Ernst Hofacker – „1967 – Als Pop unsere Welt für immer veränderte“

Montag, 12. Juni 2017

(Reclam, 272 S., HC)
Die 1960er Jahre waren ein turbulentes wie wegweisendes Jahrzehnt. Ein halbes Jahrhundert später sind der Vietnamkrieg, die Studentenunruhen, die Morde an John F. Kennedy und Martin Luther King, die Kuba-Krise und die Bürgerrechtsbewegung der USA nach wie vor immer wieder Thema in gesellschaftspolitischen Diskursen. Warum gerade das Jahr 1967 aus diesem bewegenden Jahrzehnt so heraussticht, macht der renommierte Musikjournalist Ernst Hofacker („Rolling Stone“, „Musikexpress“) in seinem kurzweilig zu lesenden, fachkundig recherchierten und klug geschriebenen Buch „1967 – Als Pop unsere Welt für immer veränderte“ ebenso ausführlich wie kontextuell deutlich.
Natürlich gehört das legendäre Monterey International Pop Festival ebenso zu den Eckpunkten in Hofackers kulturhistorischen Rückblick wie die Karriere der Beatles, die 1967 ihr gefeiertes Meisterwerk „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ veröffentlichten, der Rolling Stones, Bob Dylan und Jimi Hendrix.
Es war das Jahr, in dem laut Branchenmagazin „Billboard“ erstmals mehr LPs als Singles verkauft wurden, die Beatles mit ihrem programmatischen Hit „All you need is Love“ den sprichwörtlichen „Summer of Love“ einläuteten und die erste Ausgabe des „Rolling Stone“-Magazins erschien. Der Autor beschreibt eindrücklich, wie eine zunehmend kritische Studentengeneration heranwuchs, die sich von staubtrockenen gesellschaftlichen Normen zu emanzipieren begann und auf eine revolutionäre Umgestaltung der Machtverhältnisse hinarbeitete. Bei dem Monterey-Festival, das unter dem Motto „Music, Love & Flowers“ stand, erlebten die 50000 bis 90000 Zuschauer nicht nur Stars wie Otis Redding, Jimi Hendrix, Janis Joplin, The Who und Ravi Shankar, sondern auch einen Paradigmenwechsel.
„Es ebnete einer neuen musikalischen Sprache den Weg in den Mainstream und forcierte damit den ganz gewöhnlichen Professionalisierungsprozess einer Subkultur, ihrer Strukturen und Akteure. Dass diese Subkultur fortan mit schicken Verkaufslabels versehen und zur tragenden Säule eines umsatzstarken Marktsegments entwickelt wurde, war ebenso wenig zu vermeiden wie die damit einhergehende allmähliche Verwässerung ihrer Inhalte.“ (S. 79) 
In der Folge setzt sich Hofacker besonders mit der Rolle der Schwarzen Musik und Künstlern wie dem erwähnten Otis Redding, James Brown und Aretha Franklin auseinander, geht dem Mythos von „Big Pink“ nach, jenem legendären Haus, in dessen Keller Bob Dylan und The Band das Fundament für das legten, was als Alternative Country und Americana Einzug in die Musikgeschichte halten sollte.
Ausführlich werden die besonderen Beiträge von The Velvet Underground, Jimi Hendrix und The Beatles zur Musikkultur jener Zeit gewürdigt, die wechselseitige Inspiration zwischen Beach-Boys-Mastermind Brian Wilson und den Beatles, bevor auch die bis dato von der Beat Generation kaum berührte Bundesrepublik auf die Einflüsse aus den USA und London reagierte.
Die künstlich arrangierte Gruppe Monks nimmt laut Hofacker eine Schlüsselstellung ein und wird als Wegbereiter für den Krautrock ebenso wie für den Industrial, Punk und Indie-Rock gepriesen. Das Magical Mystery Year 1967 wird abschließend ausführlich in den kulturhistorischen Kontext gestellt, als Aufbäumen einer ganzen Generation gegen das Establishment, auch wenn ab 1968 die zuvor von dort ausgebrochenen Menschen wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückgeführt wurden.
All das beschreibt Hofacker mit fundierten Hintergrundverweisen und geradezu leidenschaftlich in seiner Liebe zur Musik und ihren Schöpfern, wobei jede musikalische Neuerung in ihren gesellschaftspolitischen Kontext gestellt wird, ob es sich um die Pop-Art bei Andy Warhol und seinen Einfluss als Mentor auf die Velvet Underground oder den Bauhaus-Stil auf die deutsche Band Monks handelt.
Viele schöne Fotos und ein ausführliches Literaturverzeichnis runden diesen schmuck gestalteten Hochglanzband wunderbar ab. 
Leseprobe Ernst Hofacker - "1967 - Als Pop unsere Welt für immer veränderte"

Annie Proulx – „Aus hartem Holz“

Mittwoch, 7. Juni 2017

(Luchterhand, 894 S., HC)
Im Jahre 1693 machen sich die beiden Franzosen René Sel und Charles Duquet auf die abenteuerliche Reise nach Neufrankreich, dem heutigen östlichen Kanada, wo sie von einem besseren Leben träumen. Fasziniert von den endlosen Wäldern voller Baumriesen und undurchdringlicher Wildnis, schlagen sie sich als Holzfäller durch. Nach drei Jahren bei ihrem Dienstherrn Claude Trépagny steht ihnen dann eigenes Land zu.
Während Sel sich geduldig abmüht und schließlich mit Mari die indianische Geliebte seines Herrn heiratet, macht sich Duquet frühzeitig aus dem Staub, handelt zunächst mit Pelzen und Fellen, die er den Indianern für gepanschten Rum und Whiskey abgekauft hat und gründet in Boston seine eigene Holzhandlung. Bald unterhält Duke & Sons geschäftliche Beziehungen nach Europa, China und Neuseeland. Während Maris – und teilweise auch Sels - Kinder Elphège, Theotiste, Achille, Noë und Zoë die Tradition der Mi’kmaq fortführen, führen Duquet und seine beiden Brüder das Abholzen der nordamerikanischen Wälder in großem Stil fort …
„Armenius Breitsprecher starrte schweigend ins Feuer. Nicht zum ersten Mal stellte er fest, dass Duke & Sons gierig genug war, um den gesamten Kontinent abzuholzen. Und er half ihnen dabei. Er verabscheute die amerikanische Kahlschlagpolitik, die aberwitzige Verschwendung von gesundem, wertvollem Holz, die Zerstörung des Bodens, die unweigerlich folgende Erosion, die Vernichtung des Lebens in den Wäldern ohne einen Gedanken an die Zukunft.“ (S. 580) 
Bereits mit ihrem ersten Roman „Postkarten“ (1992) erhielt die heute 82-jährige Annie Proulx den renommierten PEN/Faulkner Award, für das von Lasse Halmström erfolgreich verfilmte Nachfolgewerk „Schiffsmeldungen“ sogar den Pulitzer Preis und den National Book Award. Seither ist Proulx aus der nordamerikanischen Literaturszene nicht mehr wegzudenken. Allerdings hat es mehr als zehn Jahre gebraucht, dass sie nach „Mitten in Amerika“ mit „Aus hartem Holz“ einen neuen Roman vorlegt, der es wahrlich in sich hat.
Auf knapp 900 Seiten entwickelt die in Seattle lebende Autorin gleich zwei Familiengeschichten, die sie über drei Jahrhunderte begleitet. Während die Sels auf der einen Seite durch die Heirat auch immer ihre indianischen Wurzeln pflegen und sich der Natur nur zur Befriedigung ihrer eigenen überschaubaren Bedürfnisse bedienen, sehen Charles Duke, seine beiden Brüder und all ihre Nachfahren in dem unerschöpflich erscheinenden Holzvorrat nur eine Gelddruckmaschinerie, über deren Nachhaltigkeit gar nicht nachgedacht werden muss.
Gerade im ersten Drittel des monumentalen Romans gelingt es Proulx, die besondere Aufbruchstimmung einzufangen, die die beiden Franzosen in die neue Welt mitbringen. Das Figurenensemble bleibt noch überschaubar, wird aber durch die zahlreichen Kinder, Adoptionen und Kindeskinder zunehmend komplexer und verwirrender. Das Leben der Siedler, Holzfäller, indianischen Ureinwohner und Händler beschreibt die Autorin absolut realistisch, doch erhebt sie schnell und wiederkehrend den moralischen Zeigefinger, weist dezidiert auf den fortschreitenden Raubbau und die gnadenlosen Umweltsünden hin, die sich allein aus der Gesinnung des Duke-Clans und seiner Handlungen erschließen.
Zum Ende hin scheint Proulx dann doch etwas die Luft auszugehen, nachdem schon in den vorangegangenen Hunderten von Seiten eigentlich schon alles gesagt worden ist und die Fasern der Sel- und Duke-Stammbäume kaum noch nachzuvollziehen sind. So wirkt „Aus hartem Holz“ gleichermaßen wie ein Familien- und Entwicklungsroman, wie die Dokumentation einer grausamen Umweltzerstörung, aber er zeigt auch ganz schnörkellos das Leiden und Sterben armer wie reicher Menschen, Überlebens- und Gewinnmaximierungsstrategien und schließlich den verzweifelten Kampf von Umweltschützern. Über weite Strecken ist der Roman sehr lesenswert, dann aber auch über die Maßen belehrend und langatmig.
Leseprobe Annie Proulx - "Aus hartem Holz"

„Lexikon des internationalen Films 2016“

Samstag, 3. Juni 2017

(Schüren, 544 S., Pb.)
Obwohl der Großteil der Filminteressierten die für ihn relevanten Informationen aus den Weiten des World Wide Web bezieht, ist das von der Zeitschrift „Filmdienst“ und der Katholischen Filmkommission für Deutschland herausgegebene „Lexikon des internationalen Films“ zum Glück nach wie vor eines der wenigen, zudem sehr verlässlichen Informationsquelle geblieben, zumal das einzige, das noch in Printform vorliegt.
Das liegt nicht nur an dem umfassenden Rückblick auf das vergangene Filmjahr, an der Auflistung aller Filme, die in einem Jahr im Kino angelaufen und für das Heimkino (TV, DVD, Blu-ray) verfügbar gemacht worden sind (jeweils mit den relevanten Angaben zum Stab, kurzer Inhaltsangabe und Kurzkritik), sondern auch an dem informativen Mehrwert, den das redaktionell sorgfältig aufbereitete Rahmenprogramm bereitstellt.
Das besteht in der neuen Ausgabe zunächst mit dem Hinweis darauf, dass angesichts des eingangs erwähnten Nutzerverhaltens die Zeitschrift „Filmdienst“, auf deren Arbeit das „Lexikon des internationalen Films“ beruht, ab 2018 ihre Angebote nur noch online präsentieren wird, und in einem nach Monaten gegliederten Jahresrückblick, in dem nicht nur den vielen 2016 verstorbenen Filmschaffenden wie Alan Rickman, Jacques Rivette, Götz George, Bud Spencer, Garry Marshall, Andrzej Wajda und Manfred Krug gedacht wird, sondern auch ausgesuchte deutsche Filmemacherinnen, internationale Filmfestivals und besondere Filme vorgestellt werden. Es folgt die persönliche und ausführlich kommentierte Bestenliste von zehn Filmen, die die „Filmdienst“-Redakteure für das Jahr 2016 zusammengestellt hat, sowie – besonders lesenswert – ein Redaktions-Special zum Thema „TV-Serien“.
Hier wird in verschiedenen Essays z.B. darüber referiert, was heutzutage die Faszination von Serien ausmacht, wie Filmklassiker zu Serien verarbeitet werden und wie sich die Serie „Mad Men“ zu einem stilbildenden Kunstwerk entwickelte. Dazu werden 40 ausgesuchte Serien (u.a. „True Detective“, „Penny Dreadful“, „Hannibal“, „Better Call Saul“ und die drei Marvel-Serien „Daredevil“, „Jessica Jones“ und „Luke Cage“) ausführlich präsentiert.
„Offenbar wächst mit dem Gewitter der Facebook-Posts, Tweeds und YouTube-Videoschnipsel auch das Bedürfnis, sich aus eben diesem Gewitter auch einmal zurückzuziehen und sich in eine fiktive Welt zu vertiefen, die sich wie ein neuer Kontinent vor einem ausbreitet.“ (S. 58)
Schließlich ermöglicht die Struktur von Serien eine Erweiterung der Perspektiven, mit denen ein Thema oder Milieu beleuchtet werden kann, und die Freiheit zu Experimenten bei Stil und Inhalt, womit das Spielfilmformat oft nicht mithalten kann.
Nach dem lexikalischen Hauptteil werden aus dem Jahr 2016 noch herausragende Silberlinge, internationale Filmfestivals mit den Gewinnerfilmen und Register mit den Regisseuren und Originaltiteln bereitgestellt, so dass dem Filmfan nicht nur eine alphabetische Auflistung aller 2016 – immerhin gut 2000 - veröffentlichten Filme geboten wird, sondern auch ausgesuchte Essays, Infoblöcke, Biografien und Kritiken, die zur weiteren Auseinandersetzung mit Themen, Filmen und Serien anregen.

Peter Vignold – „Das Marvel Cinematic Universe“

Mittwoch, 31. Mai 2017

(Schüren, 173 S., Pb.)
Comic-Adaptionen für die große Leinwand sind seit den Erfolgen von „Superman“, „Batman“ und „Spider-Man“ zunehmend ein Garant für Kassenschlager. So kann es kaum verwundern, dass das Major Independent Filmstudio Marvel Studios mittlerweile das international erfolgreichste Filmfranchise ist und das Franchise um „Harry Potter“ im Jahr 2015 um rund eine Milliarde US-Dollar hinter gelassen hat.
Glücklicherweise kann Marvel auf ein umfangreiches Figurenensemble des in den 1960er Jahren gegründeten Comic-Verlags zurückgreifen und hat für sein daraus resultierendes Marvel Cinematic Universe (MCU) darauf ausgerichtet, in den nächsten Jahren eine Reihe von weiteren Filmen, Fernsehserien und Videospielen zu produzieren, die äußerst raffiniert miteinander verknüpft sind.
Wie dieses MCU strukturiert ist, zeigt der an Ruhr-Universität Bochum arbeitende und u.a. für das Filmmagazin „Deadline“ schreibende Peter Vignold in seiner Arbeit „Das Marvel Cinematic Universe – Anatomie einer Hyperserie“ auf, die auf seiner mit dem „Preis an Studierende 2016“ ausgezeichnete Examensarbeit über Cinematic Universes basiert.
Entsprechend wissenschaftlich liest sich die recht kurze Abhandlung über das MCU, die sich zunächst um Definitionen der Begriffe Cinematic Universe und Hyperserie bemüht. Dabei wird am Beispiel von „Matrix“ das transmediale Erzählen über verschiedene Medienkanäle hinweg beschrieben, dann das transmediale Franchising bei „Der Herr der Ringe“ und „Harry Potter“, bevor der Autor mit „X-Men“ die Ausformung einer multilinearen Hyperserie aufzeigt.
Den Hauptteil des schmalen, aber höchst informativen und fundiert geschriebenen Bandes nimmt die Darstellung der momentan drei Phasen ein, in denen sich das MCU ausgebildet hat, beginnend mit den Filmen „Iron Man“, „Incredible Hulk“, „Captain America: First Avenger“ und „Thor“ über deren Sequels und die als Knotenpunkte fungierenden Filme „The Avengers“ und „Avengers: Age Of Ultron“, in denen verschiedene Superhelden zusammengeführt werden.
Dabei sorgen intertextuelle Verlinkungen wie beispielsweise durch den Tesseract in „Thor“, „Captain America: The First Avenger“ und „The Avenger“ oder S.H.I.E.L.D.-Agent Phil Coulson in „Iron Man“ und der Serie „Agents Of S.H.I.E.L.D.“ sowie die speziellen „Post-Credits-Scenes“, die narrativ auf nachfolgende Filme hinweisen, für entsprechende Verweise auf andere Filme des MCU.
 „Die Mittel, mit denen die Binnenserien der Hyperserie MCU interserielle Kohärenz ausbilden, sind simpel, aber effektiv. Dies geschieht durch Überschneidungen des Figurenpersonals, das sich mitunter quer durch mehrere Binnenserien bewegt und deren diegetischen Zusammenhalt bewirkt. ‚Post-Credits-Scenes‘ am Ende der Filme signalisieren die Weitergabe von Handlungssträngen von einem Film zum folgenden und legen dem Publikum nah, unterschiedlich betitelte Binnenserien als Teile eines größeren Zusammenhangs zu betrachten.“ (S. 117) 
Vignold stellt die Zusammenhänge zwischen den Binnenserien – auch mit grafischen Abbildungen - ebenso anschaulich dar wie die Einzelteile des MCU, wobei allerdings weniger auf die Comics, Videospiele und das Merchandising eingegangen wird als auf die eigentlichen Film-Franchises. Abgesehen vom übermäßigen Gebrauch von Fremdwörtern wie „diegetisch“ (etwa: erzählend, erörternd) lässt sich die wissenschaftliche Abhandlung auch für Nicht-Wissenschaftler überwiegend gut lesen und wartet mit einer Fülle von interessanten Bezügen und versteckten Details zwischen den einzelnen Filmen und TV-Serien auf.
Im Anhang werden tabellarisch nicht nur die Einspielergebnisse des „X-Men“-Franchise, des MCU und der US-Filmfranchises aufgeführt, sondern auch die Inhalte der einzelnen MCU-Filme skizziert.
Leseprobe Peter Vignold - "Das Marvel Cinematic Universe"

Andrea De Carlo – „Vögel in Käfigen und Volieren“

Samstag, 27. Mai 2017

(Diogenes, 291 S., HC)
Ein Telegramm von seinem Vater bringt den Stein ins Rollen. Nachdem Fjodor Barna in Kalifornien mit seinem MG einen Autounfall verursacht hat, bei dem es zum Glück nur einen – wenn auch erheblichen – Sachschaden zu beklagen gibt, nimmt er eher ungerührt zur Kenntnis, dass er fünfzig Jahre brauchen würde bei dem, was er als Musiker verdient, um die Kosten bezahlen zu können. Als er seinen reichen Vater in Peru besucht, wo dieser seltene Vögel züchtet, wird der 21-Jährige nach New York geschickt, wo sein erfolgreicher Bruder ihn in dessen Unternehmen MultiCo eingliedern soll.
Fjodor lässt sich gleich nach Mailand versetzen, an den Ort seiner Kindheit, an die er nur noch verschwommene Erinnerungen besitzt. Fjodor wird mit einer ebenso uninteressanten wie gutbezahlten Arbeit betraut, die ihm nicht im Geringsten interessiert. Das ändert sich erst, als er den Maler Mario Oltena und seine geheimnisvolle Schwester Malaidina kennenlernt, der Fjodor sofort verfällt. Allerdings lebt sie mit einem Mann zusammen, ihr Wohnsitz ist aber selbst ihrem Bruder unbekannt. Für Fjodor beginnt eine Zeit voller Ungeduld und Ungewissheit, denn Malaidina scheint zwar auch an Fjodor interessiert, begibt sich aber immer wieder auf die Flucht, bis nach Korinth und Athen, wohin der junge Mann ihr atemlos nachreist …
„Ich habe Hunger, aber keine Lust zu essen; ich habe keine Lust zu denken, dass ich Hunger habe. Ich gehe, ohne die Füße sehr weit vom Boden zu heben, folge mit den Augen der Bordsteinkante. Ich gehe mechanisch, und meine Gedanken sind eingeschlossen in eine Art Käfig aus kondensierter Unruhe und Erregung, der mich hindert, weite Gesten oder Gesichtsausdrücke zu machen, auch wenn ich es wollte.“ (S. 287) 
Gleich mit seinem ersten, 1981 erschienenen Roman „Creamtrain“ ließ der Mailander Schriftsteller Andrea De Carlo aufhorchen. Sein ein Jahr darauf veröffentlichtes Werk „Vögel in Käfigen und Volieren“ folgt dem gerade erwachsen gewordenen Ich-Erzähler Fjodor, wie er aus der sonnigen Unbekümmertheit in Kalifornien, in der er dank seines wohlhabenden Vaters leben darf, in Europa endlich sein Leben in die Hand, etwas aus ihm machen soll.
Doch der bisher in den Tag hineinlebende Fjodor fühlt sich von Beginn an fremd in der Arbeitswelt, in der er keinen Sinn entdecken kann. Ihm ist das Künstlerleben, das die Geschwister Mario und Malaidina führen, weitaus sympathischer. De Carlo gelingt es bereits mit den ersten Seiten, seinen Protagonisten als orientierungslosen wie unbekümmerten Bohemien zu charakterisieren, der erst aus Liebe zu einer geheimnisvollen und undurchdringlichen Frau ein Ziel findet, das seinem bis dato sinnleeren Leben einen Ausweg bietet. Dass er sich dabei in durchaus lebensbedrohliche Situationen begibt, scheint seinem Antrieb nur noch mehr Feuer zu verleihen und seinen Willen zu stärken.
Die immer wieder thematisierten Vögel und Käfige stehen dabei offensichtlich für die Freiheit und ihre Einschränkungen, und Fjodor setzt alles daran, seinen eigenen Käfig zu verlassen und das Leben und die Liebe mit jeder Faser seines Körpers, seines Geistes zu spüren. Das Erzähltempo fängt gemächlich an und steigert sich bis zu einem atemlosen Finale, das bei allen Liebesdingen auch einen Hauch von Hitchcock-Spannung bereithält.

Jack Ketchum & Lucky McKee – „Scar“

Donnerstag, 25. Mai 2017

(Heyne, 319 S., Pb.)
Im Leben der Familie Cross dreht sich alles um die elfjährige Delia Cross. Sie ist als Darstellerin in Werbeclips die einzige, aber gute Einnahmequelle der Familie. Während ihre Mutter Pat sich um die Vermarktung kümmert und eine Affäre mit Delias Agenten Roman unterhält, soll sich ihr Vater Bart eigentlich um die Finanzen kümmern, vergnügt sich aber lieber mit seinen Spielzeugen wie dem mächtig aufgemotzten Firebird oder dem neuen Riesenflachbildschirm-Fernseher. Dass er darüber vergisst, eine Anschluss-Krankenversicherung für Delia abzuschließen, nachdem er die alte gekündigt hat, kommt der Familie allerdings teuer zu stehen. Gerade als Delia eine Rolle in einer Sitcom mit dem Star Veronica Smalls erhält, sorgt ein tragischer Unfall für das abrupte Ende eines Bilderbuch-Märchens.
Während Pat aus jeder Notlage noch Profit zu schlagen versucht und das Schicksal ihrer Tochter in einem Buch und in verschiedenen Fernsehshows ausschlachtet, lehnt sich die nach dem Unfall missgestaltete Delia zunehmend gegen die Pläne ihrer herrschsüchtigen, von Ehrgeiz getriebenen Mutter auf.
„Pat bezweifelt, dass das hier jemals ausgestrahlt werden wird, und sie fragt sich, ob überhaupt irgendwas davon ins Fernsehen kommt. Mit einem Mal ist sie stocksauer auf Delia. Sie hat die Schnauze voll von ihren Überraschungen, ihren egoistischen Spielchen. Warum zum Teufel folgt sie nicht dem beschissenen Drehbuch wie alle anderen auch? Für wen hält sie sich?“ (S. 224) 
Allmählich geraten vor allem Delias treue Gefährtin, die Australian-Cattle-Hündin Caity, und Delias eifersüchtiger Bruder Robbie ebenso in emotionale Schieflagen wie der an sich gutmütige, aber kaum mannhafte Bart. Der steigende Alkoholkonsum von Delias Eltern führt schließlich zur Katastrophe …
Dass Jack Ketchum auf bislang fünf Bram Stoker Awards und eine wachsende Anzahl von Verfilmungen seiner Werke („Red“, „Beutegier“) zurückblicken kann, kommt nicht von ungefähr, denn mit seiner klaren Sprache und einem ausgeprägten Sinn für knackige Plots und detailliertes Grauen entwirft der ehemalige Literaturagent von Henry Miller und Babysitter von Lady Gaga regelmäßig Drehbücher für das blutige Kino im Kopf.
Die erneute Zusammenarbeit mit Lucky McKee nach der Verfilmung von „Beuterausch“ kann an diese Qualitäten leider nur bedingt anknüpfen. Im Vordergrund von „Scar“ steht die ungewöhnlich innige Beziehung zwischen der hübschen und talentierten Delia und ihrer Hündin Caity, die bis zum blutigen Finale eine Schlüsselrolle in der Geschichte einnimmt. An die inneren Monologe gerade des Hundes muss sich der Leser dabei ebenso gewöhnen wie an die grob und oberflächlich gezeichneten Figuren. Bei dem mehr als überschaubaren Ensemble wäre an dieser Stelle durchaus mehr Sorgfalt angebracht gewesen. So gerieren sich vor allem Delias Eltern als ganz und gar unsympathische Nutznießer des Ruhms, den Delia der Familie beschert.
Wie sehr Pat dabei den Bogen überspannt und für die katastrophale Entwicklung der Ereignisse sorgt, macht die Geschichte aber nicht glaubwürdiger. Selbst die offensichtliche Kritik an der Rolle der Medien bei der Ausschlachtung von persönlichen Tragödien und an der Raffgier ehrgeiziger Eltern, die die Fürsorge ihren Zöglingen gegenüber aus den Augen verlieren, bleibt allzu oberflächlich.
Zwar bietet „Scar“ ein rasantes Leseerlebnis, wartet mit leicht übernatürlich inszenierten Elementen auf und einem straff inszenierten Plot, doch bleibt das Buch in Sachen Spannung und Horror weit hinter den bisherigen Ketchum-Werken zurück. 
Leseprobe Jack Ketchum & Lucky McKee - "Scar"

Kat Kaufmann – „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“

Dienstag, 23. Mai 2017

(Tempo, 271 S., HC)
Von seinem Opa Ernst erbt Jonas einen Umschlag mit 5000 Euro und einer in zittriger, kaum leserlicher Schrift verfasster Botschaft: „Moskau, Finde diesen Mann! Finde ihn und …“ Ob es diesen Valeri Butzukin überhaupt gibt, fragt sich Jonas, denn bei Google scheint er nicht zu existieren. Dennoch wagt er sich auf eine abenteuerliche Odyssee, als er feststellt, dass die seit fünf Monaten laufende Beziehung mit Sina nicht das Wahre ist, seine Mutter ihm in fünfundzwanzig Jahren vorenthalten hat, wer sein Vater ist, und sie davon ausgeht, dass er kurz vor Abschluss seines Examens steht, für das er sich aber gar nicht angemeldet hat.
In dem russischen Club Lavka erkundigt sich Jonas nach einem Pass und lernt die beiden Chaoten Juri und Stas kennen. Zusammen machen sie Nägel mit Köpfen: Jonas fackelt seine eigene Bude ab und reist mit den beiden jungen Männern nach Moskau, wo er sich in einem Club in Yulia verliebt. Doch das ist erst der Anfang eines wahnwitzigen Trips, bei dem Jonas nicht nur mit der Möglichkeit eines neuen Kalten Krieges, sondern auch mit seiner Einsamkeit konfrontiert wird.
„Du weißt nichts von deinem Opa, außer dass er ein Spitzenopa war, dein einziger wirklicher Freund, und den Faustkampf mochte. Du weißt gar nichts von deiner Familie. Weder von deinem Urgroßvater noch von sonst wem. Weil dein ganzes Leben schon immer nur aus Anne und Ernst bestanden hat, und, irgendwie dazwischen, halt Peter. Die anderen wurden nur namentlich erwähnt. Es gab sie nicht.“ (S. 156) 
Für ihren ersten Roman „Superposition“ wurde die aus Sankt Petersburg stammende und in Berlin lebende Autorin, Fotografin und Komponistin Kat Kaufmann 2015 mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Entsprechend ambitioniert präsentiert sich die Tochter eines Regisseurs und einer Balletttänzerin auch in ihrem neuen Roman mit dem programmatischen Titel „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“.
Schon der Prolog fordert dem Leser einiges an Aufmerksamkeit, Konzentration und Geduld ab. Statt klar strukturierter Sätze in einfacher Sprache wird der Leser mit den in zweiter Person verfassten Monologen des Protagonisten konfrontiert, der scheinbar dem Wahnsinn nah zu sein scheint. Dabei hat die Geschichte durchaus das Potenzial, anhaltendes Interesse zu wecken, denn der wieder stärkere Konflikt zwischen Russland und dem Westen nimmt in Kaufmanns Buch sehr konkrete Formen an, wie die gelegentlich platzierten Nachrichten vor Augen führen, die als Lauftext in den Fußzeilen über mehrere Seiten eingefügt sind. Auch die Dialoge wirken stellenweise authentisch und amüsant, können aber keine Konstanz in der sehr wechselhaften Erzählstruktur erzeugen.
So interessant die Figuren und ihre Schicksale auch sein mögen, werden sie doch nicht tiefergehend gezeichnet. Indem die durchaus talentierte und auf unorthodoxen Pfaden wandernde Autorin ihre Geschichte immer wieder ihren Sprachkapriolen opfert, entwickeln Jonas und seine Gefährten keine Identifikationspotenziale, noch vermag der holprig inszenierte Plot eine dramaturgische Spannung erzeugen.