 277f.) 
Mit „Tauchstation“ verbindet Robert McCammon gleich mehrere Topoi des Horror-Genres, vermischt Nazi-Greuel mit monsterähnlichen Schrecken aus der Tiefe und Voodoo-Flüchen. Da ist erst einmal die paradiesische Idylle einer nicht allzu bekannten Insel in der Karibik, doch der Schein trügt, denn die Karaiben und die meist weißen Fischer trauen sich kaum über den Weg. McCammon gelingt es zwar, die Atmosphäre des Insellebens einzufangen, doch gewinnen seine Figuren dabei kaum Kontur. Es wird zwar kurz erwähnt, welche Traumata sowohl David Moore als auch Steve Kip in ihrer Vergangenheit erlebt haben, doch in die Tiefe geht der Autor bei der Charakterisierung seiner Protagonisten leider nicht, weshalb der Leser kaum Nähe zu den Figuren und ihren Schicksalen aufbaut. Ohnehin scheint das geheimnisvolle Auftauchen des über viele Jahre verschütteten U-Boots nur ein Prolog zu dem blutigen Massaker zu sein, das die zombifizierte, mit einem Voodoo-Fluch belegte U-Boot-Besatzung nach ihrer Befreiung auf der Insel anrichtet. 
Hier läuft McCammon schließlich zur Hochform auf, wenn er das Gemetzel in farbenfroher Detailverliebtheit schildert. Dank der sprachlichen Gewandtheit des Autors lässt sich der vorhersehbare Plot auch schnell konsumieren, aber besonders subtil und tiefgründig ist das nicht. 
„Tauchstation“ ist unterhaltsamer Horror-Trash, eine wenig originelle Fingerübung eines damals noch jungen Autors.


Jeffery Deaver – (Lincoln Rhyme: 15) „Der Eindringling“

Dienstag, 28. November 2023

(Blanvalet, 496 S., HC) 
Zwar hat Jeffery Deaver bereits 1988 seine ersten Romane veröffentlicht, doch erst mit dem ersten, später von Philip Noyce mit Denzel Washington und Angelina Jolie in den Hauptrollen verfilmten ersten Band um den Kriminalist Lincoln Rhyme, „Der Knochenjäger“, gelang ihm der internationale Durchbruch. Zwischenzeitlich hat Deaver auch weitere Thriller-Reihen um die Protagonisten Kathryn Dance und Colter Shaw ins Leben gerufen, doch sein Fokus liegt nach wie vor auf der Lincoln-Rhyme-Reihe, in der nun mit „Der Eindringling“ bereits der 15. Band erscheint. 
Der in New York lebende und arbeitende und nach einem Unfall querschnittsgelähmte Kriminalist Lincoln Rhyme sagt am New York Supreme Court als Sachverständiger in der Mordanklage gegen Viktor Buryak aus, doch lässt seine Aussage seine Tätigkeit als forensischer Berater das NYPD so schlecht aussehen, dass ihm untersagt wird, weiter als Berater für die New Yorker Polizei tätig zu werden. Schließlich ist das NYPD in letzter Zeit immer öfter wegen verpfuschter Ermittlungen oder unfähiger Staatsanwälte in die Kritik geraten, was ein Verschwörungstheoretiker namens Verum in seinen Posts immer wieder betont und auf eine verschwörerische Gemeinschaft der Verborgenen verweist. 
Doch dann wird er mit dem Fall eines ungewöhnlichen Einbruchs konfrontiert. In der Wohnung der 27-jährigen Influencerin Annabelle Talese hat der Täter nicht nur einige Sachen umgeräumt, sondern auch eine Botschaft auf einer Seite aus dem Revolverblatt Daily Herald hinterlassen und sie mit „Der Schlosser“ unterzeichnet. Bei seinen Einbrüchen geht der Schlosser immer skrupelloser vor, so dass den Ermittlern die Zeit davonrinnt, denn womöglich wird der Eindringling auch vor Mord nicht mehr zurückschrecken. Währenddessen sinnt Buryak, der durch den Handel mit Informationen schwerreich geworden ist, auf Rache. Dass Rhyme ihm einen Mord anhängen wollte, will er der skrupellose Geschäftsmann nicht ungesühnt lassen. 
Durch die Mithilfe des Kriegsveteranen und Ex-Cops Lyle P. Spencer, der mittlerweile als Sicherheitschef der Whittaker Media Group, des Verlags des Daily Herald, arbeitet, kommen Rhyme und sein Team, darunter Rhymes beim NYPD arbeitende Frau Amelia Sachs, der Operationsbasis des Schlossers immer näher. Doch der scheint den Ermittlern immer noch so weit voraus zu sein, dass Rhyme sich an einen früheren Widersacher erinnert fühlt… 
„Die Vorgehensweise des Schlossers und seine Versessenheit auf komplexe Mechanismen erinnerten stark ab den Uhrmacher. War der Mann in die Stadt zurückgekehrt, um sich Rhyme vorzuknöpfen? Doch bei Licht betrachtet schien das unwahrscheinlich zu sein. Die Vorliebe von Rhymes persönlichem Gegner waren Uhren und es war kaum vorstellbar, dass jemand sich so spät in seiner Laufbahn plötzlich mit ähnlicher Intensität dem Thema Schlösser widmete. Rhyme fragte sich, ob das auch für den Schlosser galt. Was ging hier in Wahrheit vor sich?“ (S. 69) 
Jeffery Deaver hat bereits in seinen früheren Lincoln-Rhyme-Romanen interessante Verbrecher-Typen auftreten lassen, die alle Fertigkeiten des prominenten Kriminalisten herausforderten, um die hochintelligenten Täter dingfest machen zu können. In dieser Hinsicht reiht sich der Schlosser souverän ein, ohne besonders hervorzustechen. Nicht umsonst wird der Vergleich zum Uhrmacher herangezogen. So interessant die Suche nach dem Täter und seiner Identität auch ist, folgt Deaver eher konventionellen Mustern und bricht diese durch immer neue, am Ende etwas unglaubwürdige Wendungen auf, die ihre Wirkung aber zunehmend verfehlen. Dafür hätte sich der Autor anderen Themen intensiver widmen können, die ebenfalls Thema von „Der Eindringling“ sind, die Korruption innerhalb der Polizei, politische Ränkespiele, die negativen Begleiterscheinungen der Meinungs- und Pressefreiheit in Form gefährlicher Verschwörungstheorien. 
Während der Schlosser immer wieder als Ich-Erzähler auftritt und so ein wenig Kontur gewinnt, bleiben die übrigen Protagonisten übrigens enttäuschend flach. Dafür setzt „Der Eindringling“ einfach zu sehr auf Action und knallharte Wendungen. Nach einer starken ersten Hälfte flacht der Thriller deshalb im zweiten Durchgang signifikant ab, bietet aber alles in allem noch überdurchschnittliche Spannung.

Jordan Harper – „Alles schweigt“

Samstag, 25. November 2023

(Ullstein, 384 S., HC) 
Als Drehbuchautor und Produzent von Serien wie „The Mentalist“, „Gotham“ und „Hightown“ hat Jordan Harper genügend Erfahrungen in Hollywood gesammelt, um als Insider authentisch wirkende Geschichten rund um die Reichen und Schönen, Stars und Sternchen erzählen zu können. Für seinen 2017 erschienenen Roman „She Rides Shotgun“, der ein Jahr später von Ullstein unter dem Titel „Die Rache der Polly McClusky“ veröffentlicht wurde, erhielt Harper den renommierten Edgar Allan Poe Award. Nun legt er mit „Alles schweigt“ sein neues Werk vor. 
Die mit allen Wassern gewaschene PR-Agentin Mae Pruett ist mal wieder in einer heiklen Mission unterwegs. In der hippen Absteige Chateau Marmont muss sie sich eine Geschichte einfallen lassen, wie die Schauspielerin Hannah Heard zu ihrem blauen Auge gekommen ist, ohne dass sie ihre Rolle in der Produktion verliert, deren erster Drehtag ansteht. Ein selbst gedrehtes Video mit Hannahs Hund, der für diese Verletzung verantwortlich gemacht wird, macht aus der Krise einen beliebten Instagram-Feed. Weitaus beunruhigender für Mae ist die geheimnisvolle Einladung ihres Chefs bei Mitnick & Associates, Dan Hennigan, zu einem Drink im Beverly Hills Hotel. 
Viel bekommt sie bei dem Gespräch nicht heraus, nur dass Dan etwas auf eigene Rechnung durchziehen will und dabei auf Maes Hilfe hofft. Offensichtlich ist er auf ein Geheimnis gestoßen, das ihn reich machen könnte. Doch so weit kommt es nicht. Dan wird bei einem fingierten Raubüberfall erschossen, und Mae wird damit beauftragt, sich um seinen wichtigsten Klienten zu kümmern: Der schwerreiche Ward Parker sammelt nicht nur Wahlkampfspenden für den Bürgermeister, den Gouverneur und Kongressabgeordnete, sondern ist auch dafür bekannt, auf ungeschützten Sex unter Drogeneinfluss zu stehen. Dabei ist es auch schon zu Todesfällen gekommen. 
Ob Maes Chef das Wissen um Parkers düsteres Geheimnis zum Verhängnis wurde, weil er es zu Geld machen wollte? Als sie die merkwürdigen Umstände von Hennigans Ermordung untersucht, trifft sie auf ihren Ex-Lover Chris Tamburro, der als ehemaliger Cop als Krisenmanager ebenfalls dafür sorgt, dass die reichen Klienten möglichst unbehelligt ihren Lastern frönen können. Dass der Latino John Montez als Hennigans Mörder identifiziert und wenig später von alarmierten Cops getötet wird, soll Chris im Auftrag des Finanzmoguls Leonardo DePaulo parallel zur Polizei Ermittlungen über Hennigans Tod anstellen und dafür seine Kontakte zu seinen ehemaligen Kollegen ausnutzen. Bei ihren gemeinsamen Ermittlungen stoßen Mae und Chris auf den Produzenten und Autoren Eric Algar, der einst durch seine Teenieshows berühmt geworden ist, mittlerweile aber eher wegen seiner Vorliebe für minderjährige Mädchen, die in seinen Shows unterkommen wollen, bekannt ist – zumindest unter Insidern, doch die Spurensuche entwickelt sich zu einem gefährlichen Unterfangen… 
„Maes Theorie zufolge würde sich niemand für Eric einsetzen, weil er nicht mehr viel wert ist. Er ist das perfekte Erpressungsopfer, die Ermittlungen werden auf Eis gelegt. Und wenn diese Theorie falsch ist? Wenn Eric mehr wert ist, als sie dachten?“ 
Seit den Vorwürfen zu sexuellen Übergriffen gegen Hollywood-Produzent Harvey Weinstein und der dadurch ausgelösten #MeToo-Bewegung ist einer breiten Öffentlichkeit bewusst geworden, worüber zuvor eher gemunkelt wurde. Dass Verfehlungen einflussreicher Hollywood-Produzenten, -Agenten und anderer Schlüsselfiguren meist nicht an die Öffentlichkeit gelangen, ist einer Image-Industrie zu verdanken, die so geschickt mit den Medien umzugehen versteht, dass die üblen Geschichten im Leben der Stars und Sternchen eben nicht an die Öffentlichkeiten gelangen. 
Jordan Harper hat mit seinen beiden Protagonisten, aus dessen Perspektive er meist abwechselnd die Geschichte erzählt, zwei sehr authentisch wirkende Figuren geschaffen, die einem zwar nicht gleich ans Herz wachsen, die aber sympathisch genug sind, um ihre Arbeit und das Ringen um ihre Beziehung mit Spannung zu verfolgen. Der Autor taucht dabei tief in die Strukturen der Unterhaltungs-Industrie ein, macht deutlich, wie Geld, Einfluss, Politik und Medien zusammenwirken, um den Betrieb am Laufen zu halten. 
Der ursprüngliche Kriminalfall, nämlich die Aufklärung des Mordes an Dan Hennigan, rückt dabei fast in den Hintergrund, weil immer neue abscheuliche Verbrechen ans Licht gelangen, mit denen Mae und Chris – und letztlich auch die Leserschaft – konfrontiert werden. Das erinnert in dem düsteren Grundton immer wieder an James Ellroy („L.A. Confidential“, „The Black Dahlia“), der in seinen Romanen ebenfalls die dunklen Seiten der amerikanischen Gesellschaft thematisiert. Allerdings ist Harpers „Alles schweigt“ weitaus leichter zu konsumieren. 

Philippe Djian – „Ein heißes Jahr“

Mittwoch, 22. November 2023

(Diogenes, 228 S., HC) 
Von Beginn seiner schriftstellerischen Karriere an hat sich Philippe Djian vor allem mit amourösen Verstrickungen und der poetischen Beschreibung ihrer seelischen wie körperlichen Vorgänge einen Namen gemacht. In den letzten Jahren ist dem französischen Bestseller-Autor diese Fähigkeit allerdings weitgehend abhandengekommen. Dass sein neuer Roman „Ein heißes Jahr“ mit kaum mehr als 200 Seiten wieder sehr kurz ausgefallen ist, spricht zunächst wenig dafür, dass Djian wieder die Kurve gekriegt hat. Dafür setzt er mit der Klimakatastrophe in einer nahen Zukunft – der Originaltitel des Romans lautet „2030“ - zumindest auf ein hochaktuelles Thema. 
Vor zehn Jahren hat die schwedische Schülerin Greta Thunberg zu Schulstreiks für das Klima aufgerufen und den Weg für die globale Bewegung „Fridays For Future“ freigemacht. Als Greg eines Morgens eine Reportage über das „Mädchen mit den Zöpfen“ sieht, wird er mit der unangenehmen Tatsache konfrontiert, dass er zusammen mit seinem Schwager Anton für die Vertuschung von Forschungsergebnissen zur Schädlichkeit eines Pestizids verantwortlich ist. Und das in einer Zeit, in der die Temperaturen so stark steigen, dass man es ohne Klimaanlage kaum noch aushält. Dafür gibt es aber ein Heilmittel gegen Krebs, so dass wieder unbeschwert geraucht werden darf. Während Anton und Greg sich mit ihrem Labor der Gesundheitsaufsicht stellen müssen, die bei einigen der Untersuchungsergebnisse Verdacht geschöpft haben, unterstützt Greg seine vierzehnjährige Nichte Lucie bei ihrem Engagement für das Klima. Dadurch lernt er die Klimaaktivistin Véra kennen, mit der Greg eine ungewöhnliche Freundschaft eingeht, bei der die Grenzen nicht immer so klar definiert erscheinen wie ursprünglich abgesprochen… 
„Sie spielten dieses Spielchen schon eine ganze Weile, am Ende war es schon tiefe Nacht, und sie hatten sich so heißgemacht und gereizt, dass er ihr sogar einen Finger hineingeschoben hatte, aber in weniger als einer Minute hatten sie sich wieder im Griff und gingen in beiderseitigem Einvernehmen auseinander. Sie zog den Slip wieder an und rollte sich auf die Seite. Er stand auf. Sie konnte schlecht behaupten, dass das seine Idee gewesen wäre. Sie selbst hatte die Grenzen festgesetzt, sich darüber zu beklagen, ging jetzt nicht. Genau das musste es wohl bedeuten, sich ins eigene Fleisch zu schneiden.“ (S. 158) 
Was anfänglich wie eine Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe wirkt, auf die wir wissentlich zusteuern, entpuppt sich bei Djian schnell nur als Aufhänger für eine weitere komplizierte Liebesgeschichte. Die familiären und beruflichen Bindungen zwischen Anton und Greg sind dabei komplex. Während für Anton als Chef des Labors, das mit seinen gefälschten Forschungsergebnissen dafür verantwortlich ist, dass das nach wie vor für den Handel zugelassene Pestizid in Zusammenhang mit einigen Todesfällen gebracht wird, vor allem das Image seiner Firma am Herzen liegt und mit den Töchtern seiner Frau arge Probleme hat, ist sein Schwager Greg hin- und hergerissen zwischen seiner Loyalität zu seiner Firma, die ihm ein luxuriöses Leben mit einem Porsche ermöglicht, und seiner gesellschaftlichen Verantwortung, auf die ihn seine Nichte und ihre Mentorin Véra aufmerksam machen. 
Djian interessiert sich jedoch mehr für das komplizierte Verhältnis zwischen Greg und Véra als für die Begleitumstände der bedrohlichen Klimakatastrophe, die Djian nur kurz skizziert. Im Gegensatz zu seinen früheren Romanen sind die Charakterisierungen der Figuren in „Ein heißes Jahr“ sehr oberflächlich ausgefallen. Eine wirkliche Nähe zu den Figuren oder gar Sympathie für sie lässt der kurze Roman leider nicht zu. So bleibt „Ein heißes Jahr“ nur eine weitere, eher unbedeutende, wenn auch stilsichere Fingerübung des einst so leidenschaftlich wirkenden Schriftstellers.


Dan Simmons – „Olympos“

Sonntag, 19. November 2023

(Heyne, 958 S., Tb.) 
Obwohl Dan Simmons auch sehr erfolgreich in den Genres Horror und historischem Abenteuer-Roman unterwegs gewesen ist, bleibt sein Name nach wie vor mit seiner vielfach preisgekrönten „Hyperion“-Tetralogie verbunden, die 1989 mit „Hyperion“ ihren Anfang nahm und über die Romane „Das Ende von Hyperion“, „Endymion. Pforten der Zeit“ und „Endymion. Die Auferstehung“ in den 1990er Jahren fortgeführt wurde. Nach seinem Ausflug in konventionellere Gefilde mit Thrillern wie „Fiesta in Havanna“, „Das Schlangenhaupt“ und „Eiskalt erwischt“ legte Simmons 2003 mit „Ilium“ sein nächstes Sci-Fi-Epos vor. Schon ein Jahr später präsentierte er mit „Olympos“ die Fortsetzung/den Abschluss seiner fantastischen Geschichte über den Kampf zwischen antiken Göttern auf einer alternativen Erde. 
Der aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammende Altphilologe Thomas Hockenberry wurde nach seinem Tod im Jahr 2006 von den Göttern aus alten Knochen, DNA und Erinnerungsfragmenten wiederbelebt, um für die Musen am Olymp Bericht vom Kampf um Troja zu erstatten. Mit der ihm zur Verfügung stehenden High-Tech-Ausrüstung war es Hockenberry und seinen Kollegen nicht nur möglich, mitten im Kampfgetümmel zu erscheinen (und zu verschwinden), ohne von den Beteiligten wahrgenommen zu werden, sondern er konnte die Ereignisse auch verändern. 
Dabei stellte der „Ilias“-Kenner fest, dass sich der Olymp der Götter nicht auf der Erde, sondern auf einem bewohnbaren Mars befindet, während der Trojanische Krieg auf der historischen Erde stattfand. Nach zehn Jahren sorgte allerdings ein Bündnis zwischen Achilles und Hektor, mit dem Ziel, Krieg gegen die Götter zu führen, für Verwirrung, und auf einem fernen Mars der Zukunft begann der trojanische Krieg von neuem. Während Zeus verschwand, kamen die Götter und Göttinnen herunter, um an der Seite ihrer jeweiligen Favoriten zu kämpfen. 
Im Zuge der Kampfhandlungen sorgt das Abreißen der Verbindung zwischen dem Mars mit dem Olymp und der Erde dafür, dass die Moravecs genannten biologische Maschinenwesen und die Griechen fliehen müssen, während Achilles auf dem Mars zurückbleibt und sich mit Hephaistos’ Hilfe auf eine aberwitzige Reise durch die Unterwelt begibt. Auf der zukünftigen Erde wiederum sehen sich die wenigen „Altmenschen“ einem Krieg ausgesetzt, den sie nicht gewinnen können, weil die unzähligen Voynixe, jene halbmechanischen Helfer, die ihnen zuvor ein bequemes und sorgenfreies Leben gewährleistet haben, plötzlich zur unbezwingbaren, tödlichen Bedrohung geworden sind. Und wieder muss sich Hockenberry an einen Ort teleportieren, an dem man ihn nicht sieht… 
„Wo genau will ich eigentlich hin? Wie kann ich diejenigen, zu denen ich will, dazu bewegen, den Griechen bei der Flucht zu helfen? Wohin könnten die Griechen fliehen? Ihre Familien, Bediensteten, Freunde und Sklaven sind alle in den blauen Strahl gesaugt worden, der von Delphi emporsteigt.“ (S. 751) 
Wer von „Ilium“ und „Olympos“ erwartet, ein ähnlich packendes Science-Fiction-Epos wie die „Hyperion“-Tetralogie genießen zu dürfen, wird sicher enttäuscht. Zwar ist Simmons‘ Grundidee, Homers berühmte „Ilias“ auf verschiedenen Raum- und Zeitebenen zwischen Mars und Erde zu verlegen, höchst interessant, aber auf den am Ende fast zweitausend Seiten des zweibändigen Epos treibt es der Autor dann doch etwas weit mit unzähligen Figuren, die am Trojanischen Krieg teilgenommen haben, und diversen technologischen Erfindungen, die oft nicht näher erläutert werden. Dass Simmons immer wieder zwischen den Zeiten, Orten und handelnden Personen/Göttern und literarisch bewanderten Moravecs hin- und herspringt, ist dem Lesegenuss ebenfalls wenig zuträglich. Dabei gewinnen die unzähligen Figuren kaum Kontur. Hockenberry, der als Ich-Erzähler, noch das alles verbindende Glied in „Ilium“ gewesen ist, taucht in der Fortsetzung erstmals ab Seite 650 auf, worauf seine Rolle fast darauf beschränkt bleibt, die bisherigen Ereignisse seit seiner Reaktivierung zusammenzufassen. 
Shakespeare- und „Ilias“-Kenner sind sicher im Vorteil, wenn es um die Einordnung literarischer Referenzen geht, die vor allem durch die beiden sympathischen Moravecs Mahnmuth und Orphu ins Spiel gebracht werden, aber hilft das kaum weiter, um die technologischen Finessen, quantenphysikalischen Phänomene und interpersonelle Verstrickungen zwischen den Alt-, und Nachmenschen, Göttern und Halbgöttern, Maschinenwesen und Monstern mit gehirnähnlichem Aussehen so einzuordnen, dass man als Leser mit Spannung das Finale erwartet. Das fällt nämlich mit einem Ausblick nach der Zerstörung Iliums eher metaphysisch aus. Simmons‘ Ideenreichtum, umfängliches Wissen und sprachliche Gewandtheit machen sich auch in „Olympos“ bemerkbar, aber weniger wäre gerade im vorliegenden Werk mehr gewesen.


Paul Auster – „Baumgartner“

Mittwoch, 8. November 2023

(Rowohlt, 208 S., HC) 
Seit seinen ersten beiden Büchern, die im Original 1987 erschienen und zwei Jahre später in deutscher Übersetzung unter den Titeln „Die New-York-Trilogie“ und „Im Land der letzten Dinge“ veröffentlicht worden sind, hat sich der aus Newark, New Jersey, stammende Schriftsteller Paul Auster zu einem der produktivsten, vielseitigsten und wichtigsten Künstler der Gegenwart entwickelt, zu dessen Oeuvre neben den bekannten Romanen – zuletzt das über 1000-seitige Epos „4 3 2 1“ – auch Essays, Lyrik, Übersetzungen und sogar Filme zählen. Nun präsentiert der mittlerweile 76-jährige Auster mit „Baumgartner“ eine ungewohnt kurze, aber sehr berührende Geschichte, die sich mit der Frage beschäftigt, wie man mit der Trauer nach dem Tod eines über alles geliebten Menschen umgeht. 
Seymour Tecumseh „Sy“ Baumgartner, 71-jähriger Professor für Phänomenologie in Princeton, sitzt in seinem Arbeitszimmer gerade an seiner Monografie über Kierkegaards Synonyme, als ihm einfällt, dass er nicht nur aus dem Wohnzimmer ein Buch holen muss, aus dem er zitieren will, sondern auch seine Schwester noch nicht wie abgesprochen angerufen hat. Der Weg nach unten setzt eine Kette verschiedener unglücklicher Ereignisse in Gang, die über Verbrennungen an der Hand nach der ungeschickten Handhabung eines kochend heißen Aluminiumtopfes auf dem Herd bis zu einem schmerzhaften Sturz die Kellertreppe hinunterführen. 
Als Lichtblick dazwischen klingelte die UPS-Botin Molly, in die Baumgartner ein wenig verliebt ist, seit seine große Liebe Anna Blume vor fast zehn Jahren gestorben war, weshalb er Bücher bestellt, die er eigentlich gar nicht braucht und sich schon in einer Ecke neben dem Küchentisch bis zur Umsturzgefahr stapeln. All diese Ereignisse setzen Erinnerungen an Anna in Gang, der er nach wie vor gewohnheitsmäßig eine Tasse Kaffee einschenkt und pornographische Liebesbriefe schreibt, wobei er sich vorstellt, wie Anna diese Briefe in Empfang nehmen und lesen würde… 
Immerhin, S. T. Baumgartner hat noch einen weiteren Versuch unternommen, eine Frau zu lieben. Auf die unverfälschte, direkte, übersprudelnde und spontane, aber weltabgewandte Anna folgte die ausgeglichene, beeindruckende, selbstsichere und kultivierte Judith, die so ganz anders war als seine große Liebe. 
Während Baumgartner erst nach Annas Tod einen schmalen Band mit ihren besten Gedichten veröffentlichen ließ, war Judith bereits eine Autorität in der Welt des Films, mit vier veröffentlichten Büchern, doch heiraten wollte sie Baumgartner nicht, und so ging es mit der Beziehung auch zu Ende. Der Philosophieprofessor grämt sich allerdings nicht zu sehr, sondern stürzt sich mit immer großer Begeisterung in neue Projekte, so die Betreuung der siebenundzwanzigjährigen Studentin Beatrix Coen, die ihre Dissertation über das Gesamtwerk von Anna Blume schreiben will und plant, die unveröffentlichten Manuskripte, Briefe und Romanfragmente in Baumgartners Nähe zu studieren. Schließlich bringt Baumgartner auch sein eigenes Buch zu Ende, in denen er seine Ideen über das Wort Automobil zum Besten gibt. 
„Das Auto als Mensch, der Mensch als Auto, eins mit dem anderen austauschbar in einer hakenschlagenden, pseudophilosophischen Abhandlung im Geiste von Swift, Kierkegaard und anderen intellektuellen Spaßvögeln, die die Welt auf den Kopf stellen, damit ihre Leser sich in den Kopfstand begeben und versuchen, sich aus dieser Perspektive eine Welt vorzustellen, die richtig herum steht.“
Auch wenn der titelgebende Baumgartner die Hauptfigur von Paul Austers neuen Roman darstellt, rückt Anna Blume durch die lebendig geschilderten Erinnerungen ihres Mannes ebenso in den Vordergrund einer berührenden Erzählung über die Liebe, die über den Tod hinauswirkt, aber wie in Austers Werk üblich, wird der Plot natürlich auch von Zufällen und selbstreferentiellen Passagen geprägt. Baumgartner ist es intellektuell gewohnt, die Dinge auf ihre Natur und Bedeutung zu untersuchen, und auf analytische Weise betrachtet er auch die Beziehung zu Anna und anderen Frauen in seinem Leben. Es scheint ihm die Einsamkeit erträglicher zu machen, auf diese Weise noch mit den Menschen, die ihm einst viel bedeutet haben und nun nicht mehr an seinem Leben teilhaben, verbunden zu bleiben. 
Mit seinen verschlungenen Sätzen, die auch in Werner Schmitz‘ Übersetzung einen wunderbaren Sog erzeugen, führt Auster seiner Leserschaft eindringlich vor Augen, wie sehr das Leben eines Menschen von Erinnerungen, Träumen und Wünschen geprägt wird, wie Gefühle von Einsamkeit und Trauer - zumindest teilweise - überwunden werden können. 

Daniel Speck – „Yoga Town“

Sonntag, 5. November 2023

(S. Fischer, 480 S., HC) 
Dass Daniel Speck sowohl Germanistik als auch Filmgeschichte studierte, schlägt sich nicht nur in seiner Werksbiografie nieder, die zunächst Drehbücher für Produktionen wie „Meine verrückte türkische Hochzeit“, „Maria, ihm schmeckt’s nicht!“, „Zimtstern und Halbmond“ und „Fischer fischt Frau“ und dann Romane wie „Bella Germania“ und „Jaffa Road“ aufweist, sondern auch in seiner sehr bildhaften, lebendigen Sprache, mit denen seine Romane wie Filme im Kopf seiner Leser inszeniert werden. Das trifft insbesondere für seinen neuen Roman „Yoga Town“ zu, die eine komplizierte Familiengeschichte auf zwei Zeitebenen erzählt und die dabei auch noch die Hintergründe zur Entstehung des letzten Beatles-Albums mit einfließen lässt. 
Berlin im Jahr 2019. Als die Yoga-Lehrerin Lucy von ihrem aufgeregten Vater Lou erfährt, dass ihre von ihrem Vater längst trennt lebende, ihm aber noch freundschaftlich verbundene Mutter Corinna Faerber, verschwunden sei, führt sie die Spurensuche über Corinnas Therapeutin nach Indien. Dorthin unternahmen im Jahr 1968 Lou, seine Freundin Marie und sein jüngerer Bruder Marc eine abenteuerliche Reise, um – ebenso wie die Beatles – ihren peace of mind zu finden. Statt Marie, die Indien blieb, kehrte Corinna, in die sich Lou schon auf dem Weg dorthin in der Türkei verliebt hatte, mit nach Deutschland zurück, doch was genau in Rishikesh geschah, wo sich Hippies aus aller Welt und Prominente wie die Beatles, Donovan und Mia Farrow im Ashram von Guru Maharishi erleuchten lassen wollten, weiß Lucy bis heute nicht. 
Die Suche nach Corinna wird für Lucy, die nach dem Beatles-Song „Lucy In The Sky With Diamonds“ benannt worden und als Yoga-Lehrerin noch nie in Indien gewesen ist, zu einer Reise zu ihren Wurzeln, zu sich selbst. Schließlich versucht sie zu begreifen, warum sie so überstürzt die Beziehung zu ihrem Freund Adnan und seinen beiden bezaubernden Kindern beenden musste, warum Lou sich über die Zeit in Indien stets bedeckt gehalten hat. 
„Wovor lief ich weg? Ich hatte es doch gut. Wovor war meine Mutter weggelaufen? Und was musste Lou verheimlichen? Es war, als gäbe es ein schwarzes Loch in der Mitte unserer Familie, ein implodierter Stern, und wer ihm zu nahekam, würde von seiner Schwerkraft verschluckt werden. Alle kämpften dagegen an, jeder auf seine Weise, und so entfernten wir uns voneinander.“ 
Daniel Speck, der bereits in seinen früheren Romanen für eine Brücke zwischen verschiedenen Kulturen zu bauen versuchte und als Jahrgang 1968 zu jung ist, selbst die Flower-Power-Ära miterlebt zu haben, beginnt seinen Roman als familiäres Drama. Schon nach wenigen Absätzen wird deutlich, dass die Beziehungen zwischen Lou, Corinna und ihrer Tochter Lucy von bislang gut verborgenen Geheimnissen geprägt sind. Die gemeinsame Reise von Vater und Tochter nach Indien nutzt Lucy vor allem dazu, ihrem Vater die wahre Geschichte ihrer Herkunft zu entlocken. 
Der Autor entwirrt die komplexen Beziehungen zwischen Lou, Marc, Marie und Corinna geschickt nach und nach und baut immer wieder dramatische Höhepunkte ein, die den Lesefluss vorantreiben. Dafür sorgen auch die Sprünge zwischen den beiden Erzählsträngen im Jahr 1968 und 2019 sowie die natürlich wirkende Einflechtung von zwei weiteren thematischen Schwerpunkten, die das Familiendrama bedeutungsschwer unterfüttern. 
Auf der einen Seite gelingt es Speck, der vor elf Jahren selbst Rishikesh besucht hat, die Atmosphäre der Spiritualität einzufangen, die den Ort damals geprägt haben muss. Auf der anderen Seite wird der Aufenthalt der Beatles in dem berühmten Ashram besonders ausgeschmückt, wobei deutlich wird, unter welchen Einflüssen die 48 Songs entstanden sind, die das Liverpooler Quartett dort geschrieben hat und von denen nur ein Teil Eingang auf das berühmte „White Album“ der Band fand. 
Wie Speck die sehr persönliche Familiengeschichte in den größeren Zusammenhang der Yoga-Spiritualität und den Entstehungsprozess des letzten Beatles-Albums stellt, macht „Yoga Town“ zu einem sehr kurzweiligen Lesevergnügen, das durch eine gleichnamige Playlist auch den passenden Soundtrack mitliefert. Bei so vielen gewichtigen Themen kommen einige Figuren in ihrer Charakterisierung leider etwas kurz, doch davon abgesehen bietet „Yoga Town“ letztlich eine erquickliche Erklärung dafür, warum einige Reisende sind, andere aber nur Touristen. 

Jo Nesbø – „Das Nachthaus“

Mittwoch, 1. November 2023

(Ullstein, 288 S., HC) 
Mit seiner 1997 gestarteten Reihe um den alkoholkranken Hauptkommissar Harry Hole hat sich der norwegische Schriftsteller Jo Nesbø schnell in die Herzen der Freunde skandinavischer Krimis geschrieben. „Headhunter“ stellte 2008 Nesbøs erster Versuch dar, neben seiner erfolgreichen Krimireihe, aus der der Roman „Schneemann“ im Jahr 2017 sogar verfilmt worden ist, auch andere Geschichten zu erzählen. Eine Sonderstellung nimmt dabei zum Beispiel der Roman „Macbeth“ ein, der im Rahmen des Hogarth Shakespeare Projekts entstanden ist und Nesbø die Möglichkeit bot, sich des ebenso kurzen wie blutigen Dramas „Macbeth“ anzunehmen, das den Aufstieg des Heerführers Macbeth zum schottischen König schildert. Aber auch seine letzten eigenständigen Romane „Ihr Königreich“ und „Eifersucht“ sind hier zu nennen. 
Mit „Das Nachthaus“ betritt Nesbø einmal mehr neues Terrain. 
Nachdem seine Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen sind, wächst der 14-jährige Richard Elauved bei seiner Tante Jenny und seinem Onkel Frank in der Kleinstadt Ballantyne auf, wo sich der Junge schwertut, Freunde zu finden. Einzig der stotternde Tom mag mit dem unbeliebten Zugezogenen seine Freizeit verbringen. Als Richard seinen einzigen Freund zu einem Telefonstreich anstiftet, sucht er aus dem Telefonbuch einen besonders seltsamen Namen heraus – Imu Jonasson – und lässt Tom dort anrufen und ausrichten, dass der Teufel persönlich am Telefon sei. Doch der Streich geht nach hinten los: Mit einem reißenden, nassen Schmatzen wird erst Toms Ohr von dem Telefonhörer aufgesogen, dann verschwindet Toms ganzer Körper in der Telefonzelle. Natürlich kauft niemand Richards Geschichte ab. 
Polizeichef McClelland vermutet eher, dass Tom beim Spielen in den Fluss gestürzt ist, doch bei der Suchaktion findet man nur Toms Luke-Skywalker-Figur. Dass der Name Jonasson bei der Überprüfung von Richards Geschichte nicht mehr im Telefonbuch steht, macht diese nicht glaubwürdiger. Als sich ein weiterer Schulkamerad in Richards Nähe in ein Insekt verwandelt und verschwindet, findet Richard einzig in Karen eine Verbündete, die ihn nicht für verrückt oder einen Lügner hält, sondern mit ihm in der Bibliothek versucht, den merkwürdigen Ereignissen in Ballantyne auf den Grund zu gehen. 
Dabei stellt sich heraus, dass Imu Jonasson im sogenannten „Nachthaus“ gelebt hat, einer herrschaftlichen Villa im Spiegelwald, und wegen seines tyrannischen Verhaltens in die Jugendbesserungsanstalt Lief eingeliefert worden ist. Mit der macht dann auch Richard Bekanntschaft, nachdem er auch FBI-Agent Dale gegenüber partout nicht von seinen unglaubwürdigen Geschichten abweichen will… 
Bereits nach wenigen Seiten glaubt man sich nicht in einem Roman von Jo Nesbø, sondern von Stephen King. Allerdings hat King es in seinen Coming-of-Age-Romanen wie „Es“ stets verstanden, sein Publikum erst mit dem normal wirkenden Kleinstadtleben vertraut zu machen, damit das Unheimliche auf einem glaubwürdigen Boden gedeihen konnte. Von dieser Raffinesse ist bei „Das Nachthaus“ nichts zu spüren. Während Nesbøs Harry-Hole-Romane durch gelungene Personen- und Milieubeschreibungen punkten, ist dem Autor in seinem neuen Werk offenbar nur an billigen Effekten gelegen. Nesbø gelingt es einfach nicht, seine Figuren, nicht mal seinen Ich-Erzähler, glaubwürdig zu charakterisieren. Die Handlung wirkt hastig wie aus trashigen Horrorfilm-Elementen zusammengeschustert. Wenn mit dem zweiten und dritten Teil des Romans die vorherigen Teile in einem neuen Licht präsentiert werden und Edgar Allan Poes berühmte Zeile „A dream within a dream“ auftaucht, ist die Geschichte schon nicht mehr zu retten. So lobenswert Nesbøs Bemühen auch ist, sich einmal in anderen Genres auszuprobieren, ging sein Versuch, mit „Das Nachthaus“ klassischen Spukhaus-Horror mit Psycho-Thriller-Elementen zu verknüpfen, fürchterlich daneben. 

Tamar Halpern – „California Girl“

Dienstag, 31. Oktober 2023

(Diogenes, 304 S., HC) 
Die in Los Angeles lebende Tamar Halpern hat ihren akademischen Abschluss an der University of Southern California's School of Cinematic Arts gemacht und seit 2001 bislang hier weithin unbekannte Filme wie „Shelf Life“, „Your Name Here“, „Jeremy Fink and the Meaning of Life“ und „Llyn Foulkes One Man Band“ inszeniert. Nun legt sie mit „California Girl“ ihr literarisches Debüt vor, das sich ähnlich wie Vendela Vidas „Die Gezeiten gehören uns“ mit den Erfahrungen eines pubertierenden Mädchens im Kalifornien der 1980er Jahren auseinandersetzt. 
Anfang der 1980er Jahre pendelt die vierzehnjährige Timey zwischen ihrem in Berkeley lebenden Vater, der als Physikprofessor an der Universität lehrt, und ihrer in Los Angeles lebenden Hippie-Mutter, die dort gerade ihr Kunststudium beendet hat, hin und her und lernt so zwei ganz unterschiedliche Welten kennen. Während sie im San Fernando Valley die beiden Zwillinge B und N als beste Freundinnen hat, die ihr den California Lifestyle nahebringen, helfen ihr in San Francisco die Joints über die tristen Zeiten in ihrem Leben hinweg. 
Timey ist es gewohnt, sich ständig an neue Umgebungen anpassen zu müssen, denn mit ihren Eltern, die eine offene Beziehung zu leben versuchten und daran scheiterten, zog sie jedes Jahr um, musste sich immer wieder als Außenseiterin mit anderen Außenseiterinnen anfreunden. Mittlerweile ist Timeys Mutter zum dritten Mal verheiratet, ihr Dad hat seine neue Freundin Minnie im Schauspielkurs kennengelernt und mit seinen merkwürdigen Regeln immer neue Konflikte verursacht. Im prädigitalen Zeitalter verabredet man sich noch per Telefon und vereinbart geheime Codes, um sicherzustellen, auch den einzigen Telefonanschluss im Haus zu sichern, wenn der Anruf einer Freundin erwartet wird. 
Es werden verschiedene Moden und Drogen ausprobiert, das Desegregation-Busing, mit dem die Milieus an den Schulen vermischt werden sollen, entwickelt sich zu einem Flop. Timey lernt Bands wie D.O.A., R.E.O. Speedwagon und Journey kennen, hält aber Led Zeppelin und Pink Floyd für die größten Bands der Welt. 
„Heute Abend ist die Musik laut und wütend und besitzergreifend. Da ist keine Schönheit, kein langes Gitarrensolo, das dir klarmacht, wie viel in der Welt noch darauf wartet, die das Herz zu brechen. Ich sehe zu, wie Jeni ihre rote Lockentolle über die Waschbäraugen schüttelt. Dabei wird mir klar, dass sie und ich nicht dieselbe Person sind, und das tut mir weh.“ (S. 133) 
Timey macht die üblichen Teenager-Erfahrungen, wird beim Ladendiebstahl erwischt, schwänzt den Theaterkurs, um Gras zu rauchen, und lernt auf nicht ganz freiwillige Weise, was es mit dem großen Ding namens Sex auf sich hat… 
Tamar Halpern erzählt in ihrem Romandebüt zwar die Coming-of-Age-Geschichte eines Teenager-Mädchens, das durch die Scheidung ihrer Eltern die unterschiedlichen Lebenskulturen im San Francisco Valley und Los Angeles aus nächster Nähe kennenlernt, aber wirklich Kontur gewinnt weder die 14-jährige Icherzählerin noch die vielen Menschen, denen sie in der kurzen Zeit sowohl hier als auch dort begegnet. Durch den episodenhaften, fragmentarischen Charakter kommt man zwar mit einer Vielzahl von Phänomenen der 1980er Jahre in Verbindung, doch das lässt eher eigene Erinnerungen aufploppen, sofern man in jener Zeit seine Teenagerjahre verbracht hat, als eine Nähe zu den Figuren aufzubauen. Die bleiben leider bis zur Karikatur nur skizzenhaft. Dafür überzeugt Halpern mit einem flüssigen Schreibstil, der sowohl humorvolle als auch ernste Töne miteinander zu verbinden vermag. 
Das Interessanteste an Tamar Halperns Romandebüt ist vielleicht nicht die Erzählung selbst, sondern die immerhin fünfzig Seiten umfassenden Fußnoten, die „wegen ihrer Bedeutsamkeit in der gleichen Größe wie der Text gesetzt“ sind. Hier gibt die Autorin versierte Exkurse zur Valley-Architektur, Fotografie, Teenager-Telefonanrufe, Föhnwellen und Kartonwein zum Besten, was den zeitgeschichtlichen Rahmen, in dem „California Girl“ angesiedelt ist, noch mehr Profil gewinnen lässt.  

Lina Nordquist – „Mein Herz ist eine Krähe“

Samstag, 28. Oktober 2023

(Diogenes, 454 S., HC) 
Als hätte die 1977 im schwedischen Norrala geborene Lina Nordquist als außerordentliche Professorin für Physiologie, Diabetesforscherin und Politikerin nicht schon genug zu tun, legte sie im Jahr 2021 mit dem nun auch in deutscher Übersetzung erhältlichen Buch „Mein Herz ist eine Krähe“ ihr Romandebüt vor, das in ihrer Heimat gleich als Buch des Jahres ausgezeichnet worden ist. Erzählt wird die Geschichte zweier durch eine im Wald gelegene Kate und Familie verbundene Frauen, die schwer mit ihrem Los zu kämpfen haben. 
Im Jahr 1897 sieht sich Unni gezwungen, mit ihrem Sohn Roar ihre norwegische Heimatstadt Trondheim zu verlassen, nachdem der Pfarrer, der sie zuvor missbraucht hat, sie als Kindsmörderin anklagt und in die Irrenanstalt abtransportieren lassen will. Mit den zwei gestohlenen Goldringen der Prälatur Trondheim und ihrem Geliebten Armod gelingt ihr die Flucht über die Grenze. Nach der entbehrungsreichen Reise über die Grenze gelangen sie in das schwedische Hälsingland, wo sie von Bauer Nilsson eine Waldhütte pachten können. „Frieden“ nennen sie ihr neues Zuhause, doch die ersten Jahre sind von einem mehr als harten Überlebenskampf geprägt. 
Die Nahrung, die sie im Wald finden und selbst anbauen, reicht ebenso wenig, den ewigen Hunger zu stillen wie die Früchte, die Armods Arbeit einbringt. Schließlich muss er erst die Pachtraten bei Bauer Nilsson abarbeiten, ehe er für seine Familie sorgen kann. Der allgegenwärtige Hunger belastet auch die Beziehung zwischen Unni und Armod, doch am Ende hält ihre Liebe sie zusammen – bis Armod bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückt und Unni sich und die mittlerweile zwei Kinder allein durchbringen muss. Das nutzt Bauer Nilsson gnadenlos aus, sucht Unni zu jedem beliebigen Zeitpunkt heim, bis sie nur noch einen Ausweg sieht, nie verliert sie ihren Mut. 
„Der Schmerz sprach in unzähligen Zungen. Und dennoch gingen mir die alltäglichsten Dinge durch den Kopf, dass meine Blase drückte oder dass etwas an meiner Schulter scheuerte. Vielleicht konzentriert sich der Körper auf Belanglosigkeiten, wenn seine Bewohnerin nur noch daliegen und aufgeben will. Aber dann versetzte es mir einen Stich, als ich dich neben mir atmen hörte, du warst wach, obwohl wir hätten schlafen sollen, und da wusste ich, ich war noch am Leben. Die Glut in mir erlosch nicht.“ (S. 335) 
1973 sitzen sich die dreiundfünfzigjährige Kåra und ihre Schwiegermutter Bricken gegenüber, um die Beerdigung von Brickens Mann Roar zu planen. Auch Kåra hat eine Geschichte von Entbehrungen zu erzählen, war ihre Ehe mit Brickens und Roars Sohn Dag kaum von Erfüllung geprägt. 
Der Tod dient als Aufhänger von Lina Nordquists in vielerlei Hinsicht erstaunlichen Romandebüt. Er zieht sich ebenso wie der Hunger, der Schmerz und die Gewalt wie ein roter Faden durch „Mein Herz ist eine Krähe“, verbindet die Ich-Erzählungen zweier Frauen, die nur mit Mühe zu einem in Ansätzen selbstbestimmten Leben gelangen. 
Vor allem Unni wächst dem Leser schnell ans Herz. Ihr Leben wirkt wie eine Tour de Force, die die Autorin mit ungebändigter Sprachgewalt ihrer Leserschaft bildreich vor Augen führt. Wie Unni, die über fundierte Heilkräuter-Kenntnisse (samt ihrer giftigen Verwandten) verfügt, erst der Tortur durch den heimischen Pfarrer, dann der Wanderung durch die Wälder bis nach Hälsingland und schließlich durch die von Hunger und Not geprägten Winter in der gepachteten Waldkate zu entkommen versucht, ist erschütternd eindringlich beschrieben und nichts für schwache Nerven. 
Kåras Nöte sind von anderer Qualität, muss sie sich doch in einem Konstrukt von Lügen bewegen, um das fragile Zusammenleben mit Bricken und Roar auf der einen Seite und mit ihrem Mann Dag auf der anderen Seite nicht zu gefährden. 
Mit ihrer poetischen Sprache fesselt Nordquist ihr Publikum allerdings von Beginn an, wobei die beiden Frauencharaktere so eindringlich charakterisiert werden, dass man ihren bewegenden Schicksalen bis zum nicht ganz hoffnungslosen Ende unbedingt folgen möchte. Dieses sprachlich außergewöhnliche Debüt sollte mühelos auch das deutsche Publikum begeistern!  

Vendela Vida – „Die Gezeiten gehören uns“

Mittwoch, 25. Oktober 2023

(Diogenes, 288 S., Tb.) 
Die US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin Vendela Vida, die mit dem bekannten Schriftsteller Dave Eggers verheiratet ist und mit ihrer Familie in der San Francisco Bay Area lebt, beschäftigt sich seit ihrem im Jahr 2000 erschienenen Debüt „Girls on the Verge: Debutante Dips, Drive-Bys, and Other Initiations“ vor allem um die emotionalen Achterbahnfahrten, die Frauen auf dem Weg zu ihrer Selbstverwirklichung erleben, so auch in ihrem vielleicht bekanntesten Roman „Liebende“
Nachdem die gebundene Ausgabe von Vidas aktuellen Roman „Die Gezeiten gehören uns“ im vergangenen Jahr im Hanser Verlag erschienen war, ist die Taschenbuchausgabe nun bei Diogenes erhältlich. 
Die vierzehnjährige Eulabee lebt Mitte der 1980er Jahre mit ihren Freundinnen Julia, Faith und Maria Fabiola in Sea Cliff, einer wohlhabenden Gegend im kalifornischen San Francisco, wo der Blick auf das Meer und die Golden Gate Bridge nicht verstellt ist und besucht mit ihnen die Spragg School for Girls. Eulabees Vater Joseph unterhält eine Kunst- und Antiquitätengalerie in der Gegend, ihre aus Schweden stammende Mutter Svea arbeitet als Krankenschwester. 
Die unbeschwerte Mädchen-Freundschaft erfährt allerdings eine harte Zäsur, als die Mädchen eines Morgens von einem Mann in einem weißen Auto angehalten und nach der Uhrzeit gefragt werden. Während Maria Fabiola anschließend gegenüber der Polizei behauptet, der Mann habe sich dabei angefasst, will Eulabee nichts davon bemerkt haben und wird daraufhin zur Aussätzigen. Schließlich wird Maria Fabiola vermisst und zu einem echten Medienereignis. Während das verschwundene Mädchen täglich in den Nachrichten erwähnt wird, verliebt sich Eulabee in den coolen Keith…
 „Ich spiele mit dem Gedanken, ihm von meiner Theorie zu erzählen, dass sie gar nicht entführt wurde, sondern ihr Verschwinden selbst inszeniert hat, beschließe aber, dass es gerade nicht der richtige Zeitpunkt ist. Ich habe nicht genug Beweise; streng genommen gar keine. Außerdem habe ich es satt, dass Maria Fabiola das einzige Gesprächsthema ist. Und das schon seit Monaten. Selbst wenn Leute über andere Themen reden, reden sie eigentlich über sie.“ (S. 131)
In ihrem ebenso kurzen wie eindringlich geschriebenen Roman gelingt es Vendela Vida über ihre Ich-Erzählerin Eulabee, die komplexe Gefühlswelt von Teenager-Mädchen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden zu beschreiben. Darin werden vor allem die Mechanismen aufgezeigt, mit denen die Mädchen um die Aufmerksamkeit und Anerkennung nicht nur ihrer Geschlechtsgenossinnen ringen, sondern auch mit ihren aufkeimenden weiblichen Reizen die jungen Männer zu fesseln vermögen und dabei natürlich auch wieder Eifersüchteleien und Missgunst hervorrufen. 
So kommt es, dass sich die Mädchen einiges einfallen lassen, um ihre Stellung unter ihresgleichen zu erhöhen, wobei die Wahrheit mehr als nur etwas gedehnt wird. 
„Die Gezeiten gehören uns“ ist ein wunderbar einfühlsamer, ebenso humorvoller wie erschütternder und vor allem authentisch wirkender Roman über die Herausforderungen pubertierender Mädchen, ihren Platz in einer Welt zu finden, in der der schöne Schein mehr bedeutet als ein moralisch integres Wesen. Dabei entwickelt die Geschichte einen magischen Sog, dem man sich bis zum Sprung in die Gegenwart nicht entziehen kann.  

Håkan Nesser – „Ein Fremder klopft an deine Tür“

Dienstag, 17. Oktober 2023

(btb, 368 S., HC) 
Mit seinen Romanen um Kommissar Van Veeteren hat der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser seit 1993 maßgeblich zur Popularität skandinavischer Krimis vor allem auch im deutschsprachigen Raum beigetragen, doch hat sich Nesser stets bemüht, die Grenzen des Krimi-Genres auszuloten und sich auf literarische Krimis mit philosophischen Zügen zu verlegen. Dazu trugen nicht nur die Romane um Inspektor Barbarotti bei, sondern auch unzählige eigenständige Romane wie zuletzt „Der Fall Kallmann“ und „Der Halbmörder“. Mit seinem neuen Buch bewegt sich Nesser zumindest regional in Van Veeterens Gefilden, nämlich in Maardam, wo nun sein Nachfolger Kommissar Jung seinen Dienst verrichtet. „Ein Fremder klopft an deine Tür“ stellt eine Sammlung von drei unabhängigen Geschichten dar, in denen Jung allerdings nur jeweils eine winzig kleine Nebenrolle verkörpert. 
In „Bewunderung“ verspürt Anna Kowalski ein gewisses Kribbeln, als sie am Valentinstag genau zwischen ihrer eigenen Wohnungstür und der ihrer Nachbarin Wilma Verhoven einen Briefumschlag entdeckt, der nicht beschriftet, sondern nur mit einem gezeichneten Herzen versehen worden ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Brief eigentlich eher an die zehn Jahre jüngere, sehr attraktive und. entsprechend begehrte Wilma gerichtet ist, doch nicht zuletzt der Neid lässt Anna den Brief an sich nehmen und öffnen lässt. Der darin enthaltene Schlüssel führt Anna zu einem Schließfach am Bahnhof, dann zu einem begehrten Logenplatz in der Oper, wo der heimliche Bewunderer allerdings nicht auftaucht. Für Anna stellt diese geheimnisvolle Schnitzeljagd eine willkommene Abwechslung zu der zehnjährigen Ehe mit dem Kartonfabrikanten Herbert dar, doch mit der Entdeckung einer Leiche wird aus dem amourösen Spiel auf einmal bitterer Ernst… 
„Buße“ erzählt die Geschichte eines 65-jährigen Mannes, der vor zehn Jahren in das ländliche Lembork gezogen ist, vor fünf Jahren die beiden Islandpferde eines verstorbenen Bauern übernommen und es sich zur Gewohnheit gemacht hat, zweimal die Woche mit dem Bus nach Lindenberg zu fahren, wo er sich in das Café gegenüber der Kirche setzt und zu seinem Kaffee ein Käsebrot verzehrt. Das ist eine willkommene Abwechslung zu der Arbeit an der Übersetzung eines 1300 Seiten umfassendes Werk eines deutschen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert darstellt, mit der der Mann normalerweise seine Zeit verbringt. Immer wieder muss er aber auch an das Mädchen in der dünnen Lederjacke denken, das ebenfalls regelmäßig in dem Bus sitzt und offensichtlich zum Gymnasium in Lindenberg geht. Doch dann macht er eine beunruhigende Beobachtung und folgt dem Mädchen… 
„Ihm ist klar, dass er zurückkehren wird, und wenn an diesem vorerst noch konturlosen Platz etwas erforscht werden muss, wird er Zeit haben, es zu tun. Aber jetzt, während er dort sitzt, sind ihre tiefen Atemzüge, wie sie sich wappnete, ihr Widerwille, die schmale Straße in Moerkerlands Wald hinaufzugehen, wichtig. Das Bild ist auf eine Weise fordernd, mit der er nicht richtig umzugehen weiß. Noch nicht, aber es eilt auch nicht. Wie gesagt, wenn die Zeit gekommen ist, wird er wissen, was seine nächsten Schritte sein werden.“ (S. 165) 
In der Titelgeschichte erinnert sich die fünfundvierzigjährige Judith Miller an die Ereignisse, die vor fast achtzehn Jahren ihren Anfang genommen haben, als sie einem fremden, verwahrlost aussehenden Mann während eines Unwetters die Tür ihrer Waldhütte öffnete und ihm das Bett überließ, damit er sich einmal richtig ausschlafen konnte. Wie sich nach dieser ungewöhnlichen Nacht herausstellen sollte, hat Judiths nächtlicher Gast zusammen mit zwei weiteren Männern bei einem Einbruch Goldbarren im Wert von einer Million Euro erbeutet. Vor einem halben Jahr hat Judith nun einen Brief mit einer Karte und Erklärungen bekommen, die ihr und ihrer Tochter Nora ein unbeschwertes Leben ermöglichen sollten. Doch auf den verborgenen Schatz hat es noch jemand abgesehen… 
Auch wenn es in jeder dieser drei Geschichten um Verbrechen geht, handelt es sich weniger um klassische Whodunit-Plots, auch nicht um die kriminalistische Auflösung der Fälle, sondern vor allem um die Schilderung einzelner Schicksale, wie sie in Verbindung mit den nachfolgenden Verbrechen gekommen sind. Die Frage nach der Täter-, Mittäterschaft oder des Opfers spielt dabei ebenfalls eine nachgeordnete Rolle. 
Nesser schildert in seiner gewohnt leicht verständlichen, bildreichen und immer wieder auch humorvollen Sprache ausführlich die jeweiligen Lebensumstände der männlichen wie weiblichen Protagonisten und widmet deren Alltag und Handlungen ebenso viel Aufmerksamkeit wie den vielfältigen Gedankengängen, wobei Nessers Sinn fürs Philosophische immer wieder durchscheint. Fans klassischer Krimiliteratur werden wenig erbaut sein von den Plots, in denen das Zufallsprinzip gerade in den nur kurz skizzierten Auflösungen arg überstrapaziert wird. Das hat Nesser früher weitaus besser gelöst. 

James Patterson – (Women’s Murder Club: 19) „Das 19. Weihnachtsfest“

Dienstag, 3. Oktober 2023

(Blanvalet, 382 S., Pb.) 
Nachdem sich James Patterson mit der 1993 gestarteten Reihe um den in Washington lebenden Polizeipsychologen Alex Cross zu einem internationalen Bestseller-Autoren gemausert hatte, veröffentlichte er 2001 nicht nur den bereits siebten Band um Alex Cross, sondern mit „1st To Die“ („Der 1. Mord“) auch den Auftakt einer neuer Reihe, die in San Francisco angesiedelt ist und in der Sergeant Lindsay Boxer mit ihren weiblichen Verbündeten den Kampf gegen das Verbrechen aufnimmt. 
Zunächst war noch Andrew Gross Pattersons Co-Autor, seit dem vierten Band weiß der ehemalige Leiter einer Werbeabteilung die ansonsten unbekannte Maxine Paetro an seiner Seite. Allerdings kommt dieses Arrangement nur Pattersons ohnehin üppig gefülltem Portemonnaie zugute, während die Qualität der Women’s-Murder-Club-Reihe seit Jahren darunter leidet. Da macht „Das 19. Weihnachtsfest“ leider keine Ausnahme. 
Vier Tage vor dem Weihnachtsfest unternimmt Sergeant Lindsay Boxer mit ihrem Mann Joe, ihrer dreieinhalbjährigen gemeinsamen Tochter Julie und ihrer in die Jahre gekommenen Border-Collie-Hündin Martha einen fröhlichen Spaziergang durch die bunt geschmückten Straßen von San Francisco. Ihre Freundin, die Staatsanwältin Yuki Castellano, freut sich mit ihrem Mann Brady, der neben seiner Funktion als Lieutenant der Mordkommission momentan auch noch das Amt des Polizeichefs bekleidet, auf einen gemütlichen Abend im Schlafzimmer. Dieses Vergnügen bleibt der investigativen Journalistin Cindy Thomas und ihrem Lebensgefährtin Rich Conklin verwehrt, hat sie doch ein wichtiges Interview vor sich. Die Pathologin Claire Washburn ist mit ihrem Mann Edmund auf dem Weg nach San Diego, wo sie in den Winterferien ein Kompaktseminar für den Masterstudiengang in Kriminalmedizin abhalten soll. 
Doch die fröhliche Weihnachtsstimmung wird empfindlich getrübt, als Boxer und ihr Partner Conklin während ihrer Mittagspause am 21. Dezember einen Ladendieb erwischen und von ihm im Verhör auf einen spektakulären Raub hingewiesen werden, der von einem mysteriösen Mann namens Loman geplant worden ist. In Folge der Ermittlungen stoßen Boxer und ihre Kollegen allerdings auf verschiedene Orte, wo der Raub stattfinden soll. Neben dem de Young Museum stehen auch eine Internet-Firma, ein Attentat auf den Bürgermeister Caputo und der Flughafen von San Francisco auf der möglichen Liste, was immer mehr polizeiliche und militärische Kräfte der Stadt auf den Plan ruft. Doch was hat dieser Loman wirklich vor? 
Wenn Patterson und Paetro zu Beginn von „Das 19. Weihnachtsfest“ kurz abstecken, wie die einzelnen Mitglieder des Clubs der Ermittlerinnen ihre Vorweihnachtstage verbringen, kommt kurz Hoffnung auf, dass sich der Plot um etwas mehr dreht als nur um einen gewöhnlichen Kriminalfall, doch dagegen spricht schon der knapp bemessene Raum von fast hundert, jeweils ca. dreiseitigen Kapiteln, die schnell von Lindsay Boxer und ihrem Partner Rich Conklin in Beschlag genommen werden, wenn sie auf eine Schnitzeljagd nach irreführenden Hinweisen zu einem spektakulären Raubüberfall gehen, der allerdings nur skizzenhaft thematisiert wird. 
Patterson und seine Co-Autorin setzen allein auf eine forcierte Handlung, bei dessen Inszenierung die Figuren nur schemenhaft umrissen werden und zu denen die Leserschaft keine Beziehung aufbauen kann. Leider ist nicht mal der Loman-Raub ein besonders interessanter Fall, so dass an der Story letztlich nur ungewöhnlich erscheint, dass die anfangs so glücklich beschriebenen Paare über die Feiertage wegen des immensen Arbeitspensums einige Krisen zu bewältigen haben. Es ist allerdings bezeichnend, dass die Chance zu einer psychologisch tieferen Charakterisierung fahrlässig vertan wird. 
Das trifft auch auf die am Rande erwähnten Nebenschauplätze wie Cindys Reportage über die Weihnachtsbräuche von Einwanderern zu, mit der die Autoren die Möglichkeit gehabt hätten, etwas mehr über die soziale Struktur in San Francisco in den Plot einfließen zu lassen. „Das 19. Weihnachtsfest“ erweist als alles andere als ein festliches Vergnügen, da die Protagonistinnen kaum Gelegenheit bekommen, Profil zu gewinnen. Stattdessen wird ein unnötig aufgebauschter Kriminalfall in den Fokus gestellt, dessen Auflösung ebenfalls bar jeder Überraschung ist.  

Stephen King – „Holly“

(Heyne, 640 S., HC) 
Am 21. September 2023 feierte Stephen King seinen 76. Geburtstag. Ans Aufhören denkt der produktive Bestseller-Autor, der nach wie vor als „King of Horror“ tituliert wird, obwohl seine literarischen Ambitionen längst weit über dieses Genre hinausgehen, noch lange nicht. Jedes Jahr dürfen sich King-Fans auf mindestens ein neues, oft episch angelegtes Buch freuen. Mit seinem neuen Roman „Holly“ kehrt King zu seiner, wie er selbst sagt, Lieblingsfigur Holly Gibney zurück und macht sie erstmals zur Hauptakteurin, nachdem sie in der aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“ bestehenden Trilogie um den Privatermittler Bill Hodges als Nebenfigur aufgetaucht war und später auch in „Der Outsider“ und „Blutige Nachrichten“ ihren Auftritt hatte. 
Die Privatermittlerin Holly Gibney hat gerade ihre an Corona verstorbenen Mutter beerdigt, da erhält sie den Anruf einer verzweifelten Mutter, Penny Dahl, die seit drei Wochen ihre Tochter Bonnie vermisst und keinen Hehl aus ihrer Kritik an den ihrer Meinung nach oberflächlichen Ermittlungen der Polizei. Da ihr Partner bei Finders Keepers, Pete Huntley, gerade unter einer schweren Covid-Erkrankung leidet, übernimmt Holly den Fall allein, lässt sich von ihrer Freundin, Detective Izzy Jaynes, über den Stand der Dinge informieren, und legt los. Gewissenhaft untersucht die 55-jährige, übrigens gegen Corona geimpfte, allerdings rauchende Ermittlerin die Gegend, in der Bonnie das letzte Mal gesehen worden ist, wo sie schließlich einen Ohrring entdeckt, befragt das Personal des naheliegenden Supermarkts, Freunde und Arbeitskollegen. 
Ihre Mitarbeiter, die beiden Geschwister Jerome und Barbara Robinson, spannt sie mit Recherchen ebenso ein wie Pete Huntley, der auf dem Wege der Besserung scheint. Als Holly bei ihren Ermittlungen auf ähnliche Vermisstenfälle stößt, versucht sie einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Bonnie Dahl, der Reinigungskraft Ellen Craslow und Pete Steinman zu finden. Währenddessen bereiten die gebrechliche Emily Harris, Professorin für Englische Literatur, und ihr mit ersten Anzeichen von Alzheimer kämpfende Ehemann Rodney Harris, Professor an der Fakultät für Biowissenschaften und Ernährungswissenschaftler, in ihrem Keller den nächsten Schmaus vor. 
„Mit Faszination betrachtet Roddy die winzigen Blutströpfchen auf ihrer Unterlippe. Am fünften Juli wird er die Lippen da in ungebleichtem Mehl wälzen und in einer kleinen Pfanne braten, vielleicht mit Pilzen und Zwiebeln. Lippen sind eine gute Kollagenquelle, und die da werden wahre Wunder für seine Knie und Ellbogen wirken, sogar für seinen knarzenden Unterkiefer. Letzten Endes wird die lästige junge Frau der Mühe wert sein. Sie wird Roddy und Emily etwas von ihrer Jugend schenken.“ (S. 444) 
Stephen Kings Romane sind auch immer Reflexionen über den jeweils gegenwärtigen Zustand der Vereinigten Staaten von Amerika. In „Holly“, der bis auf wenige Kapitel im Jahr 2021 angesiedelt ist, steht nicht nur einmal mehr Trump im Fokus von Kings Kritik hinsichtlich der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung im Land, sondern vor allem Corona. Während die leicht hypochondrische Holly geimpft ist, ihren Gesprächspartnern den Ellbogen zur Begrüßung hinstreckt (was die Leute oft genug mitleidig lächelnd erwidern) und wo es geboten scheint Maske trägt, gibt es offenbar viele Menschen, die Corona als Lügenmärchen und Teil einer großangelegten Verschwörung ansehen. 
Die Penetranz dieser Thematik nervt zwar mit der Zeit, wird aber durch einen geschickt konstruierten Krimi-Plot wettgemacht, der auf zwei Handlungsebenen angelegt ist. 
Während Holly nämlich den immer offensichtlicher werdenden Gemeinsamkeiten zwischen den Vermisstenfällen nachgeht, macht sich auf der einen Seite Jerome Robinson auf den Weg nach New York, um den Vorschuss auf seinen ersten Roman in Empfang zu nehmen, auf der anderen Seite freundet sich seine Schwester Barbara mit der berühmten Dichterin Olivia Kingsbury an, die die Gedichte ihres Schützlings bei einem renommierten Wettbewerb einreicht. Allein aus der räumlichen Nähe zu dem verrückten Harris-Ehepaar erzeugt King eine unterschwellige Spannung, aber der Autor hat auch sichtlich Freude daran, einmal mehr in den schwierigen Schaffensprozess von Lyrik und Literatur einzutauchen. Der Horror hält sich bei „Holly“ dagegen in überschaubare Grenzen. Der thematisierte Kannibalismus wird weniger blutig abgehandelt als erwartet. Dafür taucht King tief in die in Schieflage geratene Psyche des alten Gelehrten-Paars ein. Überhaupt nimmt sich King viel Zeit für seine Figuren, allen voran natürlich für die titelgebende Holly, die sich redlich müht, ihre Menschenscheu in den Griff zu bekommen und den Fall der Vermissten zu lösen. Das liest sich oft eher wie ein ausschweifender Harry-Bosch-Roman von Michael Connelly (der auch in dem Roman erwähnt wird) als ein King-typischer Horror-Roman, aber die Spannung wird bei aller erzählerischer Länge auf konstant hohem Niveau gehalten. Einzig das unglaubwürdige Finale enttäuscht auf ganzer Linie. Wer Holly aber ebenso wie zuvor Bill Hodges ins Herz geschlossen hat, darf sich mit Sicherheit auf weitere Geschichten mit der sympathischen Detektivin freuen.