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Cormac McCarthy – „Land der Freien“

Donnerstag, 26. Dezember 2019

(Rowohlt, 334 S., Tb.)
John Grady arbeitet als junger Cowboy auf einer Ranch in New Mexico und hat sich dort mit dem etwas älteren Billy Parham angefreundet. Der Umgang mit den Pferden macht ihnen Spaß, obwohl die Arbeit ebenso hart wie unspektakulär ist. Abwechslung bringen nur die Ausflüge ins nahegelegene El Paso oder über die Grenze nach Ciudad Juárez, wo sie sich in den Kneipen und Bordellen vergnügen. Erst als John Grady in einer der Kneipen die Hure Magdalena entdeckt und sich in sie verliebt, gerät sein geordnetes Leben ins Wanken. Obwohl er von ihren epileptischen Anfällen weiß und später erfährt, dass sie den Zuhälter Eduardo heiraten soll, bringt ihn nichts davon ab, mit ihr zusammen sein zu wollen.
Zunächst versucht er es noch auf die diplomatische Tour und schickt Billy vor, die Bedingungen mit Eduardo auszuhandeln, doch der hat nicht vor, Magdalena ziehen zu lassen. Das verliebte Paar fasst einen waghalsigen Plan, will mit gefälschten Papieren fliehen und heimlich heiraten, doch das Vorhaben wird verraten – mit tragischen Konsequenzen für alle Beteiligten …
„Er wusste, dass uns das, was wir unbedingt in unserem Herzen bewahren möchten, oft genommen wird, während das, was wir loswerden wollen, durch ebendiesen Wunsch oft ein unerwartetes Beharrungsvermögen zu gewinnen scheint. Er wusste, wie zerbrechlich die Erinnerung an einen geliebten Menschen ist. Wie wir die Augen schließen und mit ihm sprechen. Wie wir uns danach sehnen, noch einmal seine Stimme zu hören, und wie diese Stimme und die Erinnerung schwach und schwächer werden, bis das, was einst Fleisch und Blut war, nurmehr Nachhall und Schatten ist.“ (S. 220) 
Mit „Land der Freien“ hat Cormac McCarthy seine 1992 mit „All the Pretty Horses“ (dt. „All die schönen Pferde“, 1993) begonnene und 1994 mit „The Crossing“ (dt. „Grenzgänger“, 1995) fortgesetzte Border-Trilogie beendet und die Schicksale seiner beiden Protagonisten John Grady Cole und Billy Parham zusammengeführt. Während John Grady Cole im Jahre 1949 als Sechszehnjähriger aufbrach, mit seinem Freund Lacey Rawlins von Texas nach Mexiko zu reiten, um dort das Leben in vermeintlicher Freiheit zu genießen und sich mit dem Wesen von Pferden anzufreunden, überquerte Billy Parham in „Grenzgänger“ bereits neun Jahre zuvor mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Boyd die Grenze, um die Mörder ihrer Eltern aufzuspüren, die sich auch noch die Pferde der Familie unter den Nagel gerissen haben. In „Land der Freien“ kreuzen sich nun die Wege der beiden jungen Männer, die auf ihren Reisen zwischen den Grenzstaaten der USA und Mexiko schreckliche Dinge erlebt, auf der Ranch in New Mexiko aber ihre Bestimmung gefunden haben. Es ist eine ebenso raue wie schöne Welt, die McCarthy wie gewohnt detailreich in seiner kargen, poetischen Prosa beschreibt, so ausführlich, dass der Leser wie hypnotisiert in die Szenerie hineingezogen wird. Allerdings wendet sich der Autor im weiteren Verlauf der Geschichte zunehmend seinen Figuren zu, vor allem John Grady, der sich unsterblich in eine junge Hure verliebt und alles bereit ist zu tun, um mit ihr zusammen sein zu können. Dabei ist jedem, der Zeuge der unglücklichen Konstellation wird, dass Magdalena einem anderen, weitaus mächtigeren und skrupelloseren Mann versprochen ist, sofort klar, dass diese unmögliche Liebe zwischen der Hure und ihrem jungen Verehrer ein böses Ende nehmen muss. Die finale Konfrontation zwischen John Grady und Eduardo beschreibt McCarthy wie einen tödlichen Tanz, bei dem die eingesetzten Messer unauslöschliche Wunden in die Körper und Seelen der beiden Kontrahenten hinterlassen.
Fünfzig Jahre später blickt Billy Parham auf die blutigen Ereignisse zurück und vertieft sich mit einem weisen alten Mann unter einer Autobahnbrücke in tiefgehende philosophische Betrachtungen, die McCarthys Selbstverständnis vom Leben im zunehmend zivilisierten Wilden Westen verdeutlichen, die romantischen Vorstellungen des Lesers mit Staub, Whisky und Blut beflecken.
Leseprobe Cormac McCarthy "Land der Freien"

Cormac McCarthy – „Grenzgänger“

Sonntag, 22. Dezember 2019

(Rowohlt, 448 S., Tb.)
Der 16-jährige Billy Perham und sein jüngerer Bruder Boyd wachsen im Grant County auf, von wo man noch auf direktem Weg nach Mexiko gelangen kann, ohne auf einen Zaun zu stoßen. Zusammen mit seinem Vater unternimmt Billy regelmäßig Jagdausflüge und stellt Fallen für die Wölfe aus, die ihre Viehherde bedrohen. Als Billy eines Tages eine trächtige Wölfin aus der Falle befreit, will er sie allein zurück in die mexikanische Sierra bringen, wobei er unterwegs mit anderen Reisenden und Einwohnern aus der Gegend von Chihuahua ins Gespräch kommt.
Als er Monate später aber zur elterlichen Farm zurückkehrt, findet er sie verlassen vor: Die Eltern wurden ermordet, die Pferde gestohlen, sein Bruder ist bei Pflegeeltern untergekommen. Die beiden Brüder machen sich auf die Reise nach Mexiko, wo sie die Pferdediebe vermuten, wobei sich Boyd mit einem gleichaltrigen mexikanischen Mädchen in Mexiko niederlässt. Mit 21 Jahren unternimmt Billy seine nächste Reise nach Mexiko, diesmal, um seinen Bruder zu suchen, dessen sterbliche Überreste er zurück nach New Mexiko bringen will. Einmal mehr beschäftigt sich Billy mit der Frage nach seiner Heimat und Identität …
„Die Welt kann sich nicht verirren. Nur wir. Und weil diese Namen und Gradnetze von uns stammen, können sie uns nicht helfen. Können sie uns die Suche nach dem richtigen Weg nicht abnehmen. Dein Bruder ist dort, wo die Welt ihn haben wollte. Er ist an dem Platz, der für ihn bestimmt war. Zugleich hat er sich diesen Platz selber ausgewählt. Und so einen glücklichen Zufall sollte man nicht geringschätzen.“ (S. 408) 
Mit dem Auftakt seiner sogenannten „Border-Trilogie“, „All die schönen Pferde“, gelang Cormac McCarthy 1992 der internationale Durchbruch, zwei Jahre später legte er mit dem epischen „Grenzgänger“ auf imponierende Weise nach. Minutiös schildert der Pulitzer-Preisträger in seiner ebenso archaischen wie poetischen Sprache die Mühsal des Lebens auf einer Ranch, wo Wölfe die Lebensgrundlage der Menschen bedrohen. Doch statt den ausgemachten und endlich gefangenen Übeltäter zu töten, erbarmt sich der 16-jährige Romanheld der trächtigen und geschundenen Wölfin und unternimmt mit ihr eine abenteuerliche Reise voller lebensbedrohlicher Gefahren, wobei sich Billy auch deshalb so um das Wohl der Wölfin bemüht, weil er sie für eine Botin aus einer anderen Welt betrachtet, in der die Natur nach eigenen Gesetzen funktioniert.
Immer wieder bringt McCarthy Gegensätze zusammen, Wildnis und Zivilisation, Gewalt und Güte, Einsamkeit und Geselligkeit, Mordlust und Vergebung, Hoffnung und Verzweiflung, Heimat und die Fremde. Es ist nichts Glorifizierendes, das der Autor zum Western-Genre beizutragen hat. Stattdessen beschreibt er eindrucksvoll die kleinen und großen Gesten, die den Unterschied zwischen Gut und Böse ausmachen.
Neben den fast schon manieristisch detaillierten Beschreibungen der Alltagsszenen, der Reisen und gefahrvollen Aufeinandertreffen mit Dieben und Mördern webt McCarthy aber immer wieder betörend eindringliche, mit lakonisch humorvollen Akzenten versehene Dialoge ein, die oft leider im spanischen Original belassen werden, so dass sich für den Leser der Sinn nur aus dem Kontext erschließt.
Wie brutal die Welt letztlich ist, stellt Billy am Ende seiner ersten Reise nach Mexiko fest, als er auf die verlassene Ranch seiner Familie zurückkehrt. Statt jedoch zu verzweifeln, macht sich Billy immer wieder auf den schicksalhaften Weg zu den Verursachern des Unglücks und wird dabei selbst mit den unterschiedlichsten Empfindungen konfrontiert. Wie McCarthy all diese Gegensätze zu großer Literatur vereint, ist nicht unbedingt leichtverdauliches Pageturner-Futter, bleibt aber nachhaltig in der Vorstellungskraft des Lesers haften.
Leseprobe Cormac McCarthy "Die Border-Trilogie"

Cormac McCarthy – „All die schönen Pferde“

Donnerstag, 21. November 2019

(Rowohlt, 334 S., Tb.)
Die beiden jungen Männer John Grady Cole und Lacey Rawlins haben genug vom eintönigen Leben als Viehtreiber in New Mexico und träumen von großen Abenteuern. Nachdem Grady bei seinem Großvater auf dessen Ranch im texanischen San Angelo aufgewachsen war, hält den Sechszehnjährigen nichts mehr dort, als der alte Mann 1949 stirbt. Zusammen mit ihren Pferden hoffen sie jenseits der Grenze in Mexiko ihr Glück zu finden und werden unterwegs vom dreizehnjährigen Jimmy Blevins ergänzt, der offensichtlich auf einem Pferd reitet, das ihm nicht gehört, und zudem eine Waffe trägt, die ihm aber während eines Gewitters gestohlen wird. Tatsächlich finden sie in der Nähe von Coahuila Arbeit auf einer mexikanischen Hacienda, wo sich der reiche Pferdezüchter schnell beeindruckt von Gradys Pferdekenntnissen und seiner Fähigkeit zeigt, Wildpferde zuzureiten.
Doch das Glück der angebotenen Festanstellung hält nicht lange an: Grady verliebt sich in die hübsche Tochter des Patrons und beginnt eine heimliche Liebesaffäre mit Alejandra, die allerdings nicht lange geheim bleibt. Vor allem Alejandras dem unspektakulären Leben auf dem Lande nach Mexiko City entflohene Mutter interveniert und untersagt ihrer Tochter jeden weiteren Umgang mit dem unterprivilegierten Jungen, den sie zu bestechen versucht. Als währenddessen Blevins beim Versuch, seine Pistole zurückzubekommen, einen Mann tötet, festgenommen wird und beim Verhör die Namen seiner beiden vermeintlichen Komplizen verrät, dauert es nicht lange, bis auch Rawlins und Grady verhaftet werden und eine harte Zeit in einem mexikanischen Gefängnis verbringen müssen, wo sie gequält und zusammengeschlagen werden.
„Er erinnerte sich an Alejandra und an die Traurigkeit, die er von Anfang an in ihren geneigten Schultern gesehen und zu verstehen gemeint hatte, obwohl er doch gar nichts von ihr wusste, und er empfand eine Einsamkeit wie seit seiner Kindheit nicht mehr. Er fühlte sich gänzlich fremd in dieser Welt, auch wenn er sie immer noch liebte. Er fand, in der Schönheit der Welt lag ein Geheimnis verborgen. Er fand, der Herzschlag der Welt hatte einen furchtbar hohen Preis.“ (S. 312) 
Zwischen 1965 und 1985 veröffentlichte der aus Rhode Island, Providence, stammende Schriftsteller Cormac McCarthy gerade mal fünf Romane (darunter „Ein Kind Gottes“ und „Die Abendröte im Westen“), doch erst mit dem 1992 erschienenen Werk „All the Pretty Horses“ gelang McCarthy der Durchbruch, der mit der Platzierung auf Bestseller-Listen und der Auszeichnung mit dem National Book Award einherging. Dabei ist „All die schönen Pferde“ – im Jahre 2000 auch erfolgreich von Billy Bob Thornton mit Matt Damon und Penelope Cruz in den Hauptrollen verfilmt – alles andere als leichtverdauliches romantisches Western-Abenteuer.
Zwar greift McCarthy verschiedene Mythen und Träume von Freiheit und einem Leben in Abenteuer auf, doch nimmt er sich viel Zeit, die unwirtlichen Umstände zu beschreiben, unter denen die beiden jugendlichen Freunde Richtung Mexiko losziehen. Auf ihrem Roadtrip zu Pferde machen sie die unterschiedlichsten Bekanntschaften, von denen ausgerechnet die mit dem gerade mal 13-jährigen Blevins tragische Konsequenzen nach sich zieht. Zu dem dramatischen Verlauf trägt aber natürlich auch die unmögliche Liebe zwischen dem reichen Mädchen und dem mittellosen Abenteurer bei, die vorhersehbaren Zügen folgt.
Der Mythos vom Reisen durch unentdeckte Landstriche bekommt durch schicksalhafte Begegnungen zunehmend tiefere Risse, findet die romantische Liebe letztlich keine Erfüllung. McCarthy beschreibt diese Odyssee in einer unvergleichlichen Sprache, die die karge Landschaft und die wilden Pferde zum Leben erweckt, wobei die teils wunderschönen Dialoge mitten ins Herz gehen.
„All die schönen Pferde“ ist der Auftakt der sogenannten „Border-Trilogie“, zu der noch „Grenzgänger“ (1994) und „Land der Freien“ (1998) zählen.
Leseprobe Cormac McCarthy "Die Border-Trilogie"

Stewart O’Nan – „Henry persönlich“

Dienstag, 15. Oktober 2019

(Rowohlt, 480 S., HC)
Henry Maxwell, der seinen Namen einem im Ersten Weltkrieg gefallenen Geistlichen verdankt, dem ein Buntglasfenster in der Calvary Episcopal Church gewidmet ist, steht kurz vor seinem 75. Geburtstag und der Goldenen Hochzeit mit seiner fünf Jahre jüngeren Frau Emily. Gemeinsam verbringen sie in ihrem Haus in Pittsburgh ihren gleichförmigen Alltag, zu dem Spaziergänge mit ihrem Hund Rufus und Reparaturarbeiten rund ums Haus gehören. Zum Valentinstag entführt Henry seine Frau gern in ihr Lieblingsrestaurant, freut sich, wenn er Rabattmarken beim Kauf von Spülmittel einlösen kann, ärgert sich aber auch, wenn er glaubt, beim Weihnachtsbaumkauf über den Tisch gezogen worden zu sein, weil er für einen Baum mit weichen Nadeln mehr bezahlen musste als für einen mit harten.
Während Emily die Kontakte zu Nachbarn und Freunden aufrechterhält und so Henry stets mit neuesten Informationen versorgen kann, geht Henry mit seinen alten Freunden aus dem Labor Golfen, engagiert sich im Kirchenvorstand und sieht sich die Spiele seine Lieblings-Football-Mannschaft regelmäßig im Fernsehen an. Da Kinder und Enkel weit weg wohnen, treffen sie sich nur zu den Feiertagen in ihrem Ferienhaus in Chautauqua.
Am meisten Sorgen bereitet ihm die mit dem Alter zunehmenden Gebrechen, die er immer öfter vor Emily geheim hält. Dass sein Arzt Dr. Runco, der in Henrys Alter gewesen ist und ihn am Leben erhalten hat, vor ihm stirbt, macht ihn besorgt, aber auch seine Tochter Margaret, die zu Alkoholexzessen neigt und glaubt, ihr Mann Jeff betrügt sie mit einer Jüngeren, bereitet ihm und seiner Frau immer wieder Kummer.
 „Er brauchte länger als nötig, um sich zu erinnern, was er gerade tat und warum. Ein Leben lang hatte er Zeitpläne und Fristen gehandhabt, da war es nur natürlich, dass er sich als träge empfand und ihm ein konkretes Ziel fehlte. Er hätte gern geglaubt, dass es bloß Tagträume waren, doch die Leere, die sich auf ihn herabsenkte, hatte etwas Zermürbendes.“ (S. 303) 
2011 veröffentlichte der Pittsburgh geborene und lebende Schriftsteller Stewart O’Nan („Abschied von Chautauqua“, „Westlich des Sunset“) mit „Emily, allein“ das einfühlsame Portrait einer achtzigjährigen Frau, die seit Jahren verwitwet ist und nach dem Zusammenbruch ihrer Schwägerin Arlene ihrem Leben eine neue Richtung zu geben versucht. Mit „Henry persönlich“ dreht O’Nan die Zeit um gut zehn Jahre zurück und konzentriert sich in der Ehe von Henry und Emily Maxwell auf den noch lebenden Henry, natürlich mit ständigem Bezug auf Emily, die er immer an seiner Seite weiß. O’Nan beschreibt kurz die Kindheit seines Protagonisten, seine Schwärmerei für seine Klavierlehrerin und seine erste große Liebe zu Sloan, dann – nach dem Krieg – das Kennenlernen von Emily. Der Autor erweist sich wie gewohnt als sorgfältiger Chronist des Lebens ganz gewöhnlicher Mittelschichtsmenschen, die er nie be- und schon gar nicht verurteilt, sondern mit selbstverständlich wirkender Grund-Sympathie charakterisiert, indem er ihre Alltagsverrichtungen, Hobbys und Gedanken wiedergibt.
Wie „Emily, allein“ wartet auch „Henry persönlich“ mit keinen spannenden, dramatischen und wendungsreichen Höhepunkten auf, sondern widmet sich völlig unaufgeregt der Schilderung von Alltagsbetätigungen und familiären Sorgen, wie sie ganz gewöhnliche Menschen teilen. Natürlich bekommen die Gedanken im Alter eine andere Qualität, drehen sich zunehmend um die eigene Sterblichkeit, wobei jede plötzliche Verschlechterung des Allgemeinzustands kritisch beäugt wird. Doch das hält Henry nicht davon ab, sein Leben im Rahmen seiner Möglichkeiten zu genießen, wozu die Einladungen zum Essen zu besonderen Anlässen ebenso zählen wie das Golfspielen und die Familienzusammenkünfte in Chautauqua.
Auch wenn sich die Figuren in „Henry persönlich“ nicht nennenswert entwickeln und größere Dramen ausbleiben, gefällt der Roman als realistisches Portrait eines ganz gewöhnliches Mannes und bietet so enorm großes Identifikationspotenzial für seine Leserschaft.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Henry persönlich"

Stewart O’Nan – „Stadt der Geheimnisse“

Donnerstag, 21. Februar 2019

(Rowohlt, 220 S., HC)
Nicht nur seine Frau Katja und seine kleine Schwester Giggi, die gesamte Familie des lettischen Juden Brand ist im Holocaust umgekommen. Er selbst hatte Glück, war jung und konnte Motoren reparieren, hat die Internierung durch die Deutschen und Russen überlebt und landete Mitte der 1940er Jahre mit einem maltesischen Frachter in Palästina, wo er vom Untergrund aufgenommen, mit einem Taxi und neuen Papieren ausgestattet worden ist. In Jerusalem kutschiert er Touristen und führt sie zu den Sehenswürdigkeiten, dient aber auch der zionistischen Gruppe Hagana mit ihrer Untergrund-Armee Irgun im Kampf gegen die britische Mandatsregierung von Palästina für einen unabhängigen jüdischen Staat Israel.
Da die Tommys den meisten Holocaust-Überlebenden die Zuflucht verweigert, wehrt sich der zionistische Untergrund mit Sprengstoffanschlägen, für die Jossi in seinem Peugeot mit doppelbödigem Kofferraum die Waffen und Sprengstoffe schmuggelt. Dabei wird Jossi immer mehr gegen seinen Willen in einen neuen Krieg hineingezogen. Während er von Asher seine Instruktionen erhält, um einen Zug zu überfallen und dabei die Löhne der britischen Soldaten zu erbeuten, spioniert seine als Prostituierte arbeitende Freundin Eva im King David Hotel die Gäste aus. Dort findet Jossis Leben eine entscheidende Wendung.
„Die Lager hatten einen egoistischen, argwöhnischen Menschen aus ihm gemacht. Dass jetzt jemand Gutes über ihn dachte, war ihm unangenehm, weil er die Wahrheit kannte. Er war nach Jerusalem gekommen, um sich zu ändern, sich zu bessern. Als sei es ein Grund zur Hoffnung, dass Eva ihm ihr Kopftuch gab, dass Asher seinen Arm drückte. Nachdem er so lange ein Tier gewesen war, glaubte er nicht, je wieder ein Mensch sein zu können, doch wenn sie an ihn glaubten, war es vielleicht möglich.“ (S. 114) 
Es ist immer wieder erstaunlich, was für eine breite Palette an Sujets der amerikanische Schriftsteller Stewart O’Nan in seinen Romanen entwickelt. Während er in „Der Zirkusbrand“ das historische Feuer thematisierte, bei dem 1944 in O’Nans Heimatstadt Pittsburgh 167 Menschen ums Leben kamen, wandelte er in der Geistergeschichte „Halloween“ und in dem Roman „Speed Queen“ auf den Pfaden seines Freundes Stephen King, erzählte in „Die letzte Nacht“ von der Schließung eines kleinen Restaurants und in „Eine gute Ehefrau“ von einer schwangeren jungen Frau, die sich an ein neues Leben gewöhnen muss, als ihr Mann wegen eines Einbruchs mit Todesfolge ins Gefängnis muss. Nach dem epischen Generationenportrait „Der Abschied von Chautauqua“ und der Liebesgeschichten von F. Scott und Zelda Fitzgerald in „Westlich des Sunset“ arbeitet O’Nan in „Stadt der Geheimnisse“ den Bombenanschlag auf das King David Hotel vom 22. Juli 1946 in Jerusalem auf. Im Mittelpunkt des kurzen Romans steht der lettische Holocaust-Überlebende Jossi Brand, der auch in seiner neuen Wahlheimat nicht zur Ruhe kommt.
Immer wieder wird er von den Erinnerungen an seine getötete Frau Katja und den Verrat an seinen Mithäftlingen heimgesucht. Seine Mission, ein besserer Mensch zu werden, droht in den Attentaten, an denen er in dem zionistischen Untergrund mitwirkt, kläglich zu scheitern.
O’Nan überzeugt vor allem in der Schilderung der gesellschaftspolitischen Lage im Jerusalem der Nachkriegszeit und in der Charakterisierung seines Protagonisten. Die Qual der Erinnerungen, die verzweifelte Suche nach moralischer Integrität, die unerfüllte Sehnsucht nach Liebe werden so einfühlsam geschildert, dass Brand dem Leser durchaus ans Herz wächst. Auf der anderen Seite bleiben Brands Weggefährten, selbst seine Freundin Eva ungewöhnlich blass und konturlos. „Stadt der Geheimnisse“ gefällt als politischer Thriller, dem allerdings mehr an atmosphärischer Stimmigkeit als an Spannung gelegen ist, weshalb der Roman einen recht zwiespältigen Eindruck hinterlässt.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Stadt der Geheimnisse"

Jonathan Franzen – „Unschuld“

Dienstag, 29. Mai 2018

(Rowohlt, 830 S., HC)
Die junge Purity „Pip“ Tyler fühlt sich von ihren Studienschulden erdrückt, lebt in einem besetzten Haus in Oakland und hasst ihren Job bei Renewable Solutions, wo sie seit fast zwei als Telefonverkäuferin regelmäßig die wenigsten Kontaktpunkte erzielt und ebenso regelmäßig von dort aus mit ihrer Mutter Anabel telefoniert, die ihr partout nicht verraten will, wer Pips Vater ist.
Als ihre deutsche Mitbewohnerin Annagret ihr ein Praktikum bei der renommierten Enthüllungsplattform Sunlight Project des charismatischen Dissidenten Andreas Wolf vermittelt, reist sie tatsächlich nach Bolivien, weil sie hofft, durch die technischen Möglichkeiten des Projekts die Identität ihres Vaters herauszufinden.
Zwar grenzt sich Andreas Wolf mit dem Sunlight Project von Wikileaks ab, weil er bei seinen Enthüllungen einen moralischen Maßstab verwende, doch seine eigene Vita ist auch nicht frei von Verfehlungen: Der 1960 in der DDR geborene Sohn eines Politbüromitglieds hat nämlich mitgeholfen, den Stiefvater der damals 15-jährigen Annagret zu ermorden, und wird die Erinnerung an diese Tat nie los. Er schickt Pip schließlich zu seinem alten Freund Tom Aberant, dem Gründer und Chefredakteur des Denver Independent, wo sie ein Recherchepraktikum absolviert und eine Zeitlang auch in dem Haus ihres Chefs lebt.
Aberant war einer der ersten Journalisten, der den prominenten DDR-Dissidenten und Systemkritiker Andreas Wolf in Berlin interviewen durfte und sein Vertrauen soweit gewann, dass dieser ihm von seiner unrühmlichen Tat erzählte. Nachdem sich ihre Wege damals getrennt hatten, findet Andreas nun heraus, dass Puritys Mutter eine millionenschwere Erbin des Unternehmers McCaskill ist, aber nichts von dem Geld wissen will und auch ihrer Tochter nichts davon erzählt.
„Das Geld interessierte Andreas nur in dem Maße, als es ihm das Leben erleichtert hätte, etwas davon in die Hände zu bekommen. Aber es war nicht der Grund, warum er weiter durch die Fotos klickte, die er von Purity Tyler fand. Auch ihr Aussehen, obwohl ansprechend genug, erklärte nicht, warum er ein so mörderisches Verlangen nach ihr verspürte.“ (S. 737) 
Jonathan Franzen hat nach seinem Weltbestseller „Die Korrekturen“, der 2001 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, auch mit den nachfolgenden Schwergewichten „Die 27ste Stadt“, „Schweres Beben“ und „Freiheit“ vor allem vielschichtige Familienromane abgeliefert. Mit seinem neuen, wiederum mehr als 800 Seiten umfassenden Roman „Unschuld“ zelebriert der gefeierte amerikanische Romancier dagegen die Zersetzung von familiären Strukturen.
In gewohnt meisterhafter Manier portraitiert Franzen akribisch die schillernden Biografien seiner Figuren, führt über mehr als fünf Jahrzehnte die Fäden zwischen den Personen zusammen, springt zwischen den Zeiten ebenso hin und her wie zwischen Berlin, Bolivien, Texas, Kalifornien und New York, wobei viel von Reinheit – im amerikanischen Original heißt der Roman auch entsprechend wie seine sympathische Heldin „Purity“ – geschrieben wird, aber irgendwie jeder seine moralischen Unzulänglichkeiten mit sich herumschleppt.
Sex und Affären spielen dabei die offensichtlich wesentlichste Rolle, aber auch Spionage-Tätigkeiten, Verrat und Manipulation zählen zu den großen Themen, mit denen sich Franzens Figuren auseinandersetzen müssen. Der Autor nimmt sich viel Zeit für all die komplexen Charaktere, die früher oder später aufeinandertreffen, und beschreibt eindringlich, was das Leben in der DDR oder in den Zeiten der digitalen Revolution mit ihnen gemacht hat, wie die Beziehungen zu ihren Eltern und Geliebten sie geprägt und letztlich die gelegentlich verwerflichen Taten mitverantwortet haben. Trotz einiger Längen ist dieses Psychogramm des modernen gehetzten Menschen so spannend wie ein Thriller zu lesen, die Dialoge einfach filmreif gelungen. Zwar wirkt die harte Abrechnung mit dem DDR-Regime etwas überzogen und die Konstellation der Figuren zueinander etwas sehr konstruiert, aber Franzen erweist sich als brillanter Schöpfer glaubwürdig komplexer Charaktere, die jeweils ihren eigenen, schwierigen Weg finden, ihr Leben zu meistern.
 Leseprobe Jonathan Franzen - "Unschuld"

Cormac McCarthy – „Der Feldhüter“

Mittwoch, 21. März 2018

(Rowohlt, 287 S., Pb.)
Ende der Dreißigerjahre ist Kenneth Rattner als Anhalter nach Knoxville unterwegs. Als er an einer Tankstelle kurz vor Atlanta von dem Schnapsschmuggler Marion Sylder mitgenommen wird, endet die Zusammenkunft tödlich. Eine Reifenpanne will Rattner nutzen, seinen vermeintlichen Wohltäter mit dem Wagenheber zu erschlagen, doch Sylder kann den Mann in letzter Sekunde überwältigen, bringt ihn um und verscharrt die Leiche in der Mischgrube eines Gartens, ohne zu wissen, dass er dabei von Arthur Ownby, dem Hüter eines verwilderten Apfelhains beobachtet wird.
Als Sylder später ein Autounfall hat, rettet ihn ausgerechnet Rattners Sohn John Wesley aus der misslichen Lage, worauf die beiden eine Art Vater-Sohn-Beziehung eingehen, ohne zu ahnen, mit wem sie es eigentlich jeweils zu tun haben. Selbst als Sylder schließlich in den Knast wandert, bleibt ihm der Junge treu.
„Du willst so was wie ein verdammter Held sein. Tja, eins kann ich dir sagen, es gibt keine Helden mehr. Der Junge schien zu schrumpfen, lieg rot an. Verstehst du das?, sagte Sylder. Ich hab nie behauptet, dass ich ein Held sein will, sagte der Junge mürrisch. Niemand hat das je behauptet, sagte Sylder. Jedenfalls, ich hab nie was wegen dir gemacht, wie du sagst. Ich mach nichts, was ich nicht machen will.“ (S. 249) 
Der aus Knoxville, Tennessee, stammende Schriftsteller Cormac McCarthy hat sich nie um die Gesetze und Mechanismen des Buchmarktes gekümmert. In seinen alle paar Jahre veröffentlichten Romanen sucht der Leser vergeblich nach Anführungszeichen bei wörtlicher Rede, von der McCarthy so häufig und lebendig Gebrauch macht, dass sich seine Romane wie Filmdrehbücher lesen.
Über die Jahrzehnte wurde McCarthy mit dem Faulkner Award, dem American Academy Award, dem National Book Award, dem National Book Critics Circle Award und 2007 für seinen Roman „Die Straße“ mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Seither ist es leider sehr still um den großen amerikanischen Autor geworden, der sich in der Tradition von William Faulkner sieht, dessen legendärer Lektor Albert R. Erskine McCarthys Manuskript zu „The Orchard Keeper“ 1965 bei Random House veröffentlichte. Über fünfzig Jahre später erschien McCarthys Debüt mit dem Titel „Der Feldhüter“ erstmals auch in deutscher Sprache. Es ist eher ein zähes Vergnügen, das der damals 32-jährige McCarthy mit seinem literarischen Einstand dem Publikum bereitet. Denn trotz des Totschlags zu Beginn des Romans entwickelt sich kein ernstzunehmender Plot, der auf eine klassische Auflösung und Bestrafung des Täters hinausläuft. Stattdessen beschreibt der Autor wie in späteren Werken das (Über-)Leben am Rande der Gesellschaft.
Hier herrscht nicht nur Armut, Verzweiflung und Gewalt vor, sondern auch eine derbe Sprache, die McCarthy wie kaum ein anderer Autor authentisch wiederzugeben vermag. Daneben sind es vor allem seine charakteristischen, atmosphärisch dichten Naturbeschreibungen, die das Setting, in dem seine Romane angesiedelt sind, so lebendig werden lassen. Die (männlichen) Figuren in „Der Feldhüter“ sind äußerst lebendig beschrieben und gewinnen Gestalt durch die Verflechtungen von Erinnerungen und Erzählungen, die sich über verschiedene Zeitebenen miteinander verflechten, ebenso wie die Schicksale von Sylder, den beiden Rattner-Männern und Ownby unausweichlich aufeinander zusteuern.
Bei aller Dunkelheit und Trostlosigkeit bleiben McCarthys Figuren aber zutiefst menschlich. Besonders eindrucksvoll ist dem Autor dabei die Schilderung von Ownbys Verhaftung gelungen, der beim Abtransport in der Kutsche seinen geliebten alten Hund zurücklassen muss.
„Der Feldhüter“ ist sicherlich noch kein Meisterwerk, wie es McCarthy später mit „Verlorene“, „Ein Kind Gottes“ oder „Kein Land für alte Männer“ abliefern sollte, aber es führt den geneigten Leser ein in die Welt eines wahrhaftigen Sprachvirtuosen, der sein erzählerisches Talent noch entwickeln muss. 
Leseprobe CormacMcCarthy - "Der Feldhüter"

Cormac McCarthy – „Die Abendröte im Westen“

Samstag, 10. Februar 2018

(Rowohlt, 444 S., Pb.)
Im Jahr 1849 verlässt ein namenloser, ebenso blasser wie magerer Junge, dessen Mutter bei seiner Geburt vor vierzehn Jahren verstarb und dessen Vater vom ehemaligen Lehrer zum Dichter rezitierenden Trinker heruntergekommen ist, das Elternhaus und kehrt nicht mehr zurück. Mit seinem latenten Hang zu sinnloser Gewalt zieht er westwärts nach Memphis und dann weiter durch die pastorale, flache Landschaft nach Saint Louis und New Orleans. Er arbeitet in einem Sägewerk, in einer Quarantänestation für Diphtheriekranke und auf einer Farm, wo er sich seinen Lohn in Gestalt eines bejahrten Maultiers auszahlen lässt. Zunächst lässt er sich von der amerikanischen Armee anwerben, doch dann schließt er sich einer Gruppe von Freischärlern um den skrupellosen John J. Glanton an, die mit Freuden auf Skalpjagd gehen, die Ohren ihrer Opfer auf eine makabre Halskette aufreihen und dort schwarz verschrumpeln lassen.
Der mexikanisch-amerikanische Krieg fordert aber auch unter der Glanton-Bande zahlreiche Opfer. Am Ende zählen der Junge und der charismatische „Richter“ Holden zu den wenigen Überlebenden des Massakers. Der gebildete, große und komplett haarlose Richter hält sich für unsterblich und macht seinerseits Jagd auf den Jungen …
„Die ganze Nacht über brannten ihre Wachfeuer im finsteren Weltrund; der Junge löste den Revolverlauf, hielt ihn wie ein Fernrohr vors Auge, suchte die warme Sandkimmung vor dem Brunnen ab und forschte nach, ob sich bei den Feuern etwas rührte. Wohl keine Wüste ist so verlassen, dass nicht nachts irgendein Wesen einen Laut von sich gibt, aber hier war es so; umgeben von Dunkel und Kälte lauschten sie ihren Atemzügen, lauschten dem Schlag ihrer rubinfleischernen Herzen.“ (S. 371) 
Dass der ursprünglich 1985 veröffentlichte fünfte Roman von Cormac McCarthy von der US-amerikanischen Kritik sehr gespalten aufgenommen worden war, ist verständlich. Schließlich beschreibt der später mit dem National Book Award (für „All die schönen Pferde“) und Pulitzer Preis (für „Die Straße“) ausgezeichnete Autor in schonungsloser Manier das Ausleben der dunkelsten Triebe des Menschen, das rücksichtslose Foltern und Morden und Abschlachten von Menschen, vornehmlich von Schwarzen, Indianern und Mexikanern, aber auch vermeintliche Konkurrenten aus den eigenen Reihen fallen hier reihenweise dem blutgierigen Treiben der Freischärler zum Opfer. Damit entromantisiert er die Mythen des Wilden Westens und seziert den Siegeszug des weißen Mannes als mörderisches, blutiges Spektakel. McCarthy macht sich nicht die Mühe, um das Skalpieren und Töten herum eine sinnvolle, dramatisch-spannende Geschichte aufzubauen. Er konzentriert sich ganz auf seine ganz und gar unsympathischen triebhaften und bösen Figuren, die ihr räuberisches Tun in keiner Weise moralisch zu rechtfertigen versuchen, sondern aus der puren Lust und Möglichkeit dazu anderen Menschen Leid zufügen.
Nicht mal der vierzehnjährige Junge ohne Namen, mit dem die Geschichte ihren Anfang nimmt, taugt zur Identifikationsfigur, auch wenn er zumindest mehr als eine Ahnung von dem Unterschied zwischen Gut und Böse besitzt. Stattdessen führt der hochgebildete, selbstherrliche, moralisch aber völlig verkommene Richter das Wort, wobei er das Böse und so auch den Krieg als natürlichen Bestandteil der Weltenschöpfung betrachtet.
Als Widerpart zu den unreflektierten Gewaltdarstellungen zeichnet McCarthy allerdings eindringlich schöne Landschaftsbilder, die ein wenig von dem Zauber bewahren, den der Leser durch den Hollywood-Mainstream vom Wilden Westen gewonnen hat.
Es ist beileibe kein kurzweiliges Vergnügen, dem sinnlosen Abschlachten durch das Buch zu folgen, aber in Sachen sprachlicher Eleganz und bildreicher Fabulierkunst gehört „Die Abendröte im Westen“ fraglos zu den ganz großen Werken der amerikanischen Literatur. 
Leseprobe CormacMcCarthy - "Die Abendröte im Westen"

Cormac McCarthy – „Verlorene“

Samstag, 30. Dezember 2017

(Rowohlt, 734 S., Tb.)
Obwohl er das College besucht hat, ist Cornelius Suttree Anfang der 1950er Jahre in einem Slum am Tennessee River in Knoxville gestrandet, wo er allein auf einem Hausboot lebt und sich durch die Fischerei über Wasser hält. Zu seinen wenigen Weggefährten zählt der junge Gene Harrogate, den Suttree im Arbeitshaus kennengelernt hatte und der nun seine Bleibe am nahegelegenen Viadukt findet. Beide lassen sich nicht nur auf dem Fluss durch das Leben treiben, immer am Rande der Gesellschaft, immer wieder im Konflikt mit dem Gesetz oder den Frauen in ihrem Leben.
Suttree schließt sich einer Familie von Muschelfängern an und tut sich mit einer Prostituierten zusammen, durch die er für eine kurze Zeit Wohlstand kennenlernt.
Als er vom Tod seines Sohnes erfährt, den er kaum gesehen hat, und zu dessen Beerdigung fährt, erlebt Suttree eine weitere Enttäuschung in seinem von Not, Unglück, Gewalt und Unrat geprägten Leben. Gelegentlich riskiert er einen Blick zum anderen Ufer, zu den Versprechen der wohlhabenden Stadt.
„Suttree ging vorbei, damals lief er durch die Straßen wie ein streunender Hund. Das Alte sonderbar neu, ein Blick auf die Stadt, als sei es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Die stete Wiederkehr der Bilder hatte alles verwischt und nivelliert, dräuende Gebilde schienen auf einmal steil aus dem toten Schwemmland zu ragen, die Stadt seiner Erinnerungen ein Geist gleich ihm, er selbst ein Schemen zwischen Ruinen, der die dorren Artefakte durchstöberte wie ein bleicher Paläoanthrop die Gebeine versunkener Siedlungen, wo keine Seele mehr Zeugnis gibt vom Vergangenen.“ (S. 386) 
In seinem bereits 1979 veröffentlichten Underdog-Epos „Suttree“, den der Rowohlt Verlag 1992 auch in deutscher Übersetzung präsentierte, erweist sich der amerikanische Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy („Kein Land für alte Männer“, „Die Straße“) einmal mehr als akribischer Chronist des Lebens am Abgrund. Kaum ein anderer Schriftsteller beschreibt die Trostlosigkeit und Erschöpfung des alltäglichen Überlebenskampfes so akribisch und wortgewaltig wie die „legitime Nachfolge Faulkners“ (Washington Post).
Es kostet den Leser allerdings einiges an Mühe und Durchhaltevermögen, sich durch dieses in jeder Hinsicht monströs-epochale Werk zu wühlen, durch all den Schmutz und Unrat, durch die Gossensprache und ganze Buchstabenreihen verschluckende, Worte verschmelzende Alltagssprache, durch die von brutaler Gewalt, stinkendem Tod und verzehrender Krankheit geborenen Delirien. Es ist eine mythische Welt, die McCarthy ebenso schonungslos wie poetisch beschreibt; eine Welt, in der der Fluss Leben schenkt und nimmt. Eben noch verkauft Suttree die Fische, die er gefangen hat, dann sieht er, wie Leichen aus dem Strom geborgen werden, aufgedunsene Schweine- und zersetze Kinderkörper vorübergeschwemmt werden.
Detailliert beschreibt McCarthy die widrigen Lebensumstände am Rande der südstaatlichen, rassistischen Gesellschaft, die rohe Gewalt, die verdreckten Zimmer, in denen Suttree zwischenzeitlich sein Leben fristet, Krankheiten ausschwitzt und ausscheißt, fieberhafte Sexträume träumt und auf Geld seiner auswärts arbeitenden Lebensabschnittspartnerin wartet.
Bei aller Düsternis und Trostlosigkeit schleicht sich aber immer wieder McCarthys trockener Humor ein. Wenn er beschreibt, wie Harrogate ins Arbeitshaus muss, weil er ein Melonenfeld durchgepimpert hat, oder er bei der mutmaßlichen Bergung eines unterirdischen Schatzes vom stinkenden Inhalt des gesprengten Kanalrohrs überflutet wird, regt der schwergewichtige Roman auch zum Schmunzeln ein. Am nachhaltigsten allerdings wirkt McCarthys geschliffene Sprache, die selbst das Unaussprechliche zu großer Literatur zu formen versteht.

Jonathan Franzen – „Freiheit“

Dienstag, 19. Dezember 2017

(Rowohlt, 731 S., HC)
Seit Jonathan Franzen mit seinem Familienepos „Die Korrekturen“ 2001 zum internationalen Bestseller-Autor und Liebling der Kritiker wurde, sind in Deutschland seine früheren Werke „Schweres Beben“ und „Die 27ste Stadt“ nachgereicht worden, aber erst 2010 erschien mit „Freiheit“ das mit Spannung langerwartete neue Werk. Unter dem plakativ erscheinenden, weiträumig interpretierbaren Titel präsentiert der gefeierte amerikanische Romancier vor allem eine umfassende Familienchronik, die ihren Ausgang in dem Ehepaar Walter und Patty Berglund nimmt, das vor zwei Jahren von Washington in das St. Paul-Viertel Ramsey Hills gezogen ist. Der Leser erfährt von Pattys erfolgreicher Karriere als Basketballspielerin an der University of Minnesota und Walters Anstellung bei 3M, von den Kindern Joey und Jessica, von denen sich das Mädchen als folgsam und unkompliziert, der Junge als so rebellisch präsentiert, dass er glatt zu den Monaghans in der Nachbarschaft zieht und mit der Tochter Carol eine an sich heiratsfähige, doch auch komplizierte Beziehung eingeht.
Im weiteren Verlauf des Romans lernen wir die einzelnen Familienmitglieder näher kennen, jeden aus seiner eigenen Perspektive, wobei Walter und Patty mit ihrer schwierigen Beziehung definitiv im Mittelpunkt stehen. Denn ausgerechnet Walters bester Freund, der Rockmusiker Richard Katz, lässt sich auf eine Affäre mit seiner Frau ein, die später auf Anraten ihres Therapeuten ihre Erfahrungen in der Autobiographie „Es wurden Fehler gemacht“ niederschreibt und von sich in der dritten Person erzählt. Durch die Affäre und die darauffolgende Trennung verändert sich auch die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern, die längst ihren eigenen Weg gehen, Jessica auf unspektakuläre, unkomplizierte Weise, Joey durchaus mit Hang zum unternehmerischen Risiko. Doch vor allem Walter und Patty selbst haben trotz neuer Partner unter ihrer Trennung zu leiden.
„Sie hatte sich unter allen Männern auf der Welt in den einen verliebt, der Walter genauso zugetan war, der genauso auf Walters Wohl bedacht war wie sie; jeder andere hätte versuchen können, sie gegen ihn aufzubringen. Und womöglich schlimmer noch war ihr Gefühl der Verantwortung für Richard, weil sie wusste, dass er in seinem Leben sonst niemanden wie Walter hatte und dass seine Loyalität gegenüber Walter, neben seiner Musik, zu den wenigen Dingen gehörte, die ihn in seinen eigenen Augen als Mensch retteten. All dies hatte sie, in ihrem Schlaf und ihrer Selbstsucht, aufs Spiel gesetzt.“ (S. 234) 
Franzen zeichnet die Lebensgeschichten seiner Figuren sehr akribisch nach, nicht chronologisch, sondern in Zeitsprüngen, die die psychische Konstitution der jeweiligen Persönlichkeit verdeutlichen, immer abwechselnd, so dass keine Figur zu lange aus dem Fokus des Lesers verschwindet.  
„Freiheit“ bedeutet im Kontext der Berglund-Familie vor allem die Freiheit, Fehler zu machen, unter den Konsequenzen jahrelang zu leiden und auch in vielen anderen Belangen, vor allem in beruflicher Hinsicht, zu scheitern. Franzen bringt dem Leser die Figuren dabei so nahe, dass sie Teil der eigenen Familie, der eigenen Lebensgeschichte zu werden scheinen, und auf diese Weise regt der Autor zur Selbstreflexion an. Der familiäre Mikrokosmos, den der Roman so detailliert beschreibt, wird so zur Blaupause der Familienstruktur nach 9/11. Menschen machen schlimme Fehler, geraten auf die schiefe Bahn, bereuen und leisten Abbitte, jeder der Berglunds auf seine Art. Dabei hebt Franzen aber nicht den moralisierenden Zeigefinger, denn er weiß ebenso wie seine Leser, dass Irren allzu menschlich ist. Und so wird auch der Leser geneigt sein, den Figuren ihre Fehler nachzusehen. Nach 730 Seiten ist man so vertraut mit den Berglunds, dass der Abschied schwerfällt. Das gelingt nur den ganz großen Romanen. 
Leseprobe Jonathan Franzen - "Freiheit"

Stewart O’Nan – „Ganz alltägliche Leute“

Freitag, 23. Juni 2017

(Rowohlt, 320 S., Pb.)
East Liberty ist sicher kein Vorzeigeviertel in Pittsburgh, und anno 1998 schon gar kein sicheres. Als bei einer Graffitiaktion Bean und sein Freund Chris von der Brücke fallen, überlebt Chris schwerverletzt, muss aber fortan im Rollstuhl sitzen, während Bean bei dem Unfall ums Leben kommt, in den Zeitungen aber nur als vierter Jugendlicher erwähnt wird, der in einer Woche in East Liberty ums Leben kam, als sei er nur ein weiteres Opfer der Drogenkriminalität.
Chris hat aber auch damit zu kämpfen, dass in sexueller Hinsicht laut ärztlicher Auskunft organisch alles bei ihm in Ordnung sein soll, das Liebesleben mit seiner Freundin Vanessa trotzdem zum Erliegen gekommen ist. Vanessa wiederum strebt nach einem besseren Leben, arbeitet im Pancake House, belegt stundenweise einen Kurs an der Uni, wo sie Amerikaner afrikanischer Herkunft zu seinen Erfahrungen befragen soll, und gibt ihren Sohn Rashaan in die Obhut von Miss Fisk, die offensichtlich manchmal verqueres Zeugs erzählt.
Chris‘ Mutter vermutet derweil, dass ihr Mann Harold eine Affäre mit einer Jüngeren hat und ist voller Selbstzweifel …
„Sie hatte seine Lügen lange hingenommen, auch als sie gespürt hatte, dass er sich von ihr entfernte, sich ihrer Ehe entzog und zu einer anderen Frau flüchtete. Sie hatte sich etwas vorgemacht, hatte erst so getan, als ob es nicht wirklich passierte, und dann, als ob er bald klar sehen und zu ihr zurückkehren würde. Jetzt sah sie deutlich, dass er keinen Grund hatte, zu ihr zurückzukehren, dass sein Leben ohne sie viel einfacher war, und da begriff sie, warum er angefangen hatte fremdzugehen.“ (S. 288) 
Auf diese Weise erzählt Stewart O’Nan („Engel im Schnee“, „Emily, allein“) vom Leben so einiger Einwohner des Schwarzenviertels East Liberty in Pittsburgh, von Knastkarrieren und der viel diskutierten Martin-Robinson-Express-Busspur, die für die Pendler von Penn Hills gedacht ist, aber letztlich die Ansiedlung wichtiger Industriezweige und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert. O’Nan schreibt wie gewohnt sehr einfühlsam von den Gedanken und Empfindungen seiner Figuren, dieser „ganz alltäglichen Leute“ mit ihren so gewöhnlichen Träumen und Sorgen und Ängsten. Allerdings gelingt es ihm nicht, all diese Einzelschicksale zu einer interessanten Geschichte zusammenzufügen. Dazu springt er zu oft von einer Person zur anderen, lässt eine stimmige Dramaturgie und sinnvolle Handlungen und Entwicklungen vermissen.
Am Ende hat der Leser zwar durchaus Einblicke in die alltäglichen Sorgen und Nöte von weniger privilegierten Schwarzen gewonnen, aber keine lesenswerte Geschichte präsentiert bekommen, die Anteilnahme oder Sympathie für die Charaktere hervorruft.

Cormac McCarthy – „Die Straße“

Dienstag, 20. Juni 2017

(Rowohlt, 253 S., Tb.)
Seit Monaten, vielleicht Jahren schon bewegen sich Vater und Sohn durch eine völlig zerstörte Welt. Die Ursache der Apokalypse ist unbekannt, wird zumindest nicht thematisiert. Gewiss ist nur das allgegenwärtige Zelt aus Asche, das selbst den Schnee schwarz färbt. Vater und Sohn sind auf dem Weg nach Süden, zur Küste, wo es nur besser sein kann als in der kalten Gegend, durch die sie so lange Zeit schon wandern, einen Einkaufswagen mit ihren immer spärlicher werdenden Vorräten vor sich herschiebend. Unterwegs begegnen sie nur sporadisch Menschen, die der Mann in die „Guten“ – wie sie selbst – und die „Bösen“ einteilt, die anderen Menschen ihre Vorräte stehlen und sogar vor Kannibalismus nicht zurückschrecken.
Als der Sohn einmal in die Hände einer Kannibalenhorde gelangt, kann sein Vater ihn mit einem Kopfschuss aus der Waffe des Kannibalen befreien, und so lässt sie die Angst vor weiteren unliebsamen Begegnungen mit den „Bösen“ sehr vorsichtig vorangehen, doch einzelnen Wanderern, denen es offenbar schlechter als ihnen geht, wird auch – zumindest vorübergehend - geholfen. Schließlich muss das „Feuer bewahrt“ werden, der moralische Kompass im Inneren. Doch der Weg in den Süden gestaltet sich bei der Kälte und Nässe schwierig und ermüdend, die ersehnte Küste dann doch nicht als das heilsbringende Paradies.
„Im grauen Licht ging er hinaus, blieb stehen und erkannte einen Moment lang die absolute Wahrheit der Welt. Das kalte, unerbittliche Kreisen der hinterlassenschaftslosen Erde. Erbarmungslose Dunkelheit. Die blinden Hunde der Sonne in ihrem Lauf. Das alles vernichtende Vakuum des Universums. Und irgendwo zwei gehetzte Tiere, die zitterten wie Füchse in ihrem Bau. Geliehene Zeit, geliehene Welt und geliehene Augen, um sie zu betrauern.“ (S. 118) 
Als der Mann mit einem Pfeil angeschossen wird, entzündet sich das Bein. Der Tod ist nur noch eine Frage der Zeit, das Schicksal des Jungen ungewiss …
„Die Straße“ ist der bislang letzte Roman des amerikanischen Autors Cormac McCarthy („Kein Land für alte Männer“, „All die schönen Pferde“) und wurde 2007 u.a. mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Einmal mehr erweist sich der großartige Stilist und Chronist der menschlichen Abgründe als brillanter Erzähler, dessen Geschichte vom Überlebenskampf eines Mannes mit seinem Sohn wirklich zu Herzen geht. Die spärlich eingestreuten Dialoge zeugen von dem Grundvertrauen, das der gutmütige Sohn in seinen aufrichtigen Vater setzt, immer wieder müssen jedoch beide einander vergewissern, ob ihre Gedanken, Träume und Geschichten okay sind.
Nur schwach erinnert sich der Mann an seine Frau, die sich zu Beginn der Katastrophe das Leben genommen und die Verantwortung für die Rettung ihres Sohnes in die Hände des Vaters abgegeben hat. Wie die beiden monatelang durch die Schlangen von rostigen und verkohlten Autos und aschebedeckte, vereinsamte Landstriche wandern, zeugt von einem starken Überlebenswillen und ist rührend inszeniert, aber auch von alttestamentarischer Wucht.
McCarthy beschränkt sich bei seinem eindringlichen Werk auf die Beschreibung der dystopischen Welt, durch die seine beiden Protagonisten streifen und verliert kein Wert über die Ursache für die Katastrophe. Der Leser kann sich denken, dass der Mensch dafür verantwortlich ist, ob durch einen Atomkrieg oder die Umweltzerstörung oder einen terroristischen Anschlag, ist schließlich nebensächlich und ändert nichts am Ergebnis.
So wie McCarthy die Apokalypse beschreibt, kann dem Leser nur angst und bange werden, denn die Reduzierung des Figuren-Ensembles auf nahezu ein Vater-Sohn-Gespann macht die Geschichte sehr persönlich und emotional, dass jeder für sich angeregt sein sollte, sein Bestes zu tun, um die Menschheit nicht vor die Hunde gehen zu lassen.

Cormac McCarthy – „Ein Kind Gottes“

Montag, 19. Juni 2017

(Rowohlt, 192 S., Pb.)
Sevier County, Tennessee, in den 1960er Jahren. Der 27-jährige Lester Ballard, ein kleiner, unsauberer, unrasierter und verbissen wirkender Mann mit sächsischem und keltischem Blut, sieht vom Scheunentor aus zu, wie die Farm, auf der er aufgewachsen ist und immer noch lebt, versteigert wird. Als er den Auktionator beschimpft, wird Lester niedergeschlagen. Er kommt in einem verwahrlosten Zwei-Zimmer-Häuschen unter, doch als er dieses versehentlich niederbrennt, ist Lester obdachlos und wandert ziellos durch die Wälder.
Einzig zum Whiskeybrenner Fred Kirby und dem Müllhaldenbesitzer Reubel pflegt er gelegentlich Kontakt. Sobald er jedoch junge Frauen – in Begleitung oder ohne – in abgeschiedener Umgebung entdeckt, wird Lester zum Tier. Erregt vom Sex, dessen Zeuge er ist, ejakuliert er und bringt dann die ahnungslosen Opfer um, wobei er zu den toten Frauen eine besondere Beziehung pflegt. Doch sein Tun bleibt nicht unentdeckt, und Lester ist gezwungen, sich noch tiefer in den Wäldern und Höhlen zu verstecken.
„Er beobachtete die ins Winzige verkleinerten Vorgänge im Tal, die grauen, sich unterm Pflug mit schwarzen Rippenmustern überziehenden Felder, die grüne Decke, die die Bäume langsam über alles breiteten. Während er da hockte, ließ er den Kopf zwischen die Knie sinken und begann zu weinen.“ (S. 165) 
Nach „Der Feldhüter“ (1965) und „Draußen im Dunkel“ (1968) ist „Ein Kind Gottes“ (1974) der erst dritte Roman des mittlerweile mit dem Faulkner Award, dem American Academy Award, dem National Book Award, dem National Book Critics Circle Award und schließlich für „Die Straße“ auch mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten amerikanischen Schriftstellers Cormac McCarthy, und doch sind in diesem Werk schon die sprachliche Brillanz und das finstere Menschenbild angelegt, das sich vor allem in „Kein Land für alte Männer“ wiederfindet, das durch die Oscar-prämierte Verfilmung der Coen-Brüder berühmt geworden ist.
„Ein Kind Gottes“ wirkt wie ein düsteres Vorspielt zu dem späteren Meisterwerk, denn auch hier scheint das Wesen eines Mannes ganz darauf ausgerichtet zu sein, abscheuliche Taten zu vollbringen. McCarthy verurteilt aber weder dieses abseitige Verhalten, noch psychologisiert er es. Als einzige Hintergrundinfo zur Lebensgeschichte von Lester Ballard bekommt der Leser die Tatsache präsentiert, dass Lester seinen Vater vom Strick schneiden musste, nachdem sich dieser erhängt und somit den Verkauf der Farm initiiert hatte. Ansonsten weist nichts darauf hin, warum Lester die Neigungen verspürt, die er so ungehemmt auslebt und die McCarthy mit gnadenloser Präzision beschreibt.
Kein Wunder also, dass die Verfilmung von und mit James Franco eine FSK-18-Einstufung erhielt. Von einem „Kind Gottes“, wie der Titel suggeriert, kann bei Lester Ballard also kaum die Rede sein, hier kommt dem Leser eher der Teufel in den Sinn. Wie McCarthy auf der einen Seite die prachtvolle Natur beschreibt und im Gegensatz dazu das schändliche Treiben seines Antihelden inszeniert, fesselt ungemein. Die Geschichte fasziniert ebenso wie sie abstößt – das ist einfach große Literatur.
Leseprobe Cormac McCarthy - "Ein Kind Gottes"

Paul Auster – „Die Erfindung der Einsamkeit“

Sonntag, 18. Juni 2017

(Rowohlt, 248 S., Tb.)
Bevor Paul Auster mit seiner experimentellen Krimi-Trilogie „Die New-York-Trilogie“ weltweit für Aufsehen sorgte, veröffentlichte er bereits einige Lyrik-Bände und auch das aus zwei Essays bestehende Buch „Die Erfindung der Einsamkeit“, mit dem der Autor vor allem den Tod seines Vaters verarbeitet und dabei ausführlich Themen wie Erinnerung, Einsamkeit, Leben und Tod und Zufall beleuchtet.
In „Portrait eines Unsichtbaren“ versucht Auster den Spuren seines Vaters zu folgen, den er Zeit seines Lebens eigentlich nicht gekannt, der sich seinem Sohn immer irgendwie entzogen hat. Drei Wochen nach dem plötzlichen Tod seines Vaters beginnt Auster, seine Erinnerungen niederzuschreiben, beginnend mit der telefonischen Nachricht, die ihn an einem Sonntagmorgen um 8 Uhr erreichte, der dreistündigen Fahrt nach New Jersey, dem Wissen, dass er über seinen Vater schreiben müsse. Was Auster dabei rückblickend irritiert, ist die Erkenntnis, dass sein Vater keine Spuren hinterlassen hatte, weder Frau noch Familie, die auf ihn angewiesen wäre.
„Seine Lebensweise hatte die Welt auf seinen Tod vorbereitet – war eine Art vorweggenommener Tod gewesen -, und falls und wenn man sich seiner erinnerte, dann nur undeutlich, allenfalls undeutlich.“ (S. 13) 
Er empfand keine Leidenschaft und war eigentlich unsichtbar, für andere ebenso wie für sich selbst wahrscheinlich auch. Nachdem Auster ständig versucht hatte, den abwesenden Vater zu finden, glaubt er, ihn auch nach dessen Tod suchen zu müssen. In den Schubladen der Schränke in dem Haus, das der Vater kurz vor seinem Tod noch verkauft hatte, stößt Auster auf Dinge, die er zwar nicht sehen oder wissen will, die aber nichtsdestotrotz für ihn Überbleibsel von Gedanken und Bewusstsein und Entscheidungen darstellen, darunter auch Schnappschüsse von den Flitterwochen seiner Eltern, ein Aktenschrank voller ungültiger Schecks aus dem Jahr 1953. Auster räumt das Haus für den künftigen Besitzer und ist als Möbelhändler, Spediteur und Überbringer schlechter Nachrichten tätig. Wie der Zufall es will, stößt Auster bei seinen Nachforschungen auf die Geschichte, wie sein Großvater Harry von dessen Ehefrau erschossen wurde. Am Ende eignet sich Auster zwar einige Gegenstände seines Vaters an, doch erzeugen auch sie nur die Illusion, mit seinem Vater vertraut zu sein, hat dieser doch nichts mehr damit zu tun. Und so bleibt dem Autor nur eins, nämlich über das Sterben nachzudenken und die Erinnerung an die Toten lebendig zu halten.
In „Das Buch der Erinnerung“ bezeichnet sich Auster kurz als A. und beginnt in der dritten Person über seine Arbeit als Übersetzer von französischen Autoren wie Blanchot und Mallarmé zu schreiben, über klassische Erinnerungstechniken, es folgen durchnummerierte Bücher der Erinnerung, in denen er beispielsweise über Heiligabend 1979 schreibt, über die karge Einrichtung seiner Wohnung, das Schnarchen seines Nachbarn.
Um in dieser Umgebung Frieden zu finden, muss er sich tiefer in sich selbst vergraben, aber je mehr er gräbt, umso mehr braucht er sich selbst auf. Interessant sind vor allem die Überlegungen zur Einsamkeit in Zusammenhang mit Jonas Aufenthalt im Wal und parallel dazu der von Gepetto im Bauch des Haifischs und die Frage, ob man seinen Vater retten muss, um ein richtiger Junge werden zu können. Weitere Exkurse führen zu Emily Dickinson, über die Natur des Zufalls, wie er als Übersetzer Worte zu anderen Worten werden und in seinem Innern ein unermessliches Babel entstehen lässt.  
Auster äußert in „Die Erfindung der Einsamkeit“ kluge Gedanken zu Themen, die seinen Lesern auch in den meisten der späteren Werke immer wiederbegegnen. Wie er dabei mit Ideen und Worten jongliert, Zufall und Sinn miteinander verknüpft, ist nicht immer leicht nachzuvollziehen, regt aber stets zum Nachsinnen an.

Heinz Strunk – „Jürgen“

Donnerstag, 4. Mai 2017

(Rowohlt, 256 S., HC)
Eigentlich ist Jürgen Dose ganz zufrieden mit seinem Leben. Dass seine Mutter seit ihrem schweren Unfall, der sie ans Bett fesselt, bei ihm lebt, stört ihn kaum. Er hat ja Schwester Petra vom Pflegedienst Stadtkäfer und seinen verantwortungsvollen Job als Pförtner in einem Harburger Parkhaus mit 1400 Stellplätzen und – nicht zu vergessen – seinen Kumpel Bernd „Bernie“ Würmer, der allerdings im Rollstuhl sitzt, bei Westsaat in der Kaltakquise arbeitet und seine Lebensaufgabe darin sieht, sich fortlaufend mit Jürgen zu zanken.
Ihre Freizeit verbringen sie vor allem damit, in ihrer Lieblingskneipe „Kamin 21“ abzuhängen. Was zu ihrem Glück noch fehlt, sind Frauen. Dabei haben sie gar keine so hohen Ansprüche an das schöne Geschlecht. Für Bernie ist die Haarfarbe ebenso unwichtig wie das Alter, nur zu dick und zu groß sollte sie nicht sein, während Jürgen von seiner Traumfrau erwartet, keine Amalgamzähne zu haben, Insekten wegmachen zu können und Kniffel spielen zu wollen.
Theoretisch weiß Jürgen ganz genau, wie Frauenherzen zu gewinnen sind und dass vielerorts geradezu Männermangel herrscht (Chöre, Laientheater, Tanzkurse, Volkshochschulkurse). Er weiß, dass lächelnde Menschen auch innerlich hübscher sind, dass grinsen aber schnell dazu führt, in die Kategorie „nett, aber irre“ eingestuft zu werden. Hände sind wie Musikinstrumente der Seele und sollten bewusst eingesetzt werden, und bei Unterhaltungen sind Körpersprache und Klang der Stimme wichtiger als der Inhalt. Und schließlich gibt es diverse bewährte Strategien, um einen Flirt zu beginnen.
„Wenn man registriert, dass die Frau einen heimlich mustert, denkt man sich ‚Haha, erwischt‘ und setzt dazu den entsprechenden Gesichtsausdruck auf. Die Frau fühlt sich ertappt, und schon ist der schönste Flirt am Laufen. So wird aus einem Teufelskreis ein Gotteskreis. Immer dranbleiben, immer bohren, immer sägen, bis die Kiste fliegt. Aber man darf nicht zu lange zögern, sondern muss einfach machen.“ (S. 52) 
Und so melden sich Bernie und Jürgen zunächst zu einem Speed-Dating an, wo sie für 19 Euro nicht nur Mineralwasser, gelbe und weiße Brause gestellt bekommen (aber keine Zeit haben, davon auch zu kosten), sondern wahre „Augenpralinen“, von denen allerdings niemand Interesse an Jürgen und Bernd findet. Doch bevor die beiden liebeshungrigen Singles die Flinte ins Korn werfen, eröffnet sich schon die nächste großartige Chance: Die Partnervermittlung Eurolove verweist auf ihre 100%ige Erfolgsquote und fährt mit einer Busladung anderer Schicksalsgenossen nach Breslau, wo unzählige heiratswillige Polinnen auf sie warten.
Als Jürgen die schwerbusige Dominika, die eigentlich für Bernd gedacht war, auf das Zimmer nimmt und ihr bei Schaumwein näherkommt, scheint er am Ziel seiner Träume angelangt zu sein, doch die Rechnung hat er mal wieder ohne Bernd gemacht …
Seit seinem Debütroman „Fleisch ist mein Gemüse“ hat sich der Hamburger Schauspieler, Autor und Musiker Heinz Strunk in seinen Büchern den ganz normalen Menschen gewidmet, die der Volksmund durchaus als Loser und arme Willis bezeichnen würde.
Mit Jürgen Dose hat Strunk einmal mehr einen an sich sehr netten, freundlichen und genügsamen Protagonisten erdacht, der sich durch etliche Tiefschläge und Enttäuschungen gerade im Liebesleben nicht aus dem Konzept bringen lässt und unbeirrt weiter nach einer Frau in seinem Leben sucht, die weder seine Mutter noch Schwester Petra ist. Dabei versteht es Strunk wie immer, mit viel Sympathie für seine Figuren ihren biederen Alltag und ganz normalen Sehnsüchte mit einer Mischung aus Humor und Melancholie zu beschreiben, so dass man Jürgen wirklich von Herzen wünscht, endlich ans Ziel seiner einfachen Träume zu gelangen. 
Leseprobe Heinz Strunk - "Jürgen"

Paul Auster – „Die New York-Trilogie“

Sonntag, 19. März 2017

(Rowohlt, 375 S., Tb.)
Unter dem Namen William Wilson hat der New Yorker Schriftsteller Daniel Quinn nahezu im Jahrestakt einen Detektivroman veröffentlicht, nachdem er zuvor unter eigenem Namen noch Gedichte und kritische Essays geschrieben hatte. Das brachte ihm immerhin genügend ein, um nach dem halben Jahr, das er zum Schreiben eines Krimis benötigte, ein weiteres halbes Jahr mit Lesen, Kino und Spazierengehen durch die Stadt verbringen zu können. Doch dieser behagliche Rhythmus gerät aus dem Takt, als er eines Tages einen Anruf erhält, der eigentlich für einen Privatdetektiv namens Paul Auster gedacht gewesen ist. Auch wegen der Dringlichkeit ist Quinns Interesse geweckt.
Er soll einen Mann namens Peter Stillman davor beschützen, dass sein Vater ihn ermordet. Quinn alias Auster nimmt den Auftrag an, stöbert den Gesuchten auf und verfolgt ihn Tag und Nacht. Offensichtlich bewegt sich der Mann in bestimmten Grenzen, die Wege scheinen auf ein Schema hinzudeuten, auf Buchstaben, die mit dem Turmbau zu Babel zu tun haben.
„Er merkte, dass es keineswegs unangenehm war, Paul Auster zu sein. Obwohl er noch denselben Körper, denselben Verstand, dieselben Gedanken hatte wie sonst, war ihm zumute, als wäre er irgendwie aus sich selbst herausgenommen worden, als müsste er nicht mehr die Last seines eigenen Bewusstseins tragen. Durch einen einfachen Gedankentrick, eine geschickte kleine Namensänderung fühlte er sich unvergleichlich leichter und freier. Gleichzeitig wusste er, dass alles nur eine Illusion war.“ (S. 65) 
Und so verliert sich Quinn in „Stadt aus Glas“ bis zur Selbstaufgabe in einem Labyrinth der Identitäten und Illusionen. In der kürzesten der drei Novellen, „Schlagschatten“, wird dieses Thema auf noch abstraktere Weise fortgeführt. Hier werden die Figuren schlicht nach Farben benannt. Der von seinem Chef Brown eingearbeitete Blue bekommt in seinem New Yorker Büro am 3. Februar 1947 von White den Auftrag, einen Mann namens Black zu verfolgen und so lange wie möglich im Auge zu behalten. Auf den wöchentlichen Bericht, den White in genau definierter Form erwartet, folgt jeweils ein Scheck. Die Aufgabe erscheint nicht schwer. Blue bezieht eine Wohnung, die sein Auftraggeber für ihn angemietet hat, und beobachtet Black dabei, wie dieser in seiner Wohnung in Henry David Thoreaus „Walden“ liest und immer wieder in sein rotes Notizbuch schreibt. Irgendwann beginnt Blue, ebenfalls in „Walden“ zu lesen, sucht unter falschem Namen und verkleidet die Begegnung mit Black und wird für immer verändert …
Auch in „Hinter verschlossenen Türen“ wird der Leser mit einer Detektivgeschichte konfrontiert, die konventioneller beginnt als die beiden vorangegangenen. Vor sieben Jahren bekam der Ich-Erzähler einen Brief von einer Frau namens Sophie Fanshawe, die sich als Ehefrau seines besten Freundes entpuppt, mit dem er schon als Baby aufgewachsen ist, den er Zeit seines Lebens bewundert, aber irgendwann aus den Augen verloren hat. Fanshawe sei vor sechs Monaten spurlos verschwunden, schrieb sie. Der Erzähler wurde allerdings nicht damit beauftragt, Fanshawe zu suchen, sondern dessen unveröffentlichte Manuskripte zu sichten und zu entscheiden, was mit ihnen geschehen solle.
Kaum schlägt Fanshawes größtes Werk, der Roman „Niemalsland“, bei Kritik und Publikum ein, erhält der Erzähler einen Brief von Fanshawe. Indem er sich an die Biografie seines alten Freundes macht, begegnet er sich in vielerlei Hinsicht selbst …
Auch wenn die „New York-Trilogie“, deren drei Geschichten im Original zwischen 1985 und 1986 erschienen sind und den New Yorker Schriftsteller Paul Auster weltberühmt machten, zunächst voneinander unabhängig erscheinen, führt sie schon die thematische Ähnlichkeit zusammen. Was jeweils als klassische Detektivgeschichte beginnt, entwickelt sich im Verlauf der Handlung zu einer Auseinandersetzung zu Fragen der Rolle eines Autors und der Namen, unter denen er seine Werke veröffentlicht, es geht um die Biografien von Individuen, deren Sinn im Leben sich erst im Tod offenbart; letztlich geht es um Wahrnehmung und Identität, um Täuschung und Fiktion, um Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Auster erweist sich in diesem komplexen Territorium als stilistischer Meister. Mühelos zieht er den Leser in den Bann – vor allem bei „Stadt aus Glas“ und der hervorragenden letzten Geschichte „Hinter verschlossenen Türen“ -, lässt sich ihn von dem meist überraschten, dann zunehmend interessierten Erzähler/Protagonisten an die Hand nehmen und auf die Suche nach verschwundenen Personen gehen, deren Geschichte sich immer mehr mit der des Autors/Detektivs vermischt.
Am Ende jeder einzelnen Geschichte und vor allem am Ende der Trilogie bleibt der Leser ebenso fasziniert wie verwirrt zurück und beginnt bestenfalls, seine eigene Biografie und Identität zu hinterfragen.

Cormac McCarthy – „Draußen im Dunkel“

Samstag, 18. März 2017

(Rowohlt, 220 S., HC)
Irgendwo im Süden der Vereinigten Staaten bringt die 19-jährige Rynthie Holme in einer heruntergekommenen Hütte einen Jungen zur Welt. Der Vater des Kindes, Ryhnthies Bruder Culla, bringt das Neugeborene in den Wald und erzählt der jungen Mutter, dass das Kind verstorben sei. Tatsächlich wird es von einem umherfahrenden Kesselflicker aufgelesen. Rynthies entlarvt die Lüge ihres Bruders und macht sich auf die Suche nach ihrem Kind. Culla wiederum sucht nach seiner Schwester und nimmt unterwegs immer wieder einfache Jobs für Unterkunft und Essen an. Bei einem Friedensrichter zerlegt er einen Baum, an anderer Stelle soll er ein Grab ausheben.
Ihre ganze Suche nach dem Baby/der Schwester sind die Holmes auf die Gnade und Barmherzigkeit ihrer Mitmenschen angewiesen, auf einen kühlen Schluck Wasser hier, einen Teller voll Bohnen mit knochentrockenem Brot dort. Doch immer wieder begegnen sie auch Menschen, die es nicht so gut mit ihnen und ihren Mitmenschen meinen, Tod, Gewalt und Blut begleiten ihre Wege durch die kärgliche Landschaft ebenso wie Hunger und Durst und der Wunsch nach einem Dach über dem Kopf.
„Er marschierte hangab aus bebautem Land in sonnenloses Gehölz; die kühle Landschaft beschrieb eine dunkle, von riesigen Farnen überhangene Kurve, das graue Moos an den Bäumen wie Hexenhaar, ein grüner triefender Hag voller Vogellaute, wie er sie nie gehört hatte. Keine Spuren im festgetretenen Sand, auch er hinterließ keine.“ (S. 109) 
„Outer Dark“ ist der zweite, im Original 1968 veröffentlichte Roman des 1933 geborenen Schriftstellers Cormac McCarthy, der später durch seine erfolgreich verfilmten Romane „All die schönen Pferde“, „Kein Land für alte Männer“ und „Die Straße“ weltberühmt wurde. In „Draußen im Dunkel“, 1994 endlich durch den Rowohlt Verlag auch der deutschen Leserschaft zugänglich gemacht, beschreibt McCarthy von Beginn an eine düstere, schreckliche Welt, in der ein Geschwisterpaar in ärmlichen Verhältnisse durch die Folgen ihres Inzest auseinandergetrieben wird und sich in den staubigen, unwirtlichen Landstrichen einfach nicht wiederfinden, dafür immer wieder in Situationen geraten, in der sie um Wasser betteln, nach Mitfahrgelegenheiten oder Arbeit suchen, aber auch um ihr Leben kämpfen müssen.
Für ihre Sünde bezahlen Culla und Rynthie einen hohen Preis, ungeschützt irren sie durch von finsteren Gestalten bevölkerte Landschaften, atmen den Geruch von Blut und Tod und verzweifeln selbst an den erbärmlichen Verhältnissen, in die sie hineingezwungen wurden.
„Draußen im Dunkel“ ist ein zutiefst pessimistischer, deprimierender Roman, der keine Hoffnung bereithält, weder für die bemitleidenswerten Figuren noch für die Leser. Faszinierend ist vor allem, mit welch starken Bildern McCarthy die Landschaft und das schreckliche Schicksal seiner Protagonisten beschreibt, für die das Leben nur eine zermürbende Aneinanderreihung von Ärgernissen bereithält. Diese apokalyptische Wucht muss man auch als Leser erst einmal ertragen können.

Paul Auster – „4 3 2 1“

Montag, 6. März 2017

(Rowohlt, 1259 S., HC)
Als Enkel des aus Minsk stammenden Großvaters Isaac Reznikoff, der über Warschau, Berlin und Hamburg am Neujahrstag 1900 nach New York kam und sich fortan nach einem Missverständnis bei der Immigration Ichabod Ferguson nannte, wächst Archibald „Archie“ Ferguson im Newark der fünfziger Jahre auf.
Sein Vater Stanley, der tüchtigste von insgesamt drei Ferguson-Jungen, lernte 1943 seine damals 21-jährige Frau Rose Adler kennen, die bei dem Portraitfotografen Emanuel Schneiderman arbeitete, während er das lange Zeit erfolgreiche Geschäft Three Brothers Home World führte, bis es sich durch die kriminelle Energie seines Bruders Lew buchstäblich in Rauch aufgelöst hat, wobei er selbst in den Flammen umkam. Doch was wäre geschehen, wenn Stanley Ferguson nicht im Lagerhaus seines Geschäfts verbrannt wäre?
Dies ist nur eine der möglichen Weggabelungen im Leben von Archie Ferguson, der sich in den fünfziger Jahren für Baseball und Basketball begeistert, nach dem tragischen Autounfall mit seiner Tante Mildred aber an zwei Fingern verstümmelt wurde und seitdem eine Karriere als Journalist bzw. Autor einschlägt, sich in seine Cousine Amy verliebt (oder in die Schwester eines Freundes), aber seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Jungen macht und auch später keine eindeutigen Präferenzen bei der Partnerwahl hegt.
Die Sommerferien verbringt er mit anderen jüdischen Jugendlichen im Camp Paradise, wo er seinen guten Freund Artie Federman durch ein Hirnaneurysma verliert. Archie beginnt sich für klassische Musik, große Literatur oder grandiose Filme zu interessieren – je nachdem, wie sich die Wege seines Lebens ausgestalten. Ferguson erlebt die Wahl John F. Kennedys, die Kuba-Krise, die Attentate auf Kennedy und Martin Luther King, reist nach Paris und wird Walt-Whitman-Stipendiat an der Universität von Princeton.
„Er war nicht mehr der Junge, der mit vierzehn als schwachköpfiger Niemand Sohlenverwandte geschrieben hatte, doch er trug diesen Jungen noch immer in sich und spürte, dass sie beide einen langen gemeinsamen Weg vor sich hatten. Das Fremde mit dem Vertrauten verbinden: Das war es, was Ferguson anstrebte, die Welt so genau beobachten wie der hingebungsvollste Realist und sie trotzdem durch eine andere, leicht verzerrte Linse sehen, denn wer Bücher las, die nur auf Vertrautes eingingen, erfuhr zwangsläufig, was er schon wusste …“ (S. 659) 
Auch wenn Paul Austers neuer Roman „4 3 2 1“ weit umfangreicher ist als viele seiner bisherigen Bücher zusammen, bleibt er seinen bevorzugten Themen doch treu und verknüpft sie auf atemberaubend virtuose Weise. Es ist vor allem ein grandioser Coming-of-Age-Roman, der nicht nur eine Entwicklungsgeschichte beschreibt, sondern derer gleich vier. Der bei Auster so beliebt eingesetzte Zufall und seine Auswirkungen auf das weitere Geschehen und die Geschichte werden in „4 3 2 1“ zu gleich vier Lebensentwürfen ausgestaltet, die nebeneinandergestellt werden und stets interessante Züge annehmen.
Vor dem Hintergrund großer politischer Ereignisse wie dem Vietnamkrieg, Bürgerrechtsbewegungen, Rassenkonflikten und Studentenunruhen, politischen Skandalen und Hiroshima entdeckt Archie Ferguson seine zügellose sexuelle Begierde, seine Liebe zu den großen kulturellen Errungenschaften, bewertet seine Beziehungen zu seinen Eltern, Freunden und Verwandten immer wieder neu und versucht letztlich nur, unter stets schwierigen Umständen und nach schweren emotionalen Rückschlägen seinen Weg und sein Glück zu finden.
Zwar verliert der Roman im letzten Viertel doch etwas an Schwung, aber die Idee, einen jungen Menschen über zwanzig Jahre lang auf vier verschiedenen Wege zu begleiten, ihn an der Columbia oder in Princeton studieren, ihn als Journalist oder Schriftsteller arbeiten und diese oder jene Menschen lieben zu lassen, ist in seiner Detailverliebtheit, in der sprachlichen Ausgestaltung und unter ausführlicher Einbeziehung all der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Begleiterscheinungen einfach großartig.
 Leseprobe Paul Auster - "4 3 2 1"

Michael Chabon – „Telegraph Avenue“

Sonntag, 1. Mai 2016

(Rowohlt, 670 S., Tb.)
Anno 2004 leben der ehemalige Elektriker und Golfkriegsveteran Archy Stallings und der weiße Jude Nat Jaffe in ihrer eigenen Welt namens Brokeland Records. Dabei handelt es sich um einen Second-Hand-Jazzplattenladen in titelgebender Telegraph Avenue in Oakland, eingebettet zwischen einem Donut-Laden und dem „King of Bling“. So unterschiedlich die beiden Freunde auch sind, so leben sie doch für den Jazz und freuen sich, dass der Musiker Cochise Jones zu ihren besten Kunden zählt. Ungemach naht allerdings in Gestalt des ehemaligen Football-Stars Gibson Goode, der als fünftreichster Schwarzer Amerikas einen Megastore seiner Kette "Dogpile" direkt neben Brokeland eröffnen will, wobei er auch den Stadtrat und Brokeland-Stammkunden Chandler Flowers auf seine Seite ziehen kann.
Noch machen den beiden Freunden die um sich greifende Digitalisierung und der Online-Handel mit Musik keine allzu großen Sorgen, doch da Dogpile auch Platten in seinem Sortiment haben wird, sehen sich Archy und Nat vor in ihrer Existenzgrundlage bedroht.
Davon abgesehen müssen sich ihre Frauen, Gwen und Aviva, die als Hebammen zusammen arbeiten, mit einer Klage auseinandersetzen, nachdem es bei einer ihrer präferierten Hausgeburten zu Komplikationen gekommen ist und der zuständige Arzt im Krankenhaus die Meinung vertreten hat, die Hebammen würden Voodoo praktizieren. Als wären das nicht schon genug Probleme, findet die hochschwangere Gwen heraus, das Archy sie betrügt, und setzt ihn kurzerhand vor die Tür, während Archys Vater Luther versucht, nach zwei erfolgreichen „Stratter“-Filmen Geld für einen weiteren Film der Reihe aufzutreiben, die ihn einst zu einem Blaxploitation-Action-Helden gemacht hatte.
 Und schließlich finden Nats Sohn Julius, der aufgrund seiner weiblichen Ausstrahlung Julie genannt wird, und Archys verlorener Sohn Titus zueinander. Archy bekommt von Gibson „G Bad“ Goode das Angebot, ein Jobangebot bei Dogpile, damit er seine junge Familie auch weiterhin ernähren kann.
„Er wusste, dass Nat und er sich finanziell in einem immer engeren Kreis drehten. Und da kam dieser Typ daher, der sich selbst in Zeiten, da die Plattenketten dicht machten und unzählige Gratis-Downloads in die Hosentasche passten, der es sich selbst jetzt leisten konnte, einen hammermäßigen Plattenladen zu eröffnen, fünfmal so groß wie Brokeland und zehnmal so umfangreich, der es sich nur des Ruhms und der Tugend zuliebe leisten konnte, Archy für alle Zeiten pleitegehen zu lassen, unerschöpflich finanziert durch sein Medienimperium, sein lizenziertes Abbild, sein alchemistisches Händchen mit Ghetto-Immobilien. Wehte an einem Samstagnachmittag bei Brokeland herein, ein König in Zivil, um seinen Stiefel in den Nacken der Eroberten zu setzen.“ (S. 333) 
Vordergründig thematisiert der neue Roman von Pulitzer-Preisträger Michael Chabon exemplarisch an einem altehrwürdigen, Traditionen bewahrenden Second-Hand-Plattenladen den Untergang eines ganzen Industriezweigs, wie ihn kürzlich auch Schauspieler und Regisseur Colin Hanks in seinem Film „All Things Must Pass – The Rise and Fall of Tower Records“ dokumentierte. Aber vielmehr als zum Beispiel Nick Hornbys „High Fidelity“ präsentiert Michael Chabon auch eine Musikgeschichte des Jazz, wie sie vor allem in der bewegenden Trauerrede von Archy Stallings zum Ausdruck kommt.
Darin kommt gleichsam ein anderer Schwerpunkt in dem Roman zum Tragen, nämlich die Vermischung der Kulturen. Was der verstorbene Jazz-Musiker Cochise Jones zu seinen Lebzeiten als „kalifornisches Kreol“ bezeichnete, nämlich die Symbiose aus Afrika und Europa, Chopin, Kirchenmusik, Irish Folk, Polyrhythmik, das Gefühl vom Bayou, macht auch „Telegraph Avenue“ aus. Es zeichnet nicht nur vielschichtige Charaktere unterschiedlicher Jahrgänge, Hautfarben, Bildungsschichten und Kulturen, sondern ein soziokulturelles Gesamtbild Amerikas jener gar nicht so lang verjährter Tage, in denen jeder mit seinen eigenen gewichtigen Problemen zu kämpfen hat, in denen es um das Bewahren familiärer Werte und kultureller Errungenschaften geht.
Das ist wie beim großen Fabulierer Chabon gewohnt wort- und bildgewaltig beschrieben, anekdotenreich und mit allerlei Zitaten gespickt filmreif präsentiert, wenn auch gelegentlich etwas zu ausufernd manieristisch übertrieben, wie das aus nur einem, 18 Seiten (!) umfassenden Satz bestehende Kapitel „Ein Vogel von großer Erfahrung“.
Auch von einigen anderen Längen im Mittelteil abgesehen bietet „Telegraph Avenue“ ein intellektuell anspruchsvolles Lesevergnügen, in der die Jazz-Musikgeschichte fast akribisch und von rezensierender Intensität den Mittelpunkt einer komplexen Sozialgeschichte bildet.
Leseprobe Michael Chabon - "Telegraph Avenue"