(Heyne, 638 S., Pb.)
Seit Dan Simmons seinen Beruf als Grundschullehrer aufgegeben und 1985 mit „Song of Kali“ seinen ersten Roman veröffentlicht hat, bewegt er sich souverän zwischen den Genres, schreibt Horror- und Psycho-Thriller ebenso wie rasante Detektiv-Thriller und vor allem Science-Fiction-Epen, wofür er gerade zu Anfang seiner Karriere mit etlichen renommierten Preisen wie dem World Fantasy Award, Locus Award, Bram Stoker Award, Hugo Award und British Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Seit 2007 hat Simmons mit „Terror“, „Drood“ und „Der Berg“ vor allem epische Historien-Abenteuer veröffentlicht, dazwischen aber mit „Flashback“ (2011) auch wieder einen Science-Fiction-Roman.
In den 2030er Jahren steht die Welt vor dem wirtschaftlichen Kollaps. In den einst so mächtigen USA setzt der als Weltkalifat bezeichnete Islam seinen Expansionskurs durch die Welt fort, nachdem er sich bereits einen Großteil Europas einverleibt und Israel mit einem atomaren Angriff ausgelöscht hat. Aber auch die Reconquista und einflussreiche japanische Millionäre ringen um die Macht in den wirtschaftlich wie politisch und sozial zerrütteten USA.
Die Bevölkerung ist weitgehend von der „Flashback“-Droge abhängig, die es den Konsumenten ermöglicht, wieder und wieder die schönsten Stunden ihres Lebens nachzuempfinden. Davon macht auch der ehemalige Detective des Denver Police Department, Nick Bottom, Gebrauch, um den Verlust seiner vor fünf Jahren bei einem Autounfall getöteten Frau Dara zu verarbeiten. Allerdings hat er sich durch dieses Verhalten sowohl von seinem Sohn Val entfremdet als auch von seinem in Los Angeles lebenden Vater, den emeritierten Philosophieprofessor George Leonard Fox, bei dem Val seit dem Tod seiner Mutter lebt. Vor allem um seine durch exzessiven Flashback-Konsum in die Höhe geschossenen Schulden zu begleichen, nimmt Bottom einen Job als Privatermittler für den einflussreichen japanischen Diplomaten Hiroshi Nakamura an.
Zwar gelang es Bottom schon vor sechs Jahren nicht, mit seiner Mannschaft beim DPD den Mord an Nakamuras Sohn Keigo aufzuklären, aber Nakamura will endlich Gewissheit haben und lässt Bottom von seinem Sicherheitschef Hideko Sato begleiten, der – wie Bottom schnell herausfindet – ebenfalls auf der Party anwesend war, in deren Verlauf Keigo Nakamura getötet worden ist. Während sein Vater auf Flashback noch einmal die alten Ermittlungsakten und die von Sato bereitgestellten Kameraaufnahmen durchgeht, plant Val mit seiner Gang in Los Angeles ein Attentat auf den japanischen Berater Daichi Omura. Dass sein Großvater zufällig direkt nach dem geplanten Anschlag mit Val Kalifornien nach einer Terrorwarnung verlassen und nach Denver gehen will, passt ihm gut in den Kram. Doch der angedachten Familienzusammenführung steht noch einiges im Weg. Vor allem ist Nick nach der überraschenden Entdeckung, dass seine Frau, die als Assistentin von Staatsanwalt Harvey Cohen vor sechs Jahren ebenfalls in der Nähe des Mord-Tatorts gesehen worden ist, dabei, eine große Verschwörung aufzudecken, doch der Weg zur Erkenntnis aller Zusammenhänge gestaltet sich steinig…
„Was jetzt? Er war sicher, dass er alle Fakten kannte, die er für die Klärung dieses Verbrechens benötigte, doch selbst die gottverdammten Fakten schienen immer wieder zu verschwimmen und sich zu verschieben. Nick kam sich vor wie ein blinder Künstler mit einem Haufen Murmeln. Im Wesentlichen war er nicht weiter als sein Team von Ermittlern vor sechs Jahren, das damals zu dem Schluss gelangte, dass Keigo und nebenbei auch seine Freundin Keli Bracque möglicherweise von einem der Zeugen ermordet worden waren.“ (S. 541)
Dan Simmons, der mit der „Hyperion“-Tetralogie und epischen Werken wie „Ilium“ und „Olympos“ seinen Stempel in der Science-Fiction-Literatur hinterlassen hat, gelingt auch mit seinem hierzulande vorletzten veröffentlichen Roman ein großer Wurf, der einen pessimistischen Blick in eine nicht allzu ferne Zukunft präsentiert. Demnach stehen sich nicht die beiden Weltmächte USA und Russland als Endgegner gegenüber, sondern das islamische Weltkalifat und Japan, wobei die immensen Kosten für das Sozialsystem als Verursacher für den Niedergang der USA ausgemacht werden.
Aus dieser Konstellation entwickelt Simmons einen packenden und vielschichtigen Thriller-Plot, der spannende Fragen zur politischen Lage in der Welt, zur Verwirklichung von Allmachtsphantasien, Korruption und Eskapismus in einer nicht mehr lebenswert erscheinenden Welt erörtert.
Darüber hinaus stellt „Flashback“ aber auch eine tiefgründige Familiengeschichte dar, in der sich Vater und Sohn nach ihrer Entfremdung zwangsläufig wieder annähern müssen. So provokativ einige von Simmons‘ Thesen in „Flashback“ auch ausfallen, lohnt sich eine nähere Auseinandersetzung mit ihnen auf jeden Fall. Und wer einfach nur einen spannenden Thriller lesen möchte, wird ebenfalls bestens bedient.
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