(Luzifer Verlag, 582 S., HC)
Nach seinem 1978 veröffentlichten Debüt „Baal“ avancierte der 1952 geborene US-amerikanische Schriftsteller Robert R. McCammon in den 1980er Jahren mit Romanen wie „Bethany’s Sin“ (dt. „Höllenritt“), „The Night Boat“ (dt. „Tauchstation“), „They Thirst“ (dt. „Blutdurstig“), „Usher’s Passing“ (dt. „Das Haus Usher“) und „Swan Song“ (dt. „Nach dem Ende der Welt“) nach Stephen King, Peter Straub, Clive Barker und Dean Koontz zu einem der interessantesten Horror-Autoren, doch sorgte offenbar ein Zerwürfnis mit seinem damaligen Verleger über die von McCammon gewünschte Ausweitung seiner Genre-Vorlieben für eine zehnjährige Schaffenspause.
Zuvor erschien 1991 mit „Boy’s Life“ einer der besten Romane des Schriftstellers. Nachdem Knaur den Titel 1992 im Taschenbuch als „Unschuld und Unheil“ erstveröffentlicht und Area 2004 eine günstige Hardcover-Ausgabe nachgeschoben hatte, legte der Luzifer Verlag 2020 eine broschierte Neuauflage mit dem Originaltitel „Boy’s Life“ nach.
Der zwölfjährige Cory Jay Mackenson lebt 1964 in der Kleinstadt Zephyr im Süden Alabamas. Wenn er nicht gerade mit seinen Freunden Johnny Wilson, Davy Ray Callan und Ben Sears abhängt, vergnügt er sich mit Superhelden-Comics und Magazinen wie „Berühmte Monster der Filmgeschichte“, „Screen Thrills“, „National Geographics“ und „Popular Mechanics“. Eines Märzmorgens begleitet Cory seinen Vater auf dessen Milchtour, auf die er auch Kunden südlich in der Nähe von Saxon’s Lake beliefert. Als sie am Park vorbei aus Zephyr hinaus in den Wald fahren, als plötzlich ein Auto aus der bewaldeten Kurve auf sie zufährt, von der Route Ten abkommt, die Böschung hinunterfährt und in den tiefen See stürzt. Sein Vater will den Fahrer retten, kann aber nur noch registrieren, dass dieser bereits tot war, splitternackt, mit ans Lenkrad gefesselten Händen und einer Tätowierung mit einem Totenkopf mit nach hinten zeigenden Flügeln auf der Schulter, bevor der Wagen für immer auf den Grund des Sees sinkt. Als Sheriff Amory mit den Ermittlungen beginnt, wird die Identität des unbekannten Toten nicht gelüftet.
Der einzige weitere Hinweis auf die Tat stellt eine grüne Feder dar, die Cory unter seinem Schuh entdeckt, und eine Gestalt, die der Junge am Waldrand gesehen hat. Während sein Vater fortan von nächtlichen Alpträumen heimgesucht wird, verbringt Cory die nachfolgenden Sommerferien vor allem damit, das Geheimnis um die Feder und den vielleicht sogar aus Zephyr stammenden Mörder zu ergründen. Dabei macht Cory auch die Bekanntschaft der übersinnlich begabten Lady, die Corys Vater schließlich den vielleicht entscheidenden Tipp gibt.
Cory verfügt nicht nur über eine blühende Fantasie, sondern auch ein enormes Ausdrucksvermögen, so dass er seine Erlebnisse in eine Geschichte einfließen lässt, die nicht nur einen Preis beim jährlichen Literaturwettbewerb der Stadt gewinnt, sondern auch dem Mörder signalisiert, dass Cory vielleicht mehr gesehen hat, als seine Geschichte andeutet. Als im Herbst noch immer keine Spur zu dem Mörder zu führen scheint, macht Cory zunehmend beunruhigende Entdeckungen…
„Was ich in der stillen Oktoberluft spürte, wenn Halloween näher rückte, waren nicht die Spukgestalten aus Plastik, sondern gigantische, mysteriöse Kräfte, die am Werk waren. Diese Kräfte konnte man nicht benennen. Man konnte sie weder als kopflosen Reiter, heulenden Werwolf noch grinsenden Vampir bezeichnen. Diese Kräfte waren so uralt wie die Welt und das Gute oder Böse in ihnen so rein und unverfälscht wie die Naturelemente. Statt Monster unter meinem Bett zu sehen, sah ich die Armeen der Nacht ihre Schwerter und Äxte für einen Kampf in Nebelschwaden schärfen.“
In der langen Aufzählung seiner Danksagung erwähnt Robert R. McCammon so unterschiedliche Einflüsse wie die Produktionen der Hammer Film Studios und ihre Stars Peter Cushing und Christopher Lee, aber auch Edgar Allan Poe, Edgar Rice Burroughs, Roger Corman, James Bond, Hans Christian Andersen, Vincent Price und nicht zuletzt Ray Bradbury, der in seinen Romanen und Erzählungen wohl am eindrücklichsten seine ausgeprägte Fabulierkunst dazu nutzte, um den Zauber und die Magie kindlicher Vorstellungskraft zu beschreiben.
In „Boy’s Life“ macht der Ich-Erzähler Cory Mackenson gleich zu Beginn klar, dass der 1500-Seelen-Ort Zephyr voller Magie sei, und obwohl ebenfalls schnell der Mord an dem Mann in den Fokus rückt, der nackt, ans Lenkrad gefesselt und bereits ermordet mit seinem Auto für immer im Saxon’s Lake versinkt, dreht es sich bei dem epischen Roman nicht nur um „Die Suche nach einem Mörder“, wie der Untertitel andeutet, sondern um eine tiefgründige Coming-of-Age-Geschichte, in der der junge Protagonist viel zu schnell mit den Schrecken des Todes konfrontiert wird, aber auch die Magie von Urzeitmonstern und rasenden Fahrrädern kennenlernt.
McCammon erzeugt mit seiner bildgewaltigen Sprache einen magischen Sog, entwickelt ein Gespür für interessante Figuren und lässt seinen kindlichen Helden ganz gewöhnliche, aber auch ebenso besondere Abenteuer erleben, bis er mit hartnäckig ausgeprägter Sherlock-Holmes-Logik dem Mörder auf die Spur kommt. In der packenden Mischung aus Entwicklungs-, Mystery- und Kriminalroman hat Robert R. McCammon Anfang der 1990er Jahre ein großartiges literarisches Werk kreiert, das locker in einem Atemzug mit Stephen Kings „Es“ und Dan Simmons‘ „Sommer der Nacht“ genannt werden muss.
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