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Michael Connelly – (Mickey Haller: 1) „Der Mandant“

Dienstag, 14. Mai 2024

(Heyne, 528 S., HC) 
Als Autor von Kriminalreportagen und später als Polizeireporter für die Los Angeles Times hat Michael Connelly genügend Gerichtssäle von innen gesehen und so genauestens verfolgen können, wie das US-amerikanische Rechtssystem funktioniert. Seit 1992 hat er sein schriftstellerisches Talent und sein Faible für das Justizsystem in packende und preisgekrönte Romane um Detective Hieronymus „Harry“ Bosch gepackt, die schließlich die Grundlage für die mehrere Staffeln umfassende Serie „Bosch“ der Amazon-Studios bilden sollte. Nach zehn Bosch-Romanen und verschiedenen Einzeltiteln wie dem von und mit Clint Eastwood verfilmten „Blood Work“ veröffentlichte Connelly 2005 den Beginn einer neuen Romanreihe, diesmal um den sogenannten „Lincoln Lawyer“. Diesen Namen hat sich der in Los Angeles ansässige Strafverteidiger Michael „Mickey“ Haller durch den Umstand verdient, dass er über kein eigenes Büro verfügt, sondern seine Geschäfte in einem von seinem ehemaligen Mandanten Earl Briggs gesteuerten Lincoln Town Car abwickelt, wobei seine zweite Ex-Frau Lorna ihm die Fälle zuträgt und die Buchhaltung macht. 
Da momentan kaum lukrative Fälle zu verhandeln sind, freut sich Haller, als ihm der Kautionsvermittler Fernando Valenzuela den Fall von Louis Ross Roulet vermittelt. Der Sohn der prominenten Immobilienmaklerin Mary Windsor wird der Vergewaltigung und des versuchten Mordes beschuldigt. Als er das Mandat übernimmt, muss Hallers erste Ex-Frau, die Staatsanwältin Maggie McPherson, als Anklägerin wegen eines Interessenkonflikts den Fall an den noch unerfahrenen Kollegen Minton abgeben. 
Für Haller entwickelt sich der prestigeträchtige Fall zunächst ganz nach seiner Vorstellung, gelingt es ihm doch durch seinen Ermittler Raul Levin, eine Videoaufnahme zu finden, auf der zu sehen ist, wie das vermeintliche Opfer in einer Bar Roulet einen Zettel zugesteckt hat. Außerdem entdeckt Haller eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen Campo und der Nachtklubtänzerin Martha Renteria, die vergewaltigt und mit mehreren Messerstichen getötet worden ist. Bei der Verteidigung des angeklagten Jesus Menendez hat sich Haller damals nicht besonders reingehängt, sondern seinen Mandanten nur durch ein Geständnis vor der Todesstrafe bewahren können, obwohl Menendez bis zum Schluss seine Unschuld beteuert hatte. 
Als Haller zur Überzeugung gelangt, dass Menendez tatsächlich für ein Verbrechen verurteilt worden ist, das er nicht begangen hat, und dass Roulet ein Serienmörder und -vergewaltiger ist, muss er sehr behutsam bei seiner Verteidigungsstrategie sein, denn Roulet hat einige Druckmittel in petto, mit denen er glaubt, seinen Verteidiger in der Spur halten zu können… 
„Alles lief darauf hinaus, dass einer meiner Mandanten einen Mord begangen hatte, für den ein zweiter Mandant lebenslänglich einsaß. Ich konnte dem einen nicht helfen, ohne dem anderen zu schaden. Ich brauchte eine Antwort. Ich brauchte einen Plan. Vor allem brauchte ich Beweise.“ (S. 236) 
Mit dem Strafverteidiger Mickey Haller hat Michael Connelly eine interessante Figur erschaffen, die im Gegensatz zu John Grishams Kämpfern für die Gerechtigkeit eher am eigenen Prestige interessiert zu sein scheint als an der bestmöglichen Verteidigung seiner Mandanten, die er aber auch mal – sehr zum Ärger seiner Ex-Frau Lorna – kostenlos vertritt. Während Grishams Protagonisten eher juristische Fachbücher wälzen, um die in der Regel sehr finanzkräftige Gegenpartei in die Knie zu zwingen, ist Mickey Haller definitiv aus anderem Holz geschnitzt. Dass er bereits zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat, spricht natürlich für sich – auch wenn er zu seinen beiden Ex-Frauen nach wie vor ein gutes Verhältnis pflegt und sich gerade darum bemüht, zu seiner Teenager-Tochter Hayley einen besseren Kontakt herzustellen. 
Haller erweist sich in „Der Mandant“ als gewiefter Strafverteidiger, der der Staatsanwalt immer einen Schritt voraus zu sein scheint und selbst in Bedrängnis einen Plan entwickelt, um seine persönlichen Ziele zu wahren. Der Plot ist jedenfalls äußerst stimmig aufgebaut und steigert die Spannung kontinuierlich, doch verläuft das wendungsreiche Finale auf sehr konstruierten Bahnen, was den Gesamteindruck leicht negativ beeinflusst. 
Am Ende bietet „Der Mandant“ aber so viel packende Unterhaltung, dass es nicht verwundert, dass der Roman 2011 mit Matthew McConaughey in der Rolle des Mickey Haller verfilmt wurde und 2022 sogar in der Netflix-Serie „The Lincoln Lawyer“ mündete.


David Baldacci – (Amos Decker: 6) „Open Fire“

Sonntag, 5. Mai 2024

(Heyne, 494 S., HC) 
Mit FBI-Agent Amos Decker, einem ehemaligen Football-Profi, der nach dem Bodycheck eines Gegners nicht nur eine folgenschwere Hirnverletzung davongetragen hatte, sondern dadurch auch ein fotografisches Gedächtnis und synästhetische Fähigkeiten beschert bekam, hat der US-amerikanische Bestseller-Autor David Baldacci („Der Präsident“, „Die Wächter“) einen seiner faszinierendsten Figuren erschaffen. Mit „Open Fire“ erscheint nun der bereits sechste Fall von Decker und seiner Partnerin, der ehemaligen Journalistin Alex Jamison. 
Der Jäger Hal Parker entdeckt während seiner Jagd auf einen Wolf in den Badlands von North Dakota eine nackte Frauenleiche, der die Schädeldecke abgetrennt und die offenbar bereits obduziert worden ist. Als Decker und Jamison von ihrem Chef Bogart beauftragt werden, den Mord in der Kleinstadt London zu untersuchen, hat dieser sich ungewöhnlich wortkarg gegeben. 
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Opfer um Irene Carter, die in einer Täufergemeinde als Lehrerin arbeitete und offensichtlich nebenbei als Escort-Dame tätig war. Durch seinen Schwager Stan Baker, der durch das florierende Fracking-Geschäft nach London gezogen ist, und Lieutenant Joe Kelly vom hiesigen Police Department bekommen Decker und Jamison schnell einen Überblick über die Lage in London. Demnach sind die beiden Geschäftsleute Hugh Dawson und Stuart McClellan die Platzhirsche in der Kleinstadt, doch sind ihre Geschichten von verschiedenen Tragödien geprägt, zu denen sich bald weitere gesellen, denn offenbar will jemand mit allen Mitteln verhindern, dass die beiden FBI-Agenten hinter die Zusammenhänge zwischen dem Fracking und einer durch eine private Sicherheitsfirma streng bewachten militärischen Anlage kommen, in der einst verbotene Kampfstoffe produziert wurden. 
Als Decker und Jamison selbst zu Gejagten werden, taucht ein geheimnisvoller Mann namens Will Robie auf, der die beiden immer wieder aus brenzligen Situationen befreit. Doch Robies Anwesenheit wirft weitere Fragen auf, vor allem über eine „tickende Zeitbombe“… 
„Hatte das irgendwie mit den Rettungswagen zu tun, die Decker auf dem Gelände gesehen hatte? Und erklärte das vielleicht die mangelnde Bereitschaft des Stationskommandanten, Colonel Sumter, mit ihnen zusammenzuarbeiten? Sie mussten den Mann finden, diesen Ben, der Stan Baker gegenüber die Bemerkung über die tickende Zeitbombe gemacht hatte. Außerdem musste sich Decker mit Bakers Hilfe intensiver mit dem Fracking-Business auseinandersetzen. Nach Deckers Erfahrung waren besonders gewinnträchtige Geschäfte immer für ein Mordmotiv gut.“ (S. 162f.) 
Baldacci hat mittlerweile so viele Thriller-Serien konzipiert, dass es langsam schwerfällt, die Übersicht zu behalten, zumal die einzelnen Reihen selten mehr als fünf Romane umfassen. Dass mit „Open Fire“ bereits der sechste Band um den sogenannten „Memory Man“ Amos Decker veröffentlicht worden ist – ein siebenter namens „Long Shadows“ wartet noch auf seine deutsche Übersetzung -, spricht für das anhaltende Interesse sowohl des Autors als auch des Publikums an der Figur Amos Decker. 
Baldacci rekapituliert für Neueinsteiger noch einmal die Umstände, wie Decker zu seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten gelangt ist, beschreibt dessen Trauer über den Tod seiner Frau und seiner Tochter und das schwierige Verhältnis zu seiner Schwester Renee, die sich gerade von ihrem Mann Stan trennt, der für Deckers neuen Fall eine gute Informationsquelle darstellt. 
„Open Fire“ wartet mit einer Vielzahl von Figuren, merkwürdigen Selbstmorden und Unfällen – bereits in der Vergangenheit – auf sowie lange undurchsichtig erscheinenden Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren. Baldacci erweist sich als sehr geschickt darin, sukzessive die unzähligen Puzzleteile ins Spiel zu bringen und seine Ermittler daranzusetzen, diese Teile so zusammenzusetzen, dass die zunehmenden Todesfälle und merkwürdigen Erscheinungen Sinn ergeben. Dass Decker und Jamison dabei von einem anderen Serien-Helden Baldaccis – Will Robie – Unterstützung bekommen, sorgt vor allem für mehr Action und Geheimdiensthintergrund, macht die Handlung aber gerade im letzten Viertel zunehmend unglaubwürdiger. Dazu zählt die überraschend einfache Befreiung von Ketten und aus einem unterirdischen Verlies – in dem zufällig auch noch Sprengstoff gelagert wird -, aber auch das sehr konstruierte Motiv, das hinter den ganzen Morden steckt. Hier wäre weniger – an Figuren, Action und Zusammenhängen – definitiv mehr gewesen. 

Stephen King – „Langoliers“

Samstag, 27. April 2024

(Heyne, 512 S., Heyne Jumbo) 
Wie Stephen King in seiner Vorbemerkung zu der Novellen-Sammlung „Four Past Midnight“ erwähnt, ist er zu ihrer Veröffentlichung im Jahr 1990 bereits 16 Jahre im Geschäft des Schreibens tätig gewesen. In dieser doch schon bemerkenswerten Zeit sind nach seinem durch Brian De Palma verfilmtes Romandebüt „Carrie“ noch weitere – meist ebenfalls durch namhafte Regisseure wie Stanley Kubrick, John Carpenter, David Cronenberg, George A. Romero und Rob Reiner verfilmte - Bestseller wie „Shining“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Es“, „Sie“ und „Stark – The Dark Half“ erschienen, darüber hinaus auch Kurzgeschichten-Sammlungen wie „Nachtschicht“ und „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“. Mit „Four Past Midnight“ hat King vier längere Geschichten zusammengefasst, die fast eher in den Bereich des Kurzromans gehen, weshalb der Heyne Verlag je zwei Geschichten in dem Band „Langoliers“ und dann in „Nachts“ veröffentlicht hat, bevor später auch eine Taschenbuchausgabe mit dem Titel „Vier nach Mitternacht“ erschien. Viel interessanter als die Geschichten selbst – dies schon mal vorab – sind die Einführungen des Autors zu den jeweiligen Stories. So entstand die Grundidee für die Titelgeschichte aus dem Bild einer jungen Frau, die eine Hand auf einen Riss in der Hülle eines Linienflugzeugs drückt. 
In „Langoliers“ kommt Flugkapitän Brian Engle nach einem schwierigen Flug aus Tokio auf dem LAX, Amerikas schlimmsten Flughafen, an und erfährt, dass seine Ex-Frau Anne bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen sei. Engle fliegt daraufhin als Passagier von Los Angeles weiter nach Boston, schläft aber auch kurz nach dem Starten des „Schnarchflugs“ ein. Als er aufwacht, sind neben ihm selbst noch zehn weitere Passagiere an Bord, die ebenfalls geschlafen haben, darunter das blinde Mädchen Dinah, die Lehrerin Laura, der Musikhochschüler Albert und der geheimnisvolle Nick. Alle anderen – auch die Piloten und die Flugbegleiter:innen - scheinen auf mysteriöse Weise einfach verschwunden, auf vielen Plätzen liegen noch ihre Uhren, aber auch Herzschrittmacher und Zahnfüllungen. Engle übernimmt zwangsläufig das Kommando, versucht allerdings vergeblich, Funkkontakt zu anderen Flughäfen zu bekommen. 
Überhaupt scheint die Welt außerhalb des Flugzeugs eine komplett andere zu sein. Das bekommen Engle und seine Schicksalsgefährten auf schmerzvolle Weise zu spüren, als es ihnen gelingt, den Flughafen von Maine anzusteuern… 
„Langoliers“ wirkt wie Folge aus Rod Serlings „Twilight Zone“, zählt aber zu den schwächeren Geschichten des „King of Horror“. Das liegt nicht nur an der sehr kurzen Einführung der Figuren, die auch während des weiteren Verlaufs der Geschichte kaum Kontur gewinnen. King stellt eindeutig das aberwitzige Szenario in den Vordergrund und bringt seine Leserschaft ebenso wie die Beteiligten in eine Position, in der es vor allem darum geht, eine Erklärung für das Verschwinden der Menschen sowohl im Flugzeug als auch am Flughafen zu finden. Durch die für King ungewöhnlich große Distanz zwischen den Figuren und dem Publikum stellt sich längst nicht das wohlige Grauen ein, das die besseren Geschichten des Bestseller-Autors hervorrufen. 
Mit „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ bewegt sich King dann auf vertrautem Terrain, thematisiert einmal mehr das Spannungsfeld zwischen Literatur, Leser und Schriftsteller. Stand in dem auch erfolgreich von Rob Reiner verfilmten Bestseller „Sie“ der starke Einfluss im Vordergrund, den Literatur auf die Leserschaft ausüben kann, beleuchtete King in dem (vom renommierten Horror-Regisseur George A. Romero adaptierten) Roman „Stark – The Dark Half“ wiederum den manchmal durchaus zerstörerischen Einfluss, mit dem Literatur den Schriftsteller prägen und verändern kann. 
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ nähert sich eher dem zweiten Phänomen an, wird der frisch geschiedene und unter einer Schreibblockade leidende Schriftsteller Morton Rainey in dem Sommerhaus am Tashmore Lake von einem mysteriösen Mann, der sich als John Shooter vorstellt, mit dem Vorwurf konfrontiert, seine 1982 geschriebene Geschichte „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ gestohlen zu haben, und verlangt im Gegenzug, dass Rainey ihm eine Geschichte schreibt. Rainey fühlt sich zunächst auf sicherem Terrain, schließlich ist seine Geschichte mit dem Titel „Zeit zu säen“ bereits 1980 im Ellery Queens Kriminalmagazin erstmals veröffentlicht worden. 
Shooter will allerdings innerhalb von drei Tagen einen Beweis in Form einer der Originalausgaben des Magazins in der Hand halten. Während Rainey seinen Agenten darauf ansetzt, eine dieser Ausgaben per Express zu ihm schicken zu lassen, geschehen grausame Dinge. Eines Morgens findet Rainey seinen Kater Bump mit einem Schraubendreher am Dach des Müllkastens angenagelt vor, wenig später ist das Haus, in dem seine Ex-Frau Amy lebte, bis auf die Grundmauern abgebrannt. Während der Versicherungsdetektiv nach Hinweisen auf die offensichtliche Brandstiftung sucht, wird Rainey von verdrängten Erinnerungen und düsteren Träumen heimgesucht… 
„Er glaubte, ohne ihre große Kapazität der Selbsttäuschung wäre die menschliche Rasse wahrscheinlich noch verrückter, als sie ohnehin war. Aber manchmal brach die Wahrheit durch, und wenn man bewusst versucht hatte, zu träumen und sich diese Wahrheit nicht einzugestehen, konnten die Folgen verheerend sein: Es war, als wäre man dabei, wenn eine gigantische Flutwelle nicht nur über, sondern regelrecht durch einen Damm raste, der in ihrem Weg lag, und diesen samt einem selbst zerschmetterte.“ (S. 397)
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“, das mit Johnny Depp in der Hauptrolle als „Das geheime Fenster“ verfilmt worden ist, wirkt zwar atmosphärisch stimmiger und ist in der Charakterisierung der zugegebenermaßen wenigen Figuren gelungener als „Langoliers“, kann aber mit Stephen Kings früheren Auseinandersetzungen mit dem eingangs erwähnten Spannungsfeld längst nicht mithalten. Das liegt vor allem an dem sehr vorhersehbaren Ausgang der Geschichte und der nicht wirklich überzeugenden Motivation für die grausamen Taten, die uns im Verlauf der Story begegnen. Fans der großartigen Sammlung „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ dürften hier eher enttäuscht werden.


Stephen King – „Sie“

Montag, 15. April 2024

(Heyne, 400 S., Jumbo) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Romandebüt „Carrie“ hat es Stephen King innerhalb weniger Jahre mit weiteren, allesamt verfilmten Werken wie „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und vor allem „Es“ zum meistgelesenen Horrorautoren aller Zeiten geschafft. Ein besonderer Coup ist dem „King of Horror“ mit dem 1987 erschienenen und durch Rob Reiner erfolgreich mit James Caan und Kathy Bates in den Hauptrollen verfilmten Bestseller „Misery“ gelungen, der hierzulande als Erstauflage in dem leider nur kurzlebigen Jumbo-Paperback-Format bei Heyne unter dem Titel „Sie“ veröffentlicht worden ist. 
Nachdem der bekannte Romanautor Paul Sheldon bei einem Schneesturm von der Straße abgekommen und einen Hang hinuntergerutscht ist, hätte er mit seinen beiden gebrochenen Beinen gut umkommen können, doch die ehemalige Krankenschwester Annie Wilkes hat es geschafft, den bewusstlosen Mann aus dem Auto zu bergen und ihn in ihr einsam gelegenes Haus nahe der Stadt Sidewinder in Colorado zu bringen, wo sie mit ein paar Hühnern und einem Schwein lebt, das sie nach Paul Sheldons berühmtester Romanfigur Misery genannt hat. Als Paul Sheldon sein Bewusstsein wiedererlangt, sieht er seine völlig zerstörten Beine behelfsmäßig geschient und sich seiner Retterin hilflos ausgeliefert. Dass mit Annie Wilkes etwas nicht stimmt, merkt mit Novril ruhig gestellte Sheldon sofort. Schließlich hat die gute Frau es nicht für nötig gehalten, die Polizei über ihren Fund zu informieren oder den schwerverletzten Mann ins Krankenhaus zu fahren. Aus Dankbarkeit lässt Sheldon seinem selbsternannten „Fan Nr. 1“ seinen neuen Roman „Schnelle Autos“ lesen, doch zeigt sich Annie wenig begeistert von dem ernsthaften Stoff. Als sie bei einem Einkauf eine Taschenbuchausgabe von Sheldons letzten „Misery“-Roman entdeckt, ist sie so entsetzt darüber, dass ihre absolute Lieblingsheldin stirbt, dass sie Sheldon dazu zwingt, sein Manuskript von „Schnelle Autos“ zu verbrennen und einen neuen „Misery“-Roman zu schreiben, in dem Misery Chastain wiederbelebt wird. Doch je mehr Paul gezwungenermaßen in dem Zimmer eingesperrt ist, desto mehr stellt er fest, dass Annie unter ernsthaften psychischen Problemen leidet und sicher nicht vorhat, ihren Lieblingsautor jemals wieder gehen zu lassen… 
„Er wusste, dass er unablässig terrorisiert worden war, aber hatte er gewusst, wieviel von seiner subjektiven Realität, die einst so stark gewesen war, dass er sie als gottgegeben betrachtet hatte, ausgelöscht worden war? Er wusste eines mit ziemlicher Sicherheit – es war wesentlich mehr mit ihm nicht in Ordnung als nur die Lähmung seiner Zunge, ebenso wie mit dem, was er geschrieben hatte, wesentlich mehr nicht in Ordnung war als die fehlende Type oder das Fieber oder Sprünge in der Kontinuität oder selbst der Verlust seines Schneids. Die Wahrheit hinter allem war so einfach in ihrer Grausamkeit, so schrecklich einfach. Er starb Stück für Stück…“ (S. 305) 
Waren viele seiner vorangegangenen Horrorromane von übernatürlichen Fähigkeiten wie Telekinese („Carrie“), übersinnlichen Wahrnehmungen („Shining“), hellseherischen Fähigkeiten („Dead Zone“) oder Pyrokinese („Feuerkind“) geprägt oder behandelten klassische Horrorthemen wie Vampirismus („Brennen muss Salem“), kommt „Sie“ ohne jegliche übernatürliche Komponente aus. 
Kings Roman wirkt wie ein klassisches Bühnenstück, dessen Handlung sich gut und gerne auf ein Zimmer und zwei Personen beschränken könnte. 
Der Horror entsteht durch den Wahnsinn der ehemaligen Krankenschwester Annie Wilkes, die in Rob Reiners Verfilmung durch eine Oscar-prämierte Kathy Bates zum Leben erweckt worden ist. Durch Paul Sheldons absolute Hilfslosigkeit wird ein Szenario heraufbeschworen, in dem Annie Wilkes ihre labile Psyche hemmungslos an ihrem Opfer austoben lässt, wobei die Beziehung zwischen Autor und Leser natürlich auch selbstreferentielle Züge aufweist. 
Stephen King lässt sein Alter Ego auch über die Unterscheidung zwischen ernsthafter und Schundliteratur schwadronieren, wobei der Leser nicht umhinkommt, auch Kings eigene Meinung zu diesem Thema hineinzuinterpretieren. Im Verlauf der Handlung kommt es zu einigen wirklich grausamen Verstümmelungen, aber das Beste hebt sich King für das grandiose Finale auf, das einen so schnell nicht mehr loslässt.


John Grisham – „Die Entführung“

Dienstag, 12. März 2024

(Heyne, 384 S., HC) 
Mit seinem zweiten, 1991 veröffentlichten Roman „Die Firma“ gelang dem früheren Anwalt John Grisham gleich der große Coup. Er verkaufte die Filmrechte für 600.000 Dollar an Paramount, die mit der Verfilmung durch Sydney Pollack mit Tom Cruise in der Hauptrolle des jungen Anwalts Mitch McDeere nicht nur einen Blockbuster ins Kino brachten, sondern auch die Karrieren von Tom Cruise und John Grisham beflügelten. 
Nach über dreißig Jahren legt Grisham nun mit „Die Entführung“ eine vor allem von seinen treuesten Fans lang erwartete Fortsetzung vor – die allerdings über weite Strecken enttäuscht. 
Vor fünfzehn Jahren konnte Mitch McDeere als einer der besten Absolventen der juristischen Fakultät von Harvard unter den besten Job-Angeboten wählen. Entschieden hat er sich für die relativ kleine Kanzlei Bendini, Lambert & Locke in Memphis, die zwar nicht das sagenhafte Gehalt prominenter Großkanzleien zahlten, aber durch ihre familiäre Atmosphäre und großzügige Sozialleistungen auch Mitchs Frau Abby überzeugen konnten. Doch aus dem Traum wurde damals ein lebensbedrohender Alptraum, als Mitch dahinterkam, dass die Kanzlei einer Mafia-Familie in Chicago gehörte, die bereits vom FBI überwacht wurde. Mitch gelang es damals, nicht nur mit heiler Haut aus der Affäre herauszukommen, sondern auch noch zehn Millionen Dollar mitzunehmen, an denen das FBI offenbar kein Interesse hatte. 
Nachdem die McDeeres einige Zeit in Europa, vor allem in Italien, verbracht haben und Eltern von den beiden Zwillingen Carter und Clark geworden sind, hat Mitch Karriere bei Scully & Pershing gemacht, der größten Anwaltskanzlei der Welt mit Hauptsitz in New York und über dreißig Standorten auf allen Kontinenten. Mitch, der mittlerweile Partner bei S & P ist, soll das türkische Bauunternehmen Lannak vertreten, die für den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi eine eine Milliarde Dollar teure Brücke bauen sollten, doch weigert sich Libyen, die ausstehenden vierhundert Millionen Dollar zu zahlen, die nach Beendigung des Projekts noch offen sind. 
Um dieses Geld einzutreiben, reist Mitch mit Giovanna Sandroni nach Libyen. Giovanna ist die ebenfalls als erfolgreiche Anwältin arbeitende Tochter des schwer an Krebs erkrankten Luca Sandroni, der die römische Niederlassung von S & P leitet. Als sie entführt und von Scully & Pershing ein Lösegeld von 100 Millionen Dollar gefordert wird, entwickelt sich ein Wettlauf gegen die Zeit, um Leben und Tod… 
Mitch McDeere ist also – wie von so vielen Fans sehnsüchtig erhofft – zurück. Die dreißig Jahre, die seit seinem rasanten Aufstieg und Fall bei der gut als Mafia-Geldwäscherei getarnten Kanzlei in Memphis, vergangen sind, hat Grisham geschickterweise durch den Kniff halbiert, indem er die Handlung noch zu Lebzeiten des 2011 getöteten libyschen Staatschefs Gaddafi vor dem realen Hintergrund des wahnwitzigen „Great Gaddafi Bridge“-Projekts ansiedelt. Natürlich werden wir erst einmal ausführlich über den weiteren Werdegang der McDeeres informiert, über Abbys Ambitionen als Herausgeberin von Kochbüchern bei einem kleinen Verlag ebenso wie natürlich über die erstaunlich unproblematische Karriere ihres Mannes bei der weltgrößten Kanzlei. 
Doch wirklich nahe kommen wir den McDeeres nicht. Das liegt nicht nur an der skizzenhaften Rekapitulation der Zeit zwischen Bendini, Lambert & Locke und Scully & Pershing, sondern vor allem an Grishams fast schon klinisch nüchternen Schreibstil, der jede emotionale Verbundenheit zu den Figuren unterbindet. 
Dazu liegt Grishams Fokus ganz auf den handlungsgetriebenen Plot gerichtet. Wie Mitch von New York nach Rom und von dort aus nach Istanbul, wieder zurück nach Rom, nach London und New York fliegt, lässt sich logisch kaum begründen und lässt auch die fein austarierten juristischen Manöver vermissen, die gerade die frühen Grisham-Romane zu Eckpfeilern des Justizthriller-Genres werden ließen. 
In „Die Entführung“ wird nur hektisch versucht, die hundert Millionen Dollar Lösegeld aufzutreiben und die Identität der Entführer aufzudecken, packend ist dieser wenig leidenschaftlich ausgefochtene Kampf nicht. Was Grisham zumindest versucht hat, an Spannung aufzubauen, löst der Autor zum Ende hin recht unspektakulär und allzu vorhersehbar auf. Für diesen Plot hätte man die McDeeres nicht wieder aus der Mottenkiste holen müssen – aber dann hätte das Buch ein entscheidendes Verkaufsargument weniger… 

James Lee Burke – (Aaron Holland Broussard: 2) „Das verlorene Paradies“

Samstag, 2. März 2024

(Heyne, 320 S., Pb.) 
Mit seinen über zwanzig – teilweise auch verfilmten – Romanen um Detective Dave Robicheaux hat sich der 1936 in Houston, Texas, geborene James Lee Burke als vielleicht bedeutendste Stimme im Genre des Südstaaten-Krimis erhoben. Neben den seit 1987 veröffentlichten Romanen um den Vietnam-Veteranen und Alkoholiker sind es vor allem die Geschichten rund um die Holland-Familie, mit denen Burke sein Publikum in den Bann zu ziehen versteht. Nach den epischen Abenteuern, die Hackberry Holland („Zeit der Ernte“, „Regengötter“, „Glut und Asche“) und Billy Bob Holland („Dunkler Strom“, „Feuerregen“, „Die Glut des Zorns“) in den ihnen gewidmeten Buchreihen erlebten, feierte der Wanderarbeiter und Nachwuchsautor Aaron Holland Broussard hierzulande 2018 in „Dunkler Sommer“ seinen Einstand. Nun folgt mit „Das verlorene Paradies“ endlich die erste Fortsetzung.
Aaron Holland Broussard macht sich im Frühjahr 1962 als Trainhopper auf den Weg nach Denver, schlägt sich bis zur Heilsarmee durch und fährt mit dem Greyhound bis runter nach Trinidad, wo er auf der Farm von Jude Lowry und seiner Frau anheuert, um sich zusammen mit anderen Saisonarbeitern um das Vieh und den Ackerbau zu kümmern. Als er zusammen mit seinen beiden Kollegen Spud Caudill und Cotton Williams einen Pritschenwagen voller Tomaten zum Packhaus nach Trinidad fährt, werden die drei Freunde nach einem Restaurantbesuch von vier Männern zusammengeschlagen. Offenbar passte ihnen ein Aufkleber der Landarbeitergewerkschaft auf Mr. Lowrys Wagen nicht. 
Auf diese Weise lernt Broussard nicht nur den Detective Wade Benbow kennen, der es trotz Lungenkrebs nicht schafft, mit dem Rauchen aufzuhören, sondern auch die junge Kunststudentin und Kellnerin Jo Anne McDuffy. Doch die sich anbahnende Romanze wird von dem Umstand getrübt, dass Jo Annes schmieriger Dozent Henri Davos Anspruch auf die junge Frau erhebt und sich in ihrer Nachbarschaft ein paar unberechenbare, vollgedröhnte Junkies in einem Bus herumtreiben. Doch die meisten Probleme bereiten Broussard Rueben Vickers und vor allem sein Sohn Darrel, der die Prügelei in Trinidad angezettelt hatte. 
Derweil entwickelt Benbow ein besonderes Interesse an Broussard und zeigt ihm die Fotos von sechs Frauen und Mädchen, die in den letzten drei Jahren rund um Trinidad brutal ermordet worden sind, darunter die zwölfjährige Enkelin des Detectives. Während sich Broussard mit den teilweise unheimlich wirkenden Ereignissen rund um die Farm, die religiös verwirrten Junkies und die brutalen Vickers herumschlägt, wird er auch von beunruhigenden Träumen heimgesucht, die ihn zu seinem Einsatz in Korea 1953 und dem Verlust seines besten Freundes Saber Bledsoe zurückbringen. Detective Benbow hegt bereits einen Verdacht, wer für die Morde an den Mädchen und Frauen verantwortlich gewesen ist, doch fehlen ihm die Beweise. Als er Broussard ins Vertrauen zieht und mit ihm auf Mörderjagd geht, machen sie mehrere zutiefst verstörende Entdeckungen… 
„Am liebsten wäre ich zu den Sternen hinaufgestiegen und über die Berge davongesegelt. Ich wollte in die Welt meines Vaters entfliehen: ans Ufer des Bayou Teche, in Abende, die nach Magnolien, Jasmin, Trompetenblumen und Orangenblüten riechen. Einfach nur irgendwohin. Alles war besser als das Hier und Jetzt, denn ich hatte das Gefühl, gerade Zeuge der Zerstörung Edens geworden zu sein.“ 
Kaum einer versteht es, die Landschaft und das Lebensgefühl in den Südstaaten so bildhaft darzustellen wie James Lee Burke. Die Bilder und die Gerüche, die seine Sprache hervorrufen, entwickeln beim Lesen eine eigene Zauberkraft, dringen tief in die Vorstellungswelt des Publikums ein. Natürlich ist es einmal mehr unaussprechliche Gewalt, die die Geschichte von „Das verlorene Paradies“ prägt, auch wenn Liebe und Vertrauen möglich scheint. 
Die ungeklärten Morde an den sechs Mädchen und Frauen sind aber nur der Aufhänger für dieses Kriminaldrama, denn ebenso geht es um die Last unauslöschlicher Erinnerungen und schmerzhafter Verluste, um religiösen Wahn und die destruktive Kraft übermäßigen Drogenkonsums. Die psychischen Defekte und die unkontrollierte Gewalt, die hier zum Ausdruck kommt, ist nichts für schwache Nerven, folgt aber einer hypnotisierenden Dramaturgie, der man sich nicht entziehen kann. Allein die übernatürlichen Elemente, die über Traumbilder hinausgehen und die Handlung zum Finale hin ebenso maßgeblich wie unglaubwürdig beeinflussen, sorgen für ein paar Wermutstropfen in diesem leider viel zu kurzen Roman. 

Dan Simmons – „Olympos“

Sonntag, 19. November 2023

(Heyne, 958 S., Tb.) 
Obwohl Dan Simmons auch sehr erfolgreich in den Genres Horror und historischem Abenteuer-Roman unterwegs gewesen ist, bleibt sein Name nach wie vor mit seiner vielfach preisgekrönten „Hyperion“-Tetralogie verbunden, die 1989 mit „Hyperion“ ihren Anfang nahm und über die Romane „Das Ende von Hyperion“, „Endymion. Pforten der Zeit“ und „Endymion. Die Auferstehung“ in den 1990er Jahren fortgeführt wurde. Nach seinem Ausflug in konventionellere Gefilde mit Thrillern wie „Fiesta in Havanna“, „Das Schlangenhaupt“ und „Eiskalt erwischt“ legte Simmons 2003 mit „Ilium“ sein nächstes Sci-Fi-Epos vor. Schon ein Jahr später präsentierte er mit „Olympos“ die Fortsetzung/den Abschluss seiner fantastischen Geschichte über den Kampf zwischen antiken Göttern auf einer alternativen Erde. 
Der aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammende Altphilologe Thomas Hockenberry wurde nach seinem Tod im Jahr 2006 von den Göttern aus alten Knochen, DNA und Erinnerungsfragmenten wiederbelebt, um für die Musen am Olymp Bericht vom Kampf um Troja zu erstatten. Mit der ihm zur Verfügung stehenden High-Tech-Ausrüstung war es Hockenberry und seinen Kollegen nicht nur möglich, mitten im Kampfgetümmel zu erscheinen (und zu verschwinden), ohne von den Beteiligten wahrgenommen zu werden, sondern er konnte die Ereignisse auch verändern. 
Dabei stellte der „Ilias“-Kenner fest, dass sich der Olymp der Götter nicht auf der Erde, sondern auf einem bewohnbaren Mars befindet, während der Trojanische Krieg auf der historischen Erde stattfand. Nach zehn Jahren sorgte allerdings ein Bündnis zwischen Achilles und Hektor, mit dem Ziel, Krieg gegen die Götter zu führen, für Verwirrung, und auf einem fernen Mars der Zukunft begann der trojanische Krieg von neuem. Während Zeus verschwand, kamen die Götter und Göttinnen herunter, um an der Seite ihrer jeweiligen Favoriten zu kämpfen. 
Im Zuge der Kampfhandlungen sorgt das Abreißen der Verbindung zwischen dem Mars mit dem Olymp und der Erde dafür, dass die Moravecs genannten biologische Maschinenwesen und die Griechen fliehen müssen, während Achilles auf dem Mars zurückbleibt und sich mit Hephaistos’ Hilfe auf eine aberwitzige Reise durch die Unterwelt begibt. Auf der zukünftigen Erde wiederum sehen sich die wenigen „Altmenschen“ einem Krieg ausgesetzt, den sie nicht gewinnen können, weil die unzähligen Voynixe, jene halbmechanischen Helfer, die ihnen zuvor ein bequemes und sorgenfreies Leben gewährleistet haben, plötzlich zur unbezwingbaren, tödlichen Bedrohung geworden sind. Und wieder muss sich Hockenberry an einen Ort teleportieren, an dem man ihn nicht sieht… 
„Wo genau will ich eigentlich hin? Wie kann ich diejenigen, zu denen ich will, dazu bewegen, den Griechen bei der Flucht zu helfen? Wohin könnten die Griechen fliehen? Ihre Familien, Bediensteten, Freunde und Sklaven sind alle in den blauen Strahl gesaugt worden, der von Delphi emporsteigt.“ (S. 751) 
Wer von „Ilium“ und „Olympos“ erwartet, ein ähnlich packendes Science-Fiction-Epos wie die „Hyperion“-Tetralogie genießen zu dürfen, wird sicher enttäuscht. Zwar ist Simmons‘ Grundidee, Homers berühmte „Ilias“ auf verschiedenen Raum- und Zeitebenen zwischen Mars und Erde zu verlegen, höchst interessant, aber auf den am Ende fast zweitausend Seiten des zweibändigen Epos treibt es der Autor dann doch etwas weit mit unzähligen Figuren, die am Trojanischen Krieg teilgenommen haben, und diversen technologischen Erfindungen, die oft nicht näher erläutert werden. Dass Simmons immer wieder zwischen den Zeiten, Orten und handelnden Personen/Göttern und literarisch bewanderten Moravecs hin- und herspringt, ist dem Lesegenuss ebenfalls wenig zuträglich. Dabei gewinnen die unzähligen Figuren kaum Kontur. Hockenberry, der als Ich-Erzähler, noch das alles verbindende Glied in „Ilium“ gewesen ist, taucht in der Fortsetzung erstmals ab Seite 650 auf, worauf seine Rolle fast darauf beschränkt bleibt, die bisherigen Ereignisse seit seiner Reaktivierung zusammenzufassen. 
Shakespeare- und „Ilias“-Kenner sind sicher im Vorteil, wenn es um die Einordnung literarischer Referenzen geht, die vor allem durch die beiden sympathischen Moravecs Mahnmuth und Orphu ins Spiel gebracht werden, aber hilft das kaum weiter, um die technologischen Finessen, quantenphysikalischen Phänomene und interpersonelle Verstrickungen zwischen den Alt-, und Nachmenschen, Göttern und Halbgöttern, Maschinenwesen und Monstern mit gehirnähnlichem Aussehen so einzuordnen, dass man als Leser mit Spannung das Finale erwartet. Das fällt nämlich mit einem Ausblick nach der Zerstörung Iliums eher metaphysisch aus. Simmons‘ Ideenreichtum, umfängliches Wissen und sprachliche Gewandtheit machen sich auch in „Olympos“ bemerkbar, aber weniger wäre gerade im vorliegenden Werk mehr gewesen.


Stephen King – „Holly“

Dienstag, 3. Oktober 2023

(Heyne, 640 S., HC) 
Am 21. September 2023 feierte Stephen King seinen 76. Geburtstag. Ans Aufhören denkt der produktive Bestseller-Autor, der nach wie vor als „King of Horror“ tituliert wird, obwohl seine literarischen Ambitionen längst weit über dieses Genre hinausgehen, noch lange nicht. Jedes Jahr dürfen sich King-Fans auf mindestens ein neues, oft episch angelegtes Buch freuen. Mit seinem neuen Roman „Holly“ kehrt King zu seiner, wie er selbst sagt, Lieblingsfigur Holly Gibney zurück und macht sie erstmals zur Hauptakteurin, nachdem sie in der aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“ bestehenden Trilogie um den Privatermittler Bill Hodges als Nebenfigur aufgetaucht war und später auch in „Der Outsider“ und „Blutige Nachrichten“ ihren Auftritt hatte. 
Die Privatermittlerin Holly Gibney hat gerade ihre an Corona verstorbenen Mutter beerdigt, da erhält sie den Anruf einer verzweifelten Mutter, Penny Dahl, die seit drei Wochen ihre Tochter Bonnie vermisst und keinen Hehl aus ihrer Kritik an den ihrer Meinung nach oberflächlichen Ermittlungen der Polizei. Da ihr Partner bei Finders Keepers, Pete Huntley, gerade unter einer schweren Covid-Erkrankung leidet, übernimmt Holly den Fall allein, lässt sich von ihrer Freundin, Detective Izzy Jaynes, über den Stand der Dinge informieren, und legt los. Gewissenhaft untersucht die 55-jährige, übrigens gegen Corona geimpfte, allerdings rauchende Ermittlerin die Gegend, in der Bonnie das letzte Mal gesehen worden ist, wo sie schließlich einen Ohrring entdeckt, befragt das Personal des naheliegenden Supermarkts, Freunde und Arbeitskollegen. 
Ihre Mitarbeiter, die beiden Geschwister Jerome und Barbara Robinson, spannt sie mit Recherchen ebenso ein wie Pete Huntley, der auf dem Wege der Besserung scheint. Als Holly bei ihren Ermittlungen auf ähnliche Vermisstenfälle stößt, versucht sie einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Bonnie Dahl, der Reinigungskraft Ellen Craslow und Pete Steinman zu finden. Währenddessen bereiten die gebrechliche Emily Harris, Professorin für Englische Literatur, und ihr mit ersten Anzeichen von Alzheimer kämpfende Ehemann Rodney Harris, Professor an der Fakultät für Biowissenschaften und Ernährungswissenschaftler, in ihrem Keller den nächsten Schmaus vor. 
„Mit Faszination betrachtet Roddy die winzigen Blutströpfchen auf ihrer Unterlippe. Am fünften Juli wird er die Lippen da in ungebleichtem Mehl wälzen und in einer kleinen Pfanne braten, vielleicht mit Pilzen und Zwiebeln. Lippen sind eine gute Kollagenquelle, und die da werden wahre Wunder für seine Knie und Ellbogen wirken, sogar für seinen knarzenden Unterkiefer. Letzten Endes wird die lästige junge Frau der Mühe wert sein. Sie wird Roddy und Emily etwas von ihrer Jugend schenken.“ (S. 444) 
Stephen Kings Romane sind auch immer Reflexionen über den jeweils gegenwärtigen Zustand der Vereinigten Staaten von Amerika. In „Holly“, der bis auf wenige Kapitel im Jahr 2021 angesiedelt ist, steht nicht nur einmal mehr Trump im Fokus von Kings Kritik hinsichtlich der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung im Land, sondern vor allem Corona. Während die leicht hypochondrische Holly geimpft ist, ihren Gesprächspartnern den Ellbogen zur Begrüßung hinstreckt (was die Leute oft genug mitleidig lächelnd erwidern) und wo es geboten scheint Maske trägt, gibt es offenbar viele Menschen, die Corona als Lügenmärchen und Teil einer großangelegten Verschwörung ansehen. 
Die Penetranz dieser Thematik nervt zwar mit der Zeit, wird aber durch einen geschickt konstruierten Krimi-Plot wettgemacht, der auf zwei Handlungsebenen angelegt ist. 
Während Holly nämlich den immer offensichtlicher werdenden Gemeinsamkeiten zwischen den Vermisstenfällen nachgeht, macht sich auf der einen Seite Jerome Robinson auf den Weg nach New York, um den Vorschuss auf seinen ersten Roman in Empfang zu nehmen, auf der anderen Seite freundet sich seine Schwester Barbara mit der berühmten Dichterin Olivia Kingsbury an, die die Gedichte ihres Schützlings bei einem renommierten Wettbewerb einreicht. Allein aus der räumlichen Nähe zu dem verrückten Harris-Ehepaar erzeugt King eine unterschwellige Spannung, aber der Autor hat auch sichtlich Freude daran, einmal mehr in den schwierigen Schaffensprozess von Lyrik und Literatur einzutauchen. Der Horror hält sich bei „Holly“ dagegen in überschaubare Grenzen. Der thematisierte Kannibalismus wird weniger blutig abgehandelt als erwartet. Dafür taucht King tief in die in Schieflage geratene Psyche des alten Gelehrten-Paars ein. Überhaupt nimmt sich King viel Zeit für seine Figuren, allen voran natürlich für die titelgebende Holly, die sich redlich müht, ihre Menschenscheu in den Griff zu bekommen und den Fall der Vermissten zu lösen. Das liest sich oft eher wie ein ausschweifender Harry-Bosch-Roman von Michael Connelly (der auch in dem Roman erwähnt wird) als ein King-typischer Horror-Roman, aber die Spannung wird bei aller erzählerischer Länge auf konstant hohem Niveau gehalten. Einzig das unglaubwürdige Finale enttäuscht auf ganzer Linie. Wer Holly aber ebenso wie zuvor Bill Hodges ins Herz geschlossen hat, darf sich mit Sicherheit auf weitere Geschichten mit der sympathischen Detektivin freuen.  

Robert Bloch – „Das Regime der Psychos“

Dienstag, 26. September 2023

(Heyne, 128 S., Tb.) 
Zwar ist Robert Bloch (1917-1994) wegen seiner berühmten Romanvorlage zu Alfred Hitchcocks Klassiker „Psycho“ (1960) vor allem als Autor fantastischen und psychologischen Horrors bekannt, doch hat der Autor, der schon als Jugendlicher Kontakt zu H.P. Lovecraft und seinem Zirkel gepflegt hatte, im Laufe seiner langen Schriftsteller-Karriere auch etliche Science-Fiction-Geschichten geschrieben (hier ist die Sammlung „Die besten SF-Stories von Robert Bloch“ besonders zu empfehlen). 
1971 erschien mit „Sneak Preview“ sogar ein Science-Fiction-Roman aus seiner Feder, der drei Jahre später als „Das Regime der Psychos“ von Heyne im deutschsprachigen Raum veröffentlicht wurde. 
Eigentlich würde Graham, der als junger Regisseur in der Abteilung Weltraumopern dafür zuständig ist, die gewalttätigen Fantasien des Publikums auf andere Welten und schleimige, insektenäugige Ungeheuer umzulenken, gerne einen Dokumentarfilm drehen, doch mit seinem Ansinnen, Gewalt zwischen Menschen zu zeigen, wird er von seinem Produzenten Zank zu einer Auszeit mit der schönen Wanda verdonnert. Es gibt Schlimmeres. Schließlich verliebt sich Graham in Wanda, die ihn allerdings gleich an den Psycho-Chef Sigmond übergibt. 
In der nahen Zukunft haben Kriege, atomare Explosionen und Naturkatastrophen die Erde verwüstet. Nun leben die verbliebenen Menschen unter Kuppeln in ausgesuchten Städten und werden nicht von Politikern regiert, sondern von Psychologen, die bestens mit der Natur des Menschen vertraut sind und deshalb genau wissen, was sie brauchen, um friedlich miteinander auszukommen. Dazu gehört auch, dass jeder Mensch im Alter von fünfzig Jahren zwangspensioniert wird und als Sozialpensionär in den Süden verfrachtet wird, um den Rest des Lebens genießen zu können. Krankheit, Armut und Krieg scheinen besiegt, politische und religiöse Querelen ausgemerzt. 
Auf der anderen Seite haben die dreißig Millionen Menschen auf der Erde Zugang zu Kleidung, Ernährung, Wohnung, medizinischer und psychiatrischer Unterstützung. Damit auch Graham wieder in dieses System eingegliedert werden kann, soll er einer Gehirnwäsche unterzogen werden, doch dann bekommt er unverhofft die Gelegenheit, sich einer gut organisierten Gruppe anzuschließen, die wieder die alte Gesellschaftsform zurückbringen will. 
„Unter den Kuppeln betrachteten die Menschen sich nicht als Schachfiguren der Natur; wenn sie einander umarmten, geschah es nur zur Triebbefriedigung. Vielleicht war es wichtig, dass allen wieder eine Gelegenheit wie diese geboten wurde – unter einem dunklen und weiten Himmel zu stehen und sich im Bewusstsein der eigenen Unwichtigkeit und auf der Suche nach Kraft wie auch zu flüchtiger Erfüllung an einen anderen Menschen zu klammern.“ (S. 97) 
Robert Bloch ist mit „Das Regime der Psychos“ Anfang der 1970er Jahre ein interessanter Science-Fiction-Roman gelungen, der in vielerlei Hinsicht nach wie vor drängende Probleme wie Überbevölkerung, Zerstörung der Natur, Hungersnöte und soziale Ungleichheit thematisiert und als vermeintlichen Ausweg aus der Krise eine nivellierte, kontrollierte und dezimierte Gesellschaft vorstellt, die nicht zuletzt durch manipulative Filmproduktionen auf Kurs gehalten wird. 
Auch nach fünfzig Jahren bietet dieser Roman viel Stoff zum Nachdenken an, konzentriert sich aber auch mehr auf das übergeordnete Thema als auf seine Figuren, und das Ende fällt für Blochs Verhältnisse ungewöhnlich konventionell aus. Aber als Impulsgeber zur Reflexion über die Möglichkeiten und Gefahren einer allzu konditionierten Gesellschaft ist der Roman noch immer sehr lesenswert. 
 

Robert Bloch – „Die Pension der verlorenen Seelen“

Mittwoch, 23. August 2023

(Heyne, 141 S., Tb.) 
Zwar hat Robert Bloch (1917-1994) seine schriftstellerische Karriere in Jugendjahren mit der Adaption und Fortsetzung des „Cthulhu“-Mythos seines Idols H. P. Lovecraft begonnen, doch im weiteren Verlauf erweiterte der Bestseller-Autor von „Psycho“ (1959) seine Tätigkeit auf die Genres des Psycho-Thrillers, Horrors und der Science-Fiction. Weniger bekannt sind Blochs Bemühungen im Bereich der humorvollen Fantasy, wurden sie hierzulande doch mit Vorliebe unter dem Etikett „Horror-Stories“ verkauft. Das trifft auch auf den 1969 unter dem passenden Titel „Dragons and Nightmares“ veröffentlichten Band zu, der 1973 bei Heyne seine deutsche Übersetzung als „Die Pension der verlorenen Seelen“ erfuhr. Die drei hier enthaltenen Stories sind gewiss alles andere als „Horror-Stories“. 
Auf der Suche nach einer Arbeit wird einem verzweifelten Schriftsteller in „Die Pension der verlorenen Seelen“ eine Anstellung als Hausdiener beim Millionär Julius Margate vermittelt. Für 800 Dollar und freier Kost und Logis muss der Kandidat allerdings einige besondere Voraussetzungen mitbringen: Er soll nicht nur tierlieb und ein guter Reiter sein, sondern auch auf Bäume klettern können, zur Blutgruppe AB gehören und einen Intelligenzquotienten von mindestens 140 haben. 
 Es dauert nicht lange, bis Margates neuer Hausdiener hinter die Bedeutung der ungewöhnlichen Stellenbeschreibung kommt: Der Vampir Mr. Simpkins ist gegen Blutgruppe AB allergisch – allerdings wurden ihm ohne Vorwarnung gerade beim Zahnarzt alle Zähne gezogen. Zu den weiteren Gästen in Margates Haus zählen der Werwolf Jory, die Baumnymphe Myrte, der Zentaur Gerymanx und die Nixe Trina, in die sich der Hausdiener gleich verliebt. Doch als Margate Captain Hollis nach Griechenland schickt, um ein weiteres mythisches Wesen einzufangen, geraten die Dinge außer Kontrolle, denn Hollis bringt ausgerechnet die Medusa mit, die Margates Truppe im Nu in Stein verwandelt. 
Der unangekündigte Besuch der Hexe Miss Teriös scheint gerade zur rechten Zeit zu kommen, doch gibt sie sich nicht die nötige Mühe, um die Rückverwandlung der versteinerten Wesen ordnungsgemäß zu vollziehen. Stattdessen landen die verschiedenen Persönlichkeiten in anderen Körpern… 
„In dem allgemeinen Durcheinander war die Schaufensterpuppe, die eigentlich keine Seele hatte, offenbar in Myrtes Baum geraten. Trina aber gelangte in den nunmehr vakanten Leib der Puppe. So standen die Dinge also. Ein Vampir im Leib eines Werwolfes, ein Werwolf im Leib eines Vampirs. Ein Mann in der Gestalt eines Zentauren, und der Zentaur in der Gestalt einer Nixe. Die Nixe in der Gestalt einer Schaufensterpuppe, und eine Baumnymphe in Gestalt eines Mannes … Und ich – inmitten all dieser Verwicklungen – in einem Riesenschlamassel.“ (S. 69) 
Die beiden sich ergänzenden Geschichten „Die alten Rittersleut …“ und „Der eifrige Drache oder: Hermann“ greifen einmal mehr die bei Bloch beliebte Zeitreise-Thematik auf. Ein Hühnerfarmer, der von dem Gauner Tommy Malloon regelmäßig um Schutzgeld erpresst wird, macht zunächst die Bekanntschaft mit dem Ritter Pallagyn, der von Merlin in die Zukunft geschickt wurde, um das Kappadokische Taburett zu suchen, was sich als schwieriger erweist als erhofft. In der zweiten Geschichte schlüpft aus einem riesigen Ei ein niedlicher Drache, der für eine Million Dollar an einen Show-Unternehmer verkauft werden soll. Doch da schießt ihm ausgerechnet Tommy Malloon in die Quere… 
Wer mit „Die Pension der verlorenen Seelen“ klassische Gruselgeschichten erwartet – wie die Bezeichnung auf der Titelseite ja verspricht -, wird bitter enttäuscht, denn die drei hier versammelten Geschichten fallen eher in die Kategorie humorvoller Fantasy. Bloch schlägt sich hier zwar wacker, wartet auch mit ein paar originellen Einfällen auf, doch handelt es sich hier doch ganz eindeutig um einen massiven Etikettenschwindel. Fantasy-Freunde wird dieser Band nämlich auch nicht wirklich begeistern…

 

Robert Bloch – „Horror Cocktail“

Sonntag, 20. August 2023

(Heyne, 142 S., Tb.) 
Robert Bloch war bereits im Kindesalter begeisterter Leser der „Weird Tales“ und kam als 15-Jähriger in Kontakt mit Schriftstellern wie H. P. Lovecraft, August Derleth und Clark Ashton Smith, begann ab 1930, eigene Kurzgeschichten im Stile Lovecrafts zu verfassen, bis er sich mit seinem 1947 veröffentlichten Debütroman „The Scarf“ (dt. „Der Schal“) auch im Krimi-Genre einen Namen machen konnte. Nicht zuletzt durch seinen von Alfred Hitchcock verfilmten Roman „Psycho“ (1959) ist Bloch auch hierzulande bekannt geworden. 
Neben weiteren Romanen wie „Werkzeug des Teufels“ und „Shooting Star“ sind bereits ab den 1960er Jahren auch etliche Kurzgeschichten-Sammlungen von Robert Bloch erschienen. „Horror Cocktail“, 1972 im Heyne Verlag veröffentlicht, vereint acht ursprünglich zwischen 1953 und 1960 publizierte Geschichten, die zwar als „Horror-Stories“ deklariert werden, allerdings eher dem Krimi und der Science-Fiction zuzuordnen sind. 
In „Studienkreise“ macht Don Freeman, verantwortlicher Leiter der Playlights-Produktion, in einer Bar die Bekanntschaft von Professor Herbert Claymore, Leiter der Physikalischen Fakultät an der Yardley-Universität, der sich als Zeitreisender entpuppt und Freeman die zündende Idee für eine neue Show liefert. „Partnertausch“ erzählt die Geschichte von Willis T. Millaney, der sich als Agent beispielsweise darum kümmert, dass seine Stars in den Fernsehshows unterzubringen und ihre Verträge einhalten. Bei Buzzie Waters gestaltet sich dieser Part mal wieder als schwierig, da er nicht zur verabredeten Zeit am Set erschienen ist und spurlos verschwunden zu sein scheint. Millaney findet seinen Zögling zwar, sieht sich allerdings zu drastischen Maßnahmen mit tödlicher Wirkung gezwungen, so dass er nun Joe Traskin als Buzzies Double aufbauen muss, um nicht aufzufliegen. 
In der „Der letzte Meister“ kommt ein gewisser John Smith mit einer mysteriösen Kugel aus dem Jahr 2903, um einige berühmte Gemälde von Rembrandt, Tizian, Raphael, El Greco, Gauguin, Holbein, van Gogh u.a. zu besorgen, um sie vor der Zerstörung durch den ihm bereits bekannten Krieg zu retten. Doch die Millionen Dollar, mit denen er diese zu kaufen versuchte, sorgen für Probleme, mit denen der Zeitreisende offensichtlich nicht gerechnet hat. 
„Die ganz oben“ handelt von der Verwirrung, die das aufgehende Hollywood-Sternchen Kay Kennedy anrichtet, als sie den Produzenten Edward Stern kennenlernt. Sie imponiert ihm mit ihrem profunden Wissen der Filmgeschichte. Während ihr Begleiter Mike Charles Stern anbettelt, ihn mit einem neuen Regieprojekt zu betrauen, drängt Kennedy den einflussreichen Produzenten dazu, dass sie ebenfalls in den elitären Club der Leute aufgenommen wird, die immer etwas zu sagen haben, solange sie auch im Geschäft sind. Doch die Bedingungen zur Aufnahme bei Dr. Loxheim haben es in sich… 
In „Kain und Abel“ betritt der junge Abel die antiquarische Buchhandlung von Mr. Kain und verlangt nach drei ungewöhnlichen Büchern, mit denen er zu erkennen gibt, dass er von Mr. Kains besonderer Profession weiß, nämlich die Einführung in das Morden. Doch das Lehrer-Schüler-Verhältnis nimmt eine ungewöhnliche Wendung. 
„Als er seine Mission beendet hatte, kehrte er in den Buchladen zurück und verbarg sich hinter der Perücke, dem Schnurrbart und der Brille. Nach einer Weile hat er sich eingelebt. Und nach einer weiteren kleinen Weile kamen die ersten Schüler. Die Bücherei blieb im Geschäft. Man findet solche Geschäfte in den Seitenstraßen jeder großen Stadt. Und manchmal fragt man sich, wie es der Besitzer wohl fertigbringt, davon zu leben…“ (S. 106) 
Während „Das Geschenk“ die Geschichte von dem Agenten Gibson erzählt, der die attraktive Lani als Model aufzubauen versucht, die dann aber die Bekanntschaft des schwerreichen Öl-Prinzen Ahmed macht, finden sich vier Kleinkriminelle auf einmal im Jahr 1766 wieder, um einen Goldschatz in Philadelphia an sich zu bringen, der ihre Sorgen in der Gegenwart lösen soll. 
„Dreimal recht tödlich“ vereint am Ende drei kurze unspektakuläre Episoden über das Töten. 
Die Inhaltsangaben machen bereits deutlich, dass es hier weniger um übernatürliches Grauen geht, sondern dass es vor allem die Doppelgänger-Thematik und das Spiel mit den Zeitreisen, nicht zuletzt ganz primitive Motive des Mordens aus Habsucht und Rache, oft im Dunstkreis von Hollywood, im Zentrum der einzelnen Geschichten stehen. Das ist wunderbar kurzweilig und amüsant, aber selten packend und einfallsreich. 

 

Dan Simmons – „Ilium“

Samstag, 19. August 2023

(Heyne, 828 S., Pb.) 
Kaum hat sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons mit seinen ersten beiden, jeweils preisgekrönten Romanen „Göttin des Todes“ und „Kraft des Bösen“ im Horror-Sektor etabliert und Kollegen wie Stephen King zum Staunen gebracht, setzte er mit „Hyperion“ und „Das Ende von Hyperion“ neue Meilensteine – diesmal im Science-Fiction-Genre. In der Folge ließ sich Simmons nie auf ein Genre festlegen. Auf die Kurzgeschichten-Sammlungen „Styx“, „Lovedeath. Liebe und Tod“ und „Welten und Zeit genug“ folgten weitere Horror-Werke wie „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“ ebenso wie die Thriller „Die Feuer von Eden“, „Fiesta in Havanna“ und „Das Schlangenhaupt“, die Action-Trilogie um den Privatermittler Joe Kurtz und die Fortsetzung der „Hyperion“-Saga mit „Endymion. Pforten der Zeit“ und „Endymion. Die Auferstehung“
Bevor sich Simmons auch noch auf epische historische Abenteuer-Romane verlegte, erschien 2003 mit „Ilium“ ein weiteres Science-Fiction-Epos, mit dem sich der Autor der Herausforderung stellte, alte griechische Sagen mit klassischer Literatur und Science-Fiction zu verknüpfen. 
Thomas Hockenberry hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Professor für Philosophie an der University of Indiana gelehrt und wurde nach seinem Tod von den Göttern aus alten Knochen, DNA und Erinnerungsfragmenten wiederbelebt, um als Zeitzeugen vom Kampf um Troja zu berichten. Neun Jahre nach seiner Wiedergeburt lebt Hockenberry in einer Scholiker-Kaserne mit anderen kenntnisreichen „Ilias“-Forschern, um der Muse Melete am Olymp Bericht über die Entwicklungen im Trojanischen Krieg zu berichten, ohne zukünftige Ereignisse vorwegzunehmen. Mithilfe von spezieller High-Tech-Ausrüstung ist es Hockenberry und seinen Kollegen möglich, mitten im Kampfgetümmel zu erscheinen, ohne von den Beteiligten wahrgenommen zu werden, und ebenso schnell wieder zu verschwinden. Allerdings muss der Scholiker bald feststellen, dass zwischen Homers epischer Erzählung und den eigenen Beobachtungen signifikante Diskrepanzen bestehen… 
„Ich kann es einfach nicht fassen. Nicht nur, dass ich den Angelpunkt nicht gefunden und keinerlei Veränderung bewirkt habe, jetzt ist auch noch die gesamte Ilias aus der Bahn geraten. Über neun Jahre war ich als Scholiker hier, habe zugesehen, beobachtet und der Muse Bericht erstattet, und kein einziges Mal hat es eine tiefe Kluft zwischen den Ereignissen in diesem Krieg und Homers Bericht in seinem Versepos gegeben. Und nun … das. Wenn Achilles heimfährt, und alles spricht dafür, dass er genau das bei Tagesanbruch tut, werden die Achäer besiegt, ihre Schiffe verbrannt, Ilium gerettet, und Hektor, nicht Achilles, wird der große Held des Epos sein. Auch Odysseus‘ Odyssee wird dann wohl kaum stattfinden … und schon gar nicht so, wie sie besungen worden ist. Alles hat sich verändert.“ (S. 496) 
Währenddessen werden auf dem Mars bedrohlichen Quantenaktivitäten gemessen, denen ebenso intelligente wie empathische Cyborgs von den Jupitermonden mit einer Expedition auf den Grund gehen sollen. Zu diesen sogenannten Moravecs zählen auch Mahnmut, Erforscher der Meerestiefen auf Europa und Shakespeare-Experte, und Orphu, ein Hochvakuum-Moravec von Io und Proust-Kenner. Nachdem ihr Raumschiff in einer Mars-Umlaufbahn von einem Streitwagen abgeschossen worden ist, sind sie allerdings die einzigen, die schwer lädiert ihr Ziel erreichen und mit neuen Gefahren konfrontiert werden, aber auch hilfsbereiten kleinen grünen Männchen (KGM) begegnen 
Und schließlich hat sich auch auf der Erde einiges getan. Verschiedene Katastrophen haben dazu geführt, dass der einst blaue Planet in der Zukunft nur noch von einigen hunderttausend sogenannten „Altmenschen“ bewohnt wird, denen es bestimmt ist, genau 100 Jahre alt zu werden und während ihres Daseins kontinuierlich von Servitoren und Voynixen betreut und beschützt werden, da die Wälder von genetisch rekonstruierten Sauriern bevölkert sind. 
Dan Simmons hat sich einiges vorgenommen für sein neues, wiederum wenigstens zweibändiges Science-Fiction-Epos, das 2005 mit „Olympos“ seine Fortsetzung gefunden hat. Simmons‘ Publikum wird nicht nur mit den unzähligen Göttern, Musen und Gestalten aus Homers „Ilias“ konfrontiert, sondern ebenso mit Verweisen auf die Werke von Shakespeare, Marcel Proust, Robert Ranke-Graves und Alfred Lord Tennysons „Ulysses“ bombardiert, dass man sich ebenso verloren und verwirrt fühlt wie Simmons‘ eigene Protagonisten. 
Unter denen nimmt der von den Göttern des Olymps wiederbelebte Gelehrte Hockenberry als Ich-Erzähler zwar eine Schlüsselstellung ein, doch durch die immer wieder eingeschobenen Handlungsstränge auf dem Mars und der alten Erde wird das Figurenarsenal doch sehr schnell unübersichtlich. Auf besonders tiefgreifende Psychologisierungen verzichtet Simmons zugunsten einer höchst komplexen Erzählstruktur, die verschiedene Zeitebenen, Planeten und Figurenkonstellationen miteinander verknüpft. Das erfordert eine beständig hohe Aufmerksamkeit, zumal die Verbindungen zwischen all den Göttern und ihren Weggefährten für den Nicht-Ilias-Kundigen schwer nachzuvollziehen sind.  
Dan Simmons hat mit „Ilium“ fraglos ein packendes, wenn auch zu verspieltes, überdimensioniertes Science-Werk-Epos geschaffen, erreicht allerdings nicht die Intensität, erzählerische Finesse und Sogkraft seiner gefeierten „Hyperion“-Tetralogie. 

Dan Simmons – „Flashback“

Freitag, 7. Juli 2023

(Heyne, 638 S., Pb.) 
Seit Dan Simmons seinen Beruf als Grundschullehrer aufgegeben und 1985 mit „Song of Kali“ seinen ersten Roman veröffentlicht hat, bewegt er sich souverän zwischen den Genres, schreibt Horror- und Psycho-Thriller ebenso wie rasante Detektiv-Thriller und vor allem Science-Fiction-Epen, wofür er gerade zu Anfang seiner Karriere mit etlichen renommierten Preisen wie dem World Fantasy Award, Locus Award, Bram Stoker Award, Hugo Award und British Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Seit 2007 hat Simmons mit „Terror“, „Drood“ und „Der Berg“ vor allem epische Historien-Abenteuer veröffentlicht, dazwischen aber mit „Flashback“ (2011) auch wieder einen Science-Fiction-Roman. 
In den 2030er Jahren steht die Welt vor dem wirtschaftlichen Kollaps. In den einst so mächtigen USA setzt der als Weltkalifat bezeichnete Islam seinen Expansionskurs durch die Welt fort, nachdem er sich bereits einen Großteil Europas einverleibt und Israel mit einem atomaren Angriff ausgelöscht hat. Aber auch die Reconquista und einflussreiche japanische Millionäre ringen um die Macht in den wirtschaftlich wie politisch und sozial zerrütteten USA. 
Die Bevölkerung ist weitgehend von der „Flashback“-Droge abhängig, die es den Konsumenten ermöglicht, wieder und wieder die schönsten Stunden ihres Lebens nachzuempfinden. Davon macht auch der ehemalige Detective des Denver Police Department, Nick Bottom, Gebrauch, um den Verlust seiner vor fünf Jahren bei einem Autounfall getöteten Frau Dara zu verarbeiten. Allerdings hat er sich durch dieses Verhalten sowohl von seinem Sohn Val entfremdet als auch von seinem in Los Angeles lebenden Vater, den emeritierten Philosophieprofessor George Leonard Fox, bei dem Val seit dem Tod seiner Mutter lebt. Vor allem um seine durch exzessiven Flashback-Konsum in die Höhe geschossenen Schulden zu begleichen, nimmt Bottom einen Job als Privatermittler für den einflussreichen japanischen Diplomaten Hiroshi Nakamura an. 
Zwar gelang es Bottom schon vor sechs Jahren nicht, mit seiner Mannschaft beim DPD den Mord an Nakamuras Sohn Keigo aufzuklären, aber Nakamura will endlich Gewissheit haben und lässt Bottom von seinem Sicherheitschef Hideko Sato begleiten, der – wie Bottom schnell herausfindet – ebenfalls auf der Party anwesend war, in deren Verlauf Keigo Nakamura getötet worden ist. Während sein Vater auf Flashback noch einmal die alten Ermittlungsakten und die von Sato bereitgestellten Kameraaufnahmen durchgeht, plant Val mit seiner Gang in Los Angeles ein Attentat auf den japanischen Berater Daichi Omura. Dass sein Großvater zufällig direkt nach dem geplanten Anschlag mit Val Kalifornien nach einer Terrorwarnung verlassen und nach Denver gehen will, passt ihm gut in den Kram. Doch der angedachten Familienzusammenführung steht noch einiges im Weg. Vor allem ist Nick nach der überraschenden Entdeckung, dass seine Frau, die als Assistentin von Staatsanwalt Harvey Cohen vor sechs Jahren ebenfalls in der Nähe des Mord-Tatorts gesehen worden ist, dabei, eine große Verschwörung aufzudecken, doch der Weg zur Erkenntnis aller Zusammenhänge gestaltet sich steinig… 
„Was jetzt? Er war sicher, dass er alle Fakten kannte, die er für die Klärung dieses Verbrechens benötigte, doch selbst die gottverdammten Fakten schienen immer wieder zu verschwimmen und sich zu verschieben. Nick kam sich vor wie ein blinder Künstler mit einem Haufen Murmeln. Im Wesentlichen war er nicht weiter als sein Team von Ermittlern vor sechs Jahren, das damals zu dem Schluss gelangte, dass Keigo und nebenbei auch seine Freundin Keli Bracque möglicherweise von einem der Zeugen ermordet worden waren.“ (S. 541) 
Dan Simmons, der mit der „Hyperion“-Tetralogie und epischen Werken wie „Ilium“ und „Olympos“ seinen Stempel in der Science-Fiction-Literatur hinterlassen hat, gelingt auch mit seinem hierzulande vorletzten veröffentlichen Roman ein großer Wurf, der einen pessimistischen Blick in eine nicht allzu ferne Zukunft präsentiert. Demnach stehen sich nicht die beiden Weltmächte USA und Russland als Endgegner gegenüber, sondern das islamische Weltkalifat und Japan, wobei die immensen Kosten für das Sozialsystem als Verursacher für den Niedergang der USA ausgemacht werden. 
Aus dieser Konstellation entwickelt Simmons einen packenden und vielschichtigen Thriller-Plot, der spannende Fragen zur politischen Lage in der Welt, zur Verwirklichung von Allmachtsphantasien, Korruption und Eskapismus in einer nicht mehr lebenswert erscheinenden Welt erörtert. 
Darüber hinaus stellt „Flashback“ aber auch eine tiefgründige Familiengeschichte dar, in der sich Vater und Sohn nach ihrer Entfremdung zwangsläufig wieder annähern müssen. So provokativ einige von Simmons‘ Thesen in „Flashback“ auch ausfallen, lohnt sich eine nähere Auseinandersetzung mit ihnen auf jeden Fall. Und wer einfach nur einen spannenden Thriller lesen möchte, wird ebenfalls bestens bedient. 

David Baldacci – (Amos Decker: 5) „Flashback“

Sonntag, 21. Mai 2023

(Heyne, 542 S., HC) 
Seit seinem von und mit Clint Eastwood verfilmten Romandebüt „Absolute Power“ aus dem Jahr 1996 hat sich der US-amerikanische Schriftsteller David Baldacci zu einem Bestseller-Autor etabliert, der mittlerweile eine ganze Reihe von erfolgreichen Thriller-Serien veröffentlicht hat. Unter den jüngeren Roman-Reihen entwickelt sich neben den ebenfalls bei Heyne erscheinenden Reihen um John Puller und Atlee Pine vor allem diejenige um den sogenannten „Memory Man“ zu einem verlässlichen Bestseller-Garanten. 
Amos Decker leidet seit seinem 22. Lebensjahr nach einem schweren Zusammenstoß auf dem Football-Feld nicht nur unter Synästhesie (was ihn Empfindungen mit bestimmten Farben in Verbindung bringen lässt), sondern auch unter Hyperthymesie, einem nahezu fast perfekten Gedächtnis, was für ihn Fluch und Segen zugleich ist. 
Während diese durch die schwere Hirnverletzung hervorgerufene Fähigkeit in seinem Job als Cop und Berater für das FBI von unschätzbarem Wert ist, kann der Mittvierziger auf der anderen Seite nicht vergessen, wie seine Tochter Molly, seine Frau Cassie und sein Schwager in seinem Haus in Burlington brutal ermordet worden sind, wofür Decker sich nach all den Jahren noch immer die Schuld gibt. Am 14. Geburtstag seiner Tochter reist Decker zusammen mit seiner Partnerin, der FBI-Beamtin Alex Jamison nach Burlington, Ohio, um am Grab seiner Liebsten zu trauern. Auf dem Friedhof wird er von einem ausgezehrten alten Mann namens Meryl Hawkins angesprochen. Er wurde des Mordes an dem Kreditberater Donald Richards, dessen beiden Kindern und dem Restaurantbetreiber David Katz für schuldig gesprochen, nachdem ihn ein Fingerabdruck auf einem Lichtschalter und DNA-Spuren unter den Fingernägeln von Richards‘ Tochter Abigail überführt hatten. 
Es war einer der ersten Fälle für die jungen Detectives Amos Decker und seiner Partnerin, der immer noch in Burlington lebenden Mary Lancaster. Nun behauptet der wegen seiner tödlichen Krebserkrankung vorzeitig entlassene Hawkins, dass er unschuldig gewesen sei, und bittet Decker darum, seinen Namen reinzuwaschen. Doch als Decker den Mann später in seinem Hotel aufsucht, findet er ihn erschossen in seinem Zimmer vor. Als Tatverdächtige gerät zunächst Susan Richards in Betracht, die Witwe des ermordeten Bankers, doch sie verschwindet wenig später spurlos. 
Offenbar scheint mehr an Hawkins‘ Behauptung dran zu sein als zunächst gedacht. Während Jamison mit einem neuen Fall für das FBI beauftragt wird, bleibt Decker in seiner alten Heimatstadt und versucht mit seiner früheren Partnerin Mary und seinem Freund Melvin Mars den alten Fall neu aufzurollen. Doch ein versierter Auftragskiller mit auffälligen Tätowierungen eliminiert sukzessive jeden möglichen Zeugen, der Licht in die damaligen Vorfälle bringen könnte. Außerdem sind Polizeichef Childress und Detective Natty alles andere als begeistert von Deckers Ermittlungen in ihrem Bezirk. 
„Dass Childress ihm nun auch noch im Nacken saß, würde es ihm noch schwerer machen, den Fall aufzuklären. Als wäre es nicht schon schwierig genug. (…) Deckers Gedächtnis war ein machtvolles Werkzeug, das ihm in vielen Situationen die Arbeit erleichterte. Zugleich aber war es ein Kerker, aus dem es kein Entkommen gab.“ (S. 180) 
„Flashback“ ist nach „Memory Man“, „Last Mile“, „Exekution“ und „Downfall“ bereits der fünfte Roman in der Reihe um Amos Decker, den Memory Man, und es lassen sich zum Glück noch keine Abnutzungserscheinungen erkennen. Mit der Rückkehr an den Ort seines traumatischen Verlusts wird Amos Decker als Mann eingeführt, den die Vergangenheit und seine eigene Verantwortung für die tödlichen Vorfälle einfach nicht loslässt. 
Nachdem Decker in den vorangegangenen Fällen vor allem als diensteifriger und ambitionierter Ermittler ohne besondere empathische Fähigkeiten portraitiert worden ist, wirkt er in „Flashback“ von Beginn an einfühlsamer, was offenbar mit seinen von Übelkeit begleiteten Anfällen zusammenhängt, die Decker das Gefühl vermitteln, dass sein Gehirn allmählich die außergewöhnlichen Fähigkeiten verliert. Gerade in den Befragungen von Zeugen und in den Gesprächen mit der an frühzeitiger Demenz erkrankten Mary Lancaster zeigt sich Deckers neues Wesen, was dem Roman spürbar guttut. 
Doch vor allem sorgt die für einige Beteiligte tödliche Auseinandersetzung mit Hawkins‘ Fall für packende Unterhaltung, denn Decker und seine Mitstreiter müssen sehr ausgiebig verschiedenen Spuren folgen, Aussagen bewerten und natürlich lebensgefährliche Situationen überstehen. 
Baldacci erweist sich als mit leichter Sprache hantierender, routinierter Thriller-Autor, der einen komplexen Plot mit interessanten Figuren entwickelt hat, die für die eine oder andere Wendung und Überraschung gut sind. Auch wenn Baldacci vielleicht ein paar Haken zu viel schlägt und zum Finale etwas dick aufträgt, zählt „Flashback“ doch den besten Romanen der Memory-Man-Reihe.  

Robert Bloch – „Psycho 2“

Samstag, 1. April 2023

(Heyne, 254 S., Tb.) 
Robert Bloch (1917-1994) hatte zwar schon 1947 angefangen, Romane zu veröffentlichen, aber erst die durch Alfred Hitchcock 1960 verfilmte Geschichte von „Psycho“ wurde Bloch weltberühmt, woraufhin er auch in Hollywood als Drehbuchautor hofiert wurde. So lieferte Bloch die Vorlagen für Filme wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“ (1961), „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ (1966), „Totentanz der Vampire“ (1969) und „Asylum“ (1972). Als die Frage nach einer Fortsetzung von Hitchcocks Spannungs-Klassiker konkreter thematisiert wurde, schrieb Bloch 1982 „Psycho 2“, der allerdings nicht die Vorlage für den gleichnamigen Film aus dem Jahr 1983 liefern sollte. 
Zwanzig Jahre nach den Vorfällen in Bates Motel hat Norman Bates in den Gesprächen mit Dr. Clairborne ein Verständnis dafür entwickelt, dass er nicht seine eigene Mutter, sondern eine Person für sich ist, und fühlt sich geheilt. Schließlich braucht er keine Zwangsjacke mehr, keine Gummizelle und keine Medikamente zur Ruhigstellung. Als Bibliothekar kann er sich in dem Sanatorium sogar recht frei bewegen. Als er Besuch von der Nonne Schwester Barbara erhält, die am College Psychologie studiert hat und sich für den Fall interessiert, nutzt Bates die Chance zur Flucht, indem er erst Schwester Barbara außer Gefecht setzt und sich ihrer Kleidung bemächtigt, dann unterwegs auch ihre Begleiterin Schwester Cupertine mit einem Wagenheber erschlägt. 
Als Norman Bates‘ Flucht bemerkt wird, ist die Aufregung natürlich groß. Während er nach Fairvale unterwegs ist, um sich an Mary Cranes Schwester Lila und ihrem Mann Sam Loomis zu rächen, die erst für die Enthüllung der Morde an Mary Crane und den Detektiv Arbogast gesorgt haben, plant Hollywood-Produzent Marty Driscoll mit „Verrückte Lady“ gerade eine Verfilmung von Norman Bates‘ Geschichte. Als die Filmemacher von Norman Bates‘ Flucht erfahren, droht das Projekt zunächst zu platzen, doch gerade die für die Rolle der Mary Crane vorgesehene Jan Harper sieht in dem Film die letzte Chance, ihre Karriere noch voranzubringen, und setzt sich erfolgreich für die Fortsetzung der Planungen ein, schließlich sorgt die Flucht von Norman Bates für zusätzliche Werbung für den Film. Dr. Clairborne soll als fachlicher Berater fungieren und das Drehbuch von Roy Ames auf Herz und Nieren prüfen. Doch Clairbornes Bedenken wegen der Gewaltverherrlichung werden nicht besonders ernst genommen, denn Sex und Gewalt locken nun mal das Publikum in die Kinos. 
Vor allem Regisseur Santo Vizzini will sich nicht auf die Reduzierung der Gewaltdarstellung einlassen, doch als sich merkwürdige Ereignisse auf dem Studiogelände häufen, werden alle Beteiligten etwas nervös… 
„,Verrückte Lady‘ würde ein Triumph werden, denn der Streifen würde die Wirklichkeit zeigen, beinahe so echt wie der Kokain-Film. Es war das Dokumentarische, worauf es ankam. Driscoll verstand das nicht; das einzige, was ihn interessierte, war Geld. Für ihn war der Bankauszug wichtig, aber für den kreativen Künstler war nur der Film von Bedeutung. Die nackte, ungeschminkte Wahrheit in einer Welt, in der die Frauen ihr schmutziges Geheimnis unter den Röcken verbergen. Man musste ein Mann sein wie er selbst, ein Mann wie Norman, um dieses Geheimnis zu enthüllen, um das Böse zu entlarven und zu bestrafen.“ (S. 218) 
Dass die Universal Studios kein großes Interesse an der Verfilmung von Robert Blochs Romanfortsetzung von „Psycho“ zeigten, lässt sich nur zu gut nachvollziehen. Zunächst spielt Norman Bates in dem Roman „Psycho 2“ nur in den ersten Kapiteln eine tragende Rolle, dann verschwindet er vollkommen in der Versenkung, während sich die Handlung nach Norman Bates‘ Flucht aus der Nervenheilanstalt ganz auf die geplante Hollywood-Produktion konzentriert. Hier kommen nicht nur Robert Blochs intimen Kenntnisse der Filmproduktion zum Tragen, sondern auch sein Faible für psychologisch fundierte Charakterisierungen, die stellvertretend für den Autor der Psychiater Dr. Clairborne und später auch sein Chef Dr. Steiner vornehmen. 
Doch im Gegensatz zu „Psycho“ gelingt es der Fortsetzung nicht, die interessante Ausgangssituation durch Norman Bates‘ Flucht, die mit dem Start der Filmproduktion über sein Leben zusammenfällt, bis zum Finale dramaturgisch packend weiterzuführen. Stattdessen geht Bloch mit der Prämisse von Sex und Gewalt in Hollywood-Produktionen hart ins Gericht, was Universal ein weiterer Dorn im Auge gewesen sein dürfte, um ein eigenes Drehbuch für die Fortsetzung von „Psycho“ in Auftrag zu geben und Robert Bloch bei den Filmvorbereitungen außen vor zu lassen und ihn nicht zu einer Vorführung einzuladen. 
So interessant die Einblicke in die Prozesse und Motivationen hinter einer Filmproduktion auch sind, kommt bei „Psycho 2“ einfach keine Spannung auf. Gerade der psychologisch arg konstruiert wirkende Schluss verleiht dem Roman seinen Todesstoß.