Jardine Libaire – „Uns gehört die Nacht“

Montag, 6. August 2018

(Diogenes, 457 S., Pb.)
Elise Perez ist froh, endlich dem Sozialwohnungskomplex in der South Bronx entkommen zu sein und in New Haven in der Wohnung von Robbie, der am South Central Community College Flugzeugtechnik studiert und nebenbei im Red Lobster kellnert, ein neues Zuhause gefunden zu haben. Elise, Anfang Zwanzig, halb Puerto-Ricanerin, halb Amerikanerin, findet einen Job in einer Zoohandlung und lernt nach drei Monaten im Januar 1986 ihre Nachbarn James und Matt kennen, die aus einer ganz anderen Welt stammen.
Während Elise ohne Vater und ohne Schulabschluss aufgewachsen ist, stammt James aus der schwerreichen Investmentbankerfamilie Hyde, Moore & Kent, seine Mutter Tory ist eine berühmte Schauspielerin. Trotzdem lädt James Elise zum Abendessen ein, lässt sich zum Abschied zu einem Blow Job verführen und ist ganz hin und weg von Elise. James‘ Familie ist von dem nicht standesgemäßen Umgang natürlich alles andere als begeistert, doch davon lässt sich der Yale-Student nicht irritieren. Stattdessen will er sogar sein Erbe ausschlagen, die Uni abbrechen und mit Elise zusammenziehen.
„Vielleicht sind Elise und Jamey ihr eigenes Volk, vielleicht gehören sie zu niemandem sonst, zu nichts Größerem als zueinander. Können wir so leben? Darüber denkt Elise nach, als sie sich müde die schwarzen Turnschuhe aufschnürt, an deren Sohlen Gold klebt.“ (S. 329) 
Doch über dem jungen Glück schwebt eine dunkle Bedrohung, die nicht nur von dem Groll des Hyde-Clans herrührt …
Nachdem die in New York geborene und in Austin, Texas, lebende Jardine Libaire Kurzgeschichten im New York Magazine, in der Los Angeles Review of Books und in Elle veröffentlicht hat, legt sie mit „Uns gehört die Nacht“ ihr Romandebüt vor, das passenderweise durch ein Zitat aus Shakespeares „Romeo und Julia“ eingeleitet wird. Ihre außergewöhnliche Liebesgeschichte, die aus einer Affäre entsteht und über anfängliche Neugier und wachsendem Interesse ganz kompromisslose Wege einschlägt, wirkt wie eine moderne Variante von Shakespeares Tragödie, und auch James und Elise scheint ein ähnliches Schicksal zu drohen wie ihren berühmten „Vorbildern“.
Der Autorin gelingt es erstaunlich gut, die ausgetretenen Pfade einer Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen zu umschiffen, indem sie vor allem mit wunderbaren Vergleichen und einer eigenen Sprache arbeitet, die den unterschiedlichen Gefühlen der Liebenden eine sehr individuelle Note verleiht – bis zum Shakespeare-würdigen Finale.
Leseprobe Jardine Libaire - "Uns gehört die Nacht"

Karin Slaughter – „Ein Teil von ihr“

Mittwoch, 1. August 2018

(HarperCollins, 544 S., eBook)
Eigentlich war es immer Andys Traum gewesen, in New York zu leben und zu arbeiten, doch nach sechs Jahren muss sie deprimiert feststellen, dass sie nicht vom Fleck gekommen ist. Aus ihrem Wunsch, sich einen Platz im Umfeld der Stars zu sichern, ist nur ein Assistenz-Job bei einem Bühnenbildner für eine Off-Broadway-Produktion und eine Affäre mit ihrem Professor am College für Kunst und Design herausgesprungen. Zwei Semester vor dem Abschluss ihres Theater-Studiums packt sie die Koffer und kehrt zu ihrer an Brustkrebs erkrankten Mutter Laura Oliver nach Belle Isle zurück, wo sie in einem Diner im Einkaufszentrum auf ihren 31. Geburtstag anstoßen wollen. Doch als sich die Frau eines von Lauras Patienten mit ihrer Tochter für die Wunder bedanken will, die sie an ihrem Mann bewirkt hat, stürmt ein Mann das Restaurant und erschießt die beiden zu Laura und Andy gestoßenen Frauen.
Als der Mann auch Laura und Andy mit einem Jagdmesser bedroht, geht Andy in Deckung, ihre Mutter reagiert dagegen ausgesprochen überlegt und bringt den Täter durch einen Schnitt über seine Kehle kurzerhand um. Nicht nur die Medien fragen sich nach Sichtung des Videomaterials von der spektakulären Aktion, warum Laura den Mann nicht einfach überwältigt hat, sondern ihn töten musste. Auch Andy erkennt ihre eigene Mutter nicht mehr wieder, zumal Laura von ihr verlangt, sofort auszuziehen und nichts zu dem Vorfall auszusagen.
Tatsächlich reicht die Vorgeschichte bis ins Jahr 1986 zurück, als sich die aufstrebende Pianistin Jane in einen charismatischen jungen Mann verliebt hat, der es auf das Imperium von Martin Queller abgesehen hat, der das Wohlfahrtssystem mit seinen Krankenhäusern und Pflegeheimen um ein Vermögen betrogen hat. Bei einer Podiumsdiskussion in Oslo erschoss Jane den Queller-Patriarchen und ist seither mit ihrem falschen Namen auf der Flucht gewesen …
„Erst in der sicheren Abgeschiedenheit Berlins hatte Jane erkannt, dass Angst sie ihr ganzes Leben lang begleitet hatte. Jahrelang hatte sie sich eingeredet, Neurosen seien der Fluch einer erfolgreichen Solokünstlerin, aber was sie in Wahrheit vorsichtig auftreten, ihre eigenen Worte zensieren, ihre Emotionen anpassen ließ, war die erdrückende Präsenz der beiden Männer in ihrem Leben.“ (Pos. 4991) 
Mit ihren Grant-County-, Atlanta- und Georgia-Krimireihen um die Gerichtsmedizinerin Sara Linton und Will Trent, Special Agent beim Georgia Bureau of Investigation, hat sich Karin Slaughter in kürzester Zeit zu einer internationalen Bestseller-Autorin entwickelt. Allerdings haben diese Reihen in den letzten Jahren stark an Qualität eingebüßt, was für Slaughter Anlass gewesen sein könnte, seit 2013 vermehrt eigenständige Romane wie „Cop Town“, „Pretty Girls“ und „Die gute Tochter“ zu schreiben.
Mit ihrem neuen Thriller „Ein Teil von ihr“ setzt die US-amerikanische Schriftstellerin diesen Trend fort und knüpft thematisch an „Die gute Tochter“ an, wo Slaughter versucht hat, einen Thriller-Plot mit einem Familiendrama zu verknüpfen.
„Ein Teil von ihr“ erzählt eigentlich zwei Geschichten, die ihren Anfang jeweils mit einem Mord nehmen und immer wieder zwischen 1986 und 2018 hin und herspringen, so dass die mühsam aufgebaute Spannung ebenso oft wieder abfällt. Das größte Problem besteht aber in den zwar sehr bemühten, aber absolut nicht überzeugenden Charakterisierungen der Hauptfiguren, von denen keine auch nur annähernd ein Identifikationspotenzial für den Leser besitzt.
So wirkt Lauras erwachsene, in New York kläglich gescheiterte Tochter Andy einfach nur naiv und unbeholfen, entwickelt im Verlauf der Geschichte aber auf einmal einen ausgeprägten detektivischen Spürsinn, mit dem sie zuletzt die wahre Identität ihrer Mutter aufdeckt. Trotz vieler Hintergründe und Unterhaltungen zwischen Andy und ihrer Mutter bleibt Laura eine verschlossene, geheimnisvolle Persönlichkeit, zu der der Leser ebenfalls keine Beziehung aufbauen kann.
Weitaus komplexer ist die Geschichte angelegt, die 1986 in Oslo ihren Anfang nimmt und vor allem die familiären Strukturen des Queller-Imperiums thematisiert sowie die unterschiedlichen Rollen, die die Sprösslinge des Familienoberhaupts bei dem Attentat spielen. Die Konstellation der Figuren und ihre Motivationen wirkt zunächst sehr interessant, doch sorgen allzu viele Abschweifungen dafür, dass das Interesse an der weiteren Entwicklung der Story schnell nachlässt.
Für Karin Slaughter und ihre Fans ist zu wünschen, dass sich die Autorin wieder auf ihre ursprünglichen Qualitäten in der Erzählung spannender Plots mit glaubwürdigen, gut gezeichneten Charakteren besinnt. 
Leseprobe Karin Slaughter - "Ein Teil von ihr"

Andrea De Carlo – „Arcodamore“

Dienstag, 24. Juli 2018

(Diogenes, 349 S., HC)
Nachdem sich der in Mailand lebende Fotograf Leo Cernitori vor drei Jahren von seiner Frau getrennt hat, ist er oft bei seinem Cousin und seiner Frau Tiziana zu Gast. Auf dessen Geburtstagsüberraschungs-Party, die seine Frau organisiert hat, bittet er Leo, ihm ein Alibi zu verschaffen, da er noch eine Verabredung habe – mit der attraktiven Harfenistin Manuela Duini. Leo kommt mit ihr bei dem gemeinsamen Treffen ins Gespräch und trifft seinerseits Verabredungen mit ihr. Im Gegensatz zu seinem Cousin führt Leo nämlich ein ganz ungebundenes Leben, zu dem seine beiden Kinder und eine Freundin in Venedig gehören, aber bislang haben seine Beziehungen stets einen ganz unverbindlichen Charakter.
 
Als er jedoch Manuela mit Haut und Haaren verfällt, lernt Leo eine ganz neue Seite an sich kennen: Auf den Einbruch in Manuelas Wohnung reagiert er mit Wut und Eifersucht. Er entdeckt nämlich Tagebücher von ihr, in denen sie von einer immerhin zwei Jahre andauernden Mann berichtet, der sie gedemütigt, verletzt und erpresst hat. Als Leo Manuela daraufhin zur Rede stellt, reagiert die Musikerin ebenso wütend, das Band zwischen ihnen scheint für immer zerrissen. Und doch nähern sie sich wieder an, vorsichtig, dann leidenschaftlich, voller Ungewissheit über ihr Schicksal.
„Mit großer Willensanstrengung ging ich auf Manuela zu, als müsse ich gegen ein umgekehrtes Magnetfeld ankämpfen. Wir sahen uns aus einem halben Meter Abstand mit leicht geöffneten Lippen an, in unserem Blick vermischten sich Anziehung und Misstrauen, Eifersucht und Ungewissheit, Bitterkeit und Süße.“ (S. 208) 
In seinem siebten Roman (nach Werken wie „creamtrain“, „Macno“, „Techniken der Verführung“ und „Zwei von zwei“) geht der Mailänder Schriftsteller Andrea De Carlo einmal mehr den komplexen Mechanismen der Liebe und Leidenschaft nach. Die erste Romanhälfte ist dabei noch ganz interessant, wenn er Leo, den er aus die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählen lässt, und die Stationen seines Lebens ebenso kurz skizziert wie seine Arbeit als Fotograf von unbewegten Objekten wie Möbeln, wobei sich aus der Beziehung zu seinem verheirateten Cousin und zu Manuela, die er ihm schließlich vor der Nase wegschnappt, die eigentlich interessante Story entwickelt. Doch sobald es nur noch darum geht, wie sich Leo und Manuela ineinander verlieben, leidenschaftlich lieben und begehren, dann wütend anschreien, Besitzansprüche stellen und nicht verstehen wollen, was der andere überhaupt für ein Problem hat, wirkt die ja leider nur aus einer Perspektive erzählten Geschichte zunehmend konstruierter.
Dabei bemüht De Carlo auch noch die aktuellen Korruptionsskandale in Italien, in die auch Manuelas Ex-Geliebter als Leiter eines Therapiezentrums verwickelt zu sein scheint. Allerdings wird diese Komponente so nebensächlich behandelt, dass sie auch weggelassen hätte werden können.
Wie sich Leo und Manuela begehren, bekriegen und wieder die Kurve zu kriegen scheinen und somit den im Romantitel angedeuteten „Liebesbogen“ durchleben, ist zwar voller knisternder Erotik und interessanter Gespräche über die Natur der Liebe, wirkt aber nicht wie die überzeugende Auseinandersetzung eines Paares, sondern wie eine theoretische Diskussion darüber, ob der Liebesbogen nach Erreichen des Höhepunkt sich nicht zu einer Gerade entwickeln kann.
Dennoch lässt sich „Arcodamore“ wunderbar schnell und leicht lesen, verführt mit sprachlicher Finesse und purer sexueller Leidenschaft, die allerdings wie aus dem Nichts auch ins andere Extrem umkippt.

Dan Simmons – „Kraft des Bösen“

Sonntag, 22. Juli 2018

(Heyne, 793 S., Jumbo)
Die drei „Gedankenvampire“ William Borden, Nina Drayton und Melanie Fuller haben einen Wettkampf daraus gemacht, sich beim Manipulieren und Benutzen anderer Menschen zu überbieten, oftmals um aufsehenerregende Attentate zu verüben. Als nach einem ihrer alljährlichen Treffen in Melanies Haus in Charleston im Dezember 1980 die Nachricht die Runde macht, dass Will bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist, verdächtigt Melanie die plötzlich wie vom Erdboden verschwundene Nina, für den Unglücksfall verantwortlich gewesen zu sein, macht sie in einem Hotel ausfindig und erschießt sie nach kurzem Gedanken-Wettstreit.
Sheriff Bobby Joe Gentry übernimmt mit Unterstützung von FBI Special Agent Richard M. Haines die Ermittlungen bei den insgesamt neun Todesfällen, wobei Saul Laski, der Psychiater der getöteten Nina Drayton, Licht ins Dunkel des sogenannten Charleston-Massakers bringen soll. Laski wiederum hatte 1942 im Konzentrationslager von Chelmno bereits Kontakt zu Gedankenvampiren gehabt.
Laski begegnet der Kunststudentin Natalie Preston, deren Vater eines der Opfer des Massakers gewesen war, und macht sich mit ihm und Gentry auf die Suche nach den mysteriösen Manipulatoren. Offensichtlich sind sie nicht die einzigen, die mit dieser Fähigkeit ausgestattet sind. Laski ist der Überzeugung, dass der angeblich getötete Will Borden jener Standartenführer Wilhelm von Borchert ist, der ihm im SS-Konzentrationslager vor fast vierzig Jahren so zugesetzt hat. Zusammen mit Natalie macht sich Laski auf die Suche nach Borchert und kommt dabei einer mächtigen Gruppe von Männern auf die Spur, die sich jedes Jahr für eine Woche auf der unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen abgeschirmten Dolmann Island treffen, um ihre Macht über ihre sogenannten Surrogate zu demonstrieren, über Menschen, die sie durch ihre manipulativen Fähigkeiten zu willenlosen Werkzeugen ihrer zerstörerischen Triebe machen.
Mit Hilfe von Freunden beim israelischen Geheimdienst gelingt es den beiden, die Sicherheitsbarrieren zu durchbrechen, doch ihr Plan, Borchert und seine mächtigen Freunde auszuschalten, birgt etliche Risiken, zumal nach wie vor Melanie Fuller ihre Fühler nach Natalie ausstreckt.
„Natalie wusste, die Gerechtigkeit verlangte, dass sie blieb und den Plan bis zum Ende ausführte, aber Gerechtigkeit nahm augenblicklich in ihrem Herzen die zweite Stelle ein, an erster kam der zunehmende Wunsch, Saul zu retten, wenn es überhaupt eine Chance gab.“ (S. 710) 
Seit seinem mit dem World Fantasy Award ausgezeichneten Debütroman „Göttin des Todes“ (1985) hat der amerikanische Schriftsteller Dan Simmons vor allem seine Spuren im Science-Fiction-Genre hinterlassen, aber immer wieder auch Horror-Romane geschrieben, die regelmäßig mit dem Locus Award prämiert worden sind. Sein zweiter Roman, „Kraft des Bösen“, wurde 1989 sogar zusätzlich mit dem Bram Stoker Award ausgezeichnet und zählt zu den großen epischen Horror-Romanen des 20. Jahrhunderts. Auf fast 800 großformatigen Seiten (die entsprechende Taschenbuchausgabe bringt es sogar auf 1200!) entfaltet Simmons ein beängstigendes Szenario, in denen Gedankenvampire ihre Lebensenergie dadurch auf einem stets hohen Level halten, indem sie die Kontrolle über nahezu beliebige Menschen gewinnen, ihren Verstand anzapfen und sie die Dinge tun lassen, die sie ihnen so auftragen.  
Simmons nimmt sich dabei sehr viel Zeit, die jeweilige Biografie seiner Figuren zu schildern, die besondere Freundschaft und den ebenso spielerischen wie für die Beteiligten todernsten Wettkampf zwischen William Borden, Nina Drayton und Melanie Fuller auf der einen Seite und auf der anderen Seite die perfiden Sommerlager, die der mächtige C. Arnold Barent in seinem illustren Island Club veranstaltet, zu dem der prominente Fernsehprediger Jimmy Wayne Sutter und der Joseph Kepler zählen und zu dem nun auch der Filmproduzent Tony Harod stößt. Immer wieder werden dabei Bezüge zu realen Ereignissen – wie den Attentaten auf Kennedy und Reagan – hergestellt, was dem fiktiven Stoff eine zunehmend reale Dimension verleiht.
Dass sich bei einer so episch angelegten Geschichte auch verschiedene Längen einschleichen, liegt fast in der Natur der Sache, aber Simmons verfügt über einen so packenden Schreibstil, dass dies gerade zum turbulenten Finale hin kaum noch ins Gewicht fällt.

Trotz der extrem ausführlichen Schilderungen hätten die Charakterisierungen der Figuren etwas differenzierter ausfällen können. Allein Saul Laski gewinnt durch seine eindringlich geschilderten Erinnerungen an seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg ein tieferes Profil, und auch Melanie Fuller darf als Einzige aus der Ich-Perspektive ihre Konturen schärfen.

David Lynch & Kristine McKenna – „Traumwelten“

Freitag, 20. Juli 2018

(Heyne, 765 S., HC)
Seit David Lynch mit seiner wundersamen und in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Mystery-Drama-Serie „Twin Peaks“ 1990 die Fernsehwelt revolutionierte und für neue Serien-Formate zugänglich machte, hat er den Cineasten auf der ganzen Welt ebenso verstörende Meisterwerke wie „Der Elefantenmensch“, „Blue Velvet“, „Wild at Heart“, „Lost Highway“, „Mulholland Drive“ und „Inland Empire“ geschenkt, bevor er im vergangenen Jahr zusammen mit „Twin Peaks“-Co-Schöpfer Mark Frost für „Twin Peaks: The Return“ die surreale Atmosphäre seiner längst zum Kult avancierten Erfolgsserie wieder aufleben ließ. Während seine oft nicht verstandenen Werken in unzähligen Zeitungs- und Magazin-Artikeln wie Büchern seziert worden sind, war von David Lynch selbst gerade hierzulande sehr wenig zu erfahren.
Diese Lücke schließen Lynch und seine langjährige enge Freundin Kristine McKenna mit ihrem wunderschön aufgemachten Buch „Traumwelten“, das einen ungewöhnlichen Ansatz wählt, chronologisch die wichtigsten Stationen in Lynchs Leben und Werk aufzuarbeiten. Dazu hat die über zwanzig Jahre bei der Los Angeles Times arbeitende Journalistin und Kritikerin McKenna über hundert Interviews mit David Lynch selbst, aber auch mit seinen Ex-Frauen, Agenten, Schauspielern, Freunden, Produzenten, Mitarbeitern und Musikern geführt, um so ein umfassendes, sehr intimes Portrait eines Mannes zu zeichnen, der sich nur selten vorschreiben ließ, was von seinen Arbeiten für Kino und Fernsehen erwartet wurde, und aus den teils niederschmetternden Erfahrungen – wie bei der Adaption von Frank Herberts Science-Fiction-Epos „Dune – Der Wüstenplanet“ und der zweiten Staffel von „Twin Peaks“ – seine Lehren zog.
Nach jedem Kapitel, das die einzelnen Wegpunkte in Lynchs Leben zusammenfasst und dabei Zitate von Lynchs jeweiligen WeggefährtInnen zur Verifizierung und Illustration verwendet, fügt Lynch in eigenen Worten seine Sichtweise der Dinge vor, die einzelne Aspekte der vorangegangenen Ereignisse in der Regel nur ausführt, aber auf diese Weise ein umfassendes Gesamtbild erzeugt. Dabei werden seine glückliche Kindheit in Boise, Idaho, die Freundschaft mit Toby Keeler (dessen Vater Bushnell Keeler Lynch überhaupt auf die Idee brachte, Künstler zu werden), die Realisierung seines Debütfilms „Eraserhead“ (von dem Mel Brooks so begeistert war, dass er David Lynch bei seinem nächsten Film „Der Elefantenmensch“ in jeder Hinsicht seine volle Unterstützung gab) und die problematischen Entwicklungen bei der Produktion all der folgenden Filmen thematisiert.
Es wird vor allem deutlich, mit welchem Enthusiasmus Lynch seine Visionen verfolgte, wie entspannt und freundlich er immer am Set gewesen ist, wie sehr er die transzendentale Meditation von Maharishi Mahesh Yogi für sich zu nutzen verstand und immer an mehreren Projekten gleichzeitig arbeitete, wozu auch die Fotografie, die Malerei, Sounddesign und auf stets improvisierende Weise auch die Musik zählte. Es werden so viele Aspekte angesprochen, die sich in dem umfangreichen Kosmos von David Lynch und seinem Schaffen ereignet haben, dass nicht mal 700 Seiten ausreichen, um sie zu würdigen – wie auch Lynch selbst am Ende des Buches konstatiert:
„Wenn ich eine beliebige Seite des Buches aufschlage, denke ich: Mann, das ist ja nur die Spitze des Eisbergs, es gibt noch so viel mehr Geschichten zu erzählen. Man könnte ganze Bücher über einzelne Tage schreiben, und das wäre immer noch nicht genug. Eine gesamte Lebensgeschichte zu erzählen ist ein Ding der Unmöglichkeit, und was wir uns von diesem Buch bestenfalls erhoffen können, ist ein sehr abstraktes ‚Rosebud‘.“ (S. 694f.) 
Tatsächlich ist „Traumwelten“ so unterhaltsam geschrieben, dass einem David Lynch nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch sehr sympathisch wird. Das wird aus jeder einzelnen hier wiedergegebenen Episode und aus den Erinnerungen seiner privaten wie künstlerischen und geschäftlichen Weggefährten mehr als deutlich. In diesem Sinne wirkt das Buch aber auch eher wie eine Autobiografie, die wenig Raum für eine kritische Auseinandersetzung lässt, aber verdeutlicht, wie wertschätzend und humorvoll Lynch mit seinen Mitmenschen umgeht, wie sehr er immer wieder versucht, die dunklen Seiten des Lebens in seiner Kunst mit den schönen und wundervollen Dingen zu versöhnen.
Wer einen sehr persönlichen Einblick in Leben und Werk des Ausnahme-Künstlers David Lynch gewinnen möchte, wird „Traumwelten“ sehr unterhaltsam und erleuchtend finden. Wunderbare Schwarz-Weiß-Fotografien, eine ausführliche Filmografie und eine Auflistung der Ausstellungen runden diesen intimen Einblick in das Leben und künstlerische Schaffen von David Lynch ab.
Leseprobe David Lynch & Kristina McKenna "Traumwelten"

Lee Child – (Jack Reacher: 6) „Tödliche Absicht“

Dienstag, 17. Juli 2018

(Blanvalet, 480 S., Tb.)
Seit er als hochdekorierter Spitzenermittler der US-Militärpolizei vor Jahren freiwillig aus dem Dienst ausgeschieden ist, verfügt Jack Reacher weder über einen festen Wohnsitz noch einen Job, ist meist per Fuß oder per Anhalter unterwegs und eigentlich unauffindbar. Doch der aufgeweckten Leiterin des Personenschutzes beim Secret Service, M. E. Froelich, die mit Jacks mittlerweile verstorbenen Bruder Joe liiert gewesen ist, gelingt es trotzdem, den erfahrenen Ermittler durch eine Western-Union-Überweisung in Atlantic City aufzuspüren und ihn für einen außergewöhnlichen Job anzuheuern: Um Sicherheitslücken im Schutz des designierten Vizepräsidenten Brook Armstrong aufzudecken, soll Reacher einen Anschlag auf Armstrong vorbereiten.
Allerdings braucht Reacher nicht lange, um festzustellen, dass mehr hinter der heiklen Aufgabe steckt, die ihm die ebenso engagierte wie attraktive Froelich zugedacht hat, denn der Secret Service hat mit einer echten Bedrohung zu kämpfen, wie verschiedene Nachrichten, die abgefangen wurden, immer deutlicher machen. Als die Täter schließlich zwei beliebige Männer mit Namen Armstrong töten, wissen Reacher und Froelich, dass das Attentat auf die eigentliche Zielperson kurz bevorsteht.
„,Hier geht’s um Armstrong persönlich‘, fuhr Reacher fort. ,Es gibt keine andere Möglichkeit. Denken Sie an den Zeitrahmen, an Ursache und Wirkung. Armstrong ist erst diesen Sommer als Mitkandidat aufgetreten. Vorher war er praktisch unbekannt. Das hat Froelich mir selbst erzählt. Jetzt gehen Morddrohungen gegen ihn ein. Warum? Weil er im Wahlkampf irgendetwas getan hat, behaupte ich.‘“ (S. 339) 
Selbst wenn man noch keinen der vorherigen Jack-Reacher-Romane gelesen hat, macht es Lee Child den Lesern leicht, seinen charismatisch coolen Protagonisten kennenzulernen. Dazu gehört ein kurzer Abriss seiner imponierenden Laufbahn bei der Militärpolizei ebenso wie eine eindrucksvolle Demonstration seiner Nahkampffähigkeiten, bis er durch außergewöhnliche Umstände in einen verzwickten Fall hineingezogen wird, der seine ausgezeichneten Ermittler-Fähigkeiten erfordert.
In „Tödliche Absicht“ hat es Reacher nicht nur mit der Identifizierung der mutmaßlichen Attentäter und der Vereitelung des geplanten Anschlags auf den zukünftigen Vizepräsidenten zu tun, sondern auch mit einer überaus fähigen Secret-Service-Agentin, die die Trennung von Reachers Bruder Joe noch immer nicht verwunden hat.
Lee Child entwickelt den Plot mit langsam steigender Spannung, beschreibt dezidiert die Vorbereitungen, die der Secret Service und Reacher treffen, um die Attentäter aufzuspüren, die vor allem das mittlerweile involvierte FBI für Insider aus dem Secret Service hält. Reacher macht seinem hervorragenden Ruf wieder alle Ehre, ist bei seinen Schlussfolgerungen und Aktionen seinen Mitstreitern immer einen Schritt voraus und führt seinen Auftrag – überwiegend – erfolgreich zu Ende. Durch die Beziehung zwischen Froelich und Reachers Bruder erfahren wir weitere Details aus Reachers Vergangenheit. Interessanter als das Tête à tête zwischen Reacher und der Secret-Service-Agentin ist allerdings das Verhältnis zwischen Reacher und seiner unnahbaren Kollegin Neagley, der im Finale eine Schlüsselstellung zukommt.
Durch die sehr ausführlichen Schilderungen von Reachers Vorgehen und Analysen entstehen schon einige Längen, bis die Handlung in der zweiten Hälfte an Fahrt aufnimmt, aber dann erlebt der Leser einen REacher in Bestform. Das ist nicht mehr und nicht weniger, als man von einem Thriller dieser Reihe erwartet. 
Leseprobe Lee Child - "Tödliche Absicht"

Lisa McInerney – „Glorreiche Ketzereien“

Dienstag, 26. Juni 2018

(Liebeskind, 446 S., HC)
In ihren jungen Jahren hat Maureen Phelan einen unehelichen Sohn gezeugt, ihn bei ihren Eltern aufwachsen lassen und sich selbst nach London abgesetzt, um der familiären Schmach zu entfliehen. Mittlerweile ist ihr Jimmy der Gangsterboss in der irischen Kleinstadt Cork und hat seine Mutter zurück nach Cork geholt und sie in einem Haus untergebracht, das vorher als Bordell gedient hat. Als Maureen eines Tages einen vermeintlichen Einbrecher mit einer steinernen Devotionalie erschlägt, beauftragt sie Jimmy mit der Entsorgung der Leiche, der sich aber damit nicht selbst die Hände schmutzig macht, sondern dafür seinen alten Kumpel Tony Cusack einspannt.
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Toten um Robbie O’Donovan, der für seine Freundin, die Prostituierte Georgie Fitzimons, eben jenen Skapulier besorgen sollte, der ihm zum tödlichen Verhängnis wurde. Tony Cusack hat allerdings auch selbst genügend Probleme. Der alkoholsüchtige Vater von sechs Kindern muss miterleben, wie sein 16-jähriger Sohn Ryan erst von der Schule fliegt und dann für seinen Kumpel Dan wegen Drogenhandels in den Knast wandert. So verpasst Ryan den Abschlussball und wird später mit der bitteren Erkenntnis konfrontiert, dass seine Freundin Karine bei diesem Ball fremdgegangen ist. Allerdings hat es auch Ryan bislang mit der Treue nicht so genau genommen. Da Jimmy zunehmend genervt davon ist, dass Georgie wegen Robbie unangenehme Fragen stellt, sollen die Cusacks für eine nachhaltige Lösung sorgen …
„Was war aus ihm geworden auf seiner Reise durch die Unterwelt? Nichts weiter als ein weiteres betrügerisches Arschloch in einer Stadt voller betrügerischer Arschlöcher. Mit fünfzehn hatte er angefangen und war dumm genug gewesen zu denken, er könnte wieder damit aufhören. Die Vorhersehbarkeit seiner Wandlung schmerzte fürchterlich.“ (S. 346) 
Die aus der irischen Provinz Connacht stammende Lisa McInerney war zunächst als Bloggerin unterwegs, ehe sie von dem Schriftsteller Kevin Barry dazu ermuntert wurde, Kurzgeschichten zu schreiben, die dann auch in verschiedenen Literaturzeitschriften erschienen sind.
Ihr Debütroman „Glorreiche Ketzereien“ wurde 2016 gleich für den Irish Book Award und den Dylan Thomas Award nominiert, erhielt den Bailey’s Women’s Prize for Fiction und Desmond Elliott Prize. Man fühlt sich ein wenig an Douglas Couplands „Alle Familien sind verkorkst“ erinnert, wenn der Leser Bekanntschaft mit all den verzweifelten Typen macht, die in Cork ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen, weil sie dem Alkohol, den Drogen oder dem Sex verfallen sind und vor Betrug, Verrat und Mord nicht zurückschrecken, um ihre kaputten Familien zu schützen.
Vor diesem Hintergrund entwickelt die Autorin einen vielschichtigen Plot, in der irgendwie alle familiären und frei gewählten Beziehungen auf dem Prüfstein stehen. Dabei treffen die vortrefflich gezeichneten Figuren am laufenden Band die falschen Entscheidungen und bringen sich und ihre Liebsten noch mehr in die Bredouille, wobei der Gangster Jimmy Phelan keine Gnade mit den Menschen kennt, die ihm auch nur ansatzweise in die Quere kommen könnten.
Es fällt nicht immer leicht, den ständig wechselnden Figuren und ihren verzwickten Situationen zu folgen, in die sie sich manövrieren, aber der Roman lebt vor allem von seinem schwarzen Humor und der drastischen Sprache, die Lisa McInerney für all die Verfehlungen ihrer verkorksten Charaktere verwendet, die ihr Heil mal in einer Sekte, oft genug aber einfach im Drogenrausch suchen.
Es ist ein tristes, düsteres und unheilvolles Schicksal, das Corks Bewohner teilen, aber McInerney schafft es, die verhängnisvollen Verwicklungen so temporeich, humorvoll und sprachgewandt zu schildern, dass der Lesefluss und die Neugier auf den weiteren Verlauf der Handlung gesichert ist. Zum Glück hat die Autorin mit „The Blood Miracles“ schon eine Fortsetzung veröffentlicht, die hoffentlich auch bald ins Deutsche übersetzt wird. 
Leseprobe Lisa McInerney "Glorreiche Ketzereien"

Bill Clinton & James Patterson – „The President Is Missing“

Freitag, 22. Juni 2018

(Droemer, 477 S., HC)
US-Präsident Jonathan Duncan muss sich vor einem Sonderausschuss des Repräsentantenhauses unter der Leitung von dessen Sprecher Lester Rhodes Rechenschaft darüber ablegen, ob er vor kurzem Kontakt zu Suliman Cindoruk, dem meistgesuchten Terroristen der Welt, aufgenommen hat und sogar dafür verantwortlich ist, seine Liquidierung in Algerien vereitelt zu haben. Sollte dem Präsidenten ein Vergehen nachgewiesen werden, muss er mit einem Amtsenthebungsverfahren rechnen. Doch bevor die Anhörung am Montag auf dem Programm steht, wird dem ehemaligen Staatsanwalt und Gouverneur von North Carolina durch eine junge Frau ein Passwort übermittelt, das nur dem innersten Kreis des Präsidenten-Stabes bekannt sein sollte.
Dass „Dark Ages“ in die Hände von Cyber-Terroristen gelangt ist, bedeutet nichts Gutes, denn das betreffende Computer-Virus droht weltweit alle computergestützten Systeme lahmzulegen. Erste Zwischenfälle bei der Wasseraufbereitung und auf ein medizinisches Labor demonstrieren dem Irakkrieg-Veteran, dass es die „Söhne des Dschihad“ ernst meinen.
Da Duncan davon ausgehen muss, dass einer seiner acht engsten Mitarbeiter der Verräter sein muss, zieht er sich mit dem mysteriösen Informanten Augie und einer Handvoll Vertrauter auf eine abgelegene Farm und bestellt die Regierungschefs aus Deutschland, Russland und Israel ein, um die Krise zu bewältigen, denn der Countdown bis zur Aktivierung des Virus tickt erbarmungslos runter. Doch während er die größte Krise zu bewältigen hat, die man sich vorstellen kann, wird Duncan immer wieder durch Erinnerungen an seine durch Krebs getötete Frau, eine lebensbedrohliche Autoimmunkrankheit und die politischen Spielchen seiner Verbündeten/Feinde aus dem Konzept gebracht.
„Falls uns das Virus weiterhin standhält, wird mir nichts anderes übrig bleiben, als die drakonischsten Maßnahmen zu ergreifen, um die Menschen davon abzuhalten, sich im Kampf um Nahrung, sauberes Wasser und Obdach gegenseitig umzubringen.
Wenn es so weit kommt, sind wir nicht mehr wiederzuerkennen. Dann sind wir nicht länger die Vereinigten Staaten von Amerika oder das, was die Welt jemals darunter verstanden hat.“ (S. 348) 
Bestseller-Autor James Patterson und der von 1993 bis 2001 als US-Präsident regierende Bill Clinton haben mit „The President Is Missing“ einen gemeinsamen Thriller vorgelegt, wie ihn „nur ein US-Präsident schreiben kann“ – so die Verlagswerbung. Tatsächlich hat James Patterson, der ein halbes Dutzend Auftragsschreiber beschäftigt, die aus seinen Exposés Romane formen, auch hier ein Treatment vorgelegt, das Bill Clinton mit seiner langjährigen Erfahrung im Weißen Haus zu einem durchaus temporeichen Thriller verarbeitet hat.
Dabei dient die Angst vor dem erschreckenden Worst-Case-Szenario mit seinen apokalyptischen Auswirkungen als treibender Motor für die dramaturgische Spannung, die durch einen aus der Türkei stammenden, aber nicht muslimischen Terroristen, einen Countdown, den unvermeidlichen Verräter, politische Machtspielchen und diverse überraschende Wendungen auf die Spitze getrieben wird. Besonders glaubwürdig ist das nicht. Der als Ich-Erzähler auftretende US-Präsident Jonathan Duncan tritt hier als von den Tragödien des Lebens und des Krieges sowie den gesundheitlichen Schäden gehandicapter, aber willensstarker Präsident auf, der bei allen auftretenden Problemen sehr souverän wirkt – im Gegensatz zu Bill Clinton, der während seiner Amtszeit vor allem fast über die Lewinsky-Affäre gestolpert wäre und offenbar mehrmals die Möglichkeit besaß, Osama bin Laden zu töten. Insofern wirkt „The President Is Missing“ wie ein verzweifelter Versuch Clintons, auf literarische Weise seine eigene Geschichte aufzuwerten, was besonders sauer in der abschließenden Rede aufstößt, die Duncan nach der natürlich überstandenen Krise ans Volk hält und sich darin für die „ständige Erweiterung von Bildungs- und Berufschancen, ein vertieftes Verständnis von Freiheit und einen gestärkten Gemeinsinn“ stark macht. Damit bezieht er natürlich auch Stellung gegen den amtierenden US-Präsidenten Trump, ohne ihn namentlich zu erwähnen.
Die Charakterisierung des Präsidenten fällt dabei schon sehr selbstgefällig aus. Dass er auch noch maßgeblich beteiligt an der Lösung des viralen Problems ist, wirkt fast schon lächerlich. Von den Einsichten eines ehemaligen US-Präsidenten abgesehen bietet „The President Is Missing“ auch nur leidlich intelligente Spannung, bei der jedes Mittel genutzt wird, um die Dramatik zu erhöhen, doch schießt sie damit voll über das Ziel hinaus. Patterson-Fans sollten bei den standardisierten Thrillern der Alex-Cross-Reihe bleiben, da werden die Erwartungen nach über zwanzig Bänden ohnehin nicht mehr so hoch gesetzt. 
Leseprobe Bill Clinton & James Patterson - "The President Is Missing"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 8) „Im Dunkel des Deltas“

Montag, 18. Juni 2018

(Pendragon, 505 S., Pb./Edel:eBooks, 378 S., eBook)
Nachdem sich Sonny Boy Marsallus mit der mächtigen Giacano-Familie in New Orleans angelegt hatte, verzog er sich in den Süden, wo er die US-amerikanischen Manöver in El Salvador und Guatemala aus erster Hand miterlebte. Als er nach New Orleans zurückkehrt, hat er noch eine Rechnung mit dem Bordellbetreiber Sweet Pea Chaisson zu begleichen und übergibt Detective Dave Robicheaux ein brisantes Notizbuch mit Anspielungen auf Waffenlager und Drogenschmuggler, hinter dem bald einige zwielichtige Typen her sind. In einer anderen Sache hat Robicheaux mit der Schwarzen Bertha Fontenot zu tun, die sich darüber beschwert, dass der Anwalt Moleen Bertrand hinter dem Land her ist, auf dem sie seit Jahrzehnten mit ihrer und fünf anderen Familien lebt. Und schließlich gesteht Roland Broussard, der wegen einer Geschwindigkeitsübertretung in dem Wagen von Sweet Peas Freundin Della Landry angehalten und festgenommen worden ist, dass er beobachtet hat, wie einige Männer Della in ihrem Haus ermordet haben.
Die Ermittlungen machen kaum Fortschritte, und Robicheaux legt sich öffentlich mit John Giacano an, was ihn selbst zur Zielscheibe der Killer macht. Als Robicheaux wegen seines ungebührlichen Verhaltens suspendiert wird und mit seinem alten Kumpel Cletus Purcel eine Zweigstelle von Purcels Detektei in Iberia aufmacht, spitzen sich die Ereignisse allmählich zu, tauchen immer weitere finstere Figuren auf und sorgen für weitere Tote …
„Was das Morden angeht, ist die Mafia unerreicht. Ihr Wissen und ihre Erfahrung reichen zurück bis in die Zeit der napoleonischen Kriege; das Ausmaß an Brutalität und physischer Gewalt, die sie an ihren Opfern auslassen, ist geradezu bizarr und übersteigt jedes normale Maß; die Urteilsquote ihrer Auftragskiller ist ein Witz.“ (S. 389) 
Im achten Buch der großartigen Reihe um den ehemaligen Detective der Mordkommission in New Orleans geht es ziemlich drunter und drüber. Das trifft nicht nur auf die Ereignisse zu, die von Grabschändungen, Landraub, mutmaßlich verborgenen Schätzen, gefährlichen Affären und Auftragsmorden reichen, sondern vor allem auch auf die unüberschaubare Palette an Figuren, die die ohnehin verwirrenden und am Ende nicht wirklich aufgeklärten Ereignisse ordentlich durcheinanderwirbeln.
Spannung kommt hier nur selten auf, weil sich die Erzählstränge immer wieder überschneiden und die losen Enden kaum aufgelöst werden. Aus Dave Robicheaux‘ persönlichen Umfeld wird in „Im Dunkel des Deltas“ ausnahmsweise wenig erzählt. Hier muss der Verweis auf den früheren Mann seiner Frau Bootsie genügen, der die Bücher für die Familie Giacano geführt hat und zur Hälfte an einer Automatenfirma von ihr beteiligt gewesen ist. Auch zu seiner Adoptivtochter Alafair und seinem schwarzen Angestellten Batist gibt es wenig Neues zu erfahren. Robicheaux selbst wirkt recht desorientiert und weiß sich oft nur mit Gewalt zu helfen, wobei sein sonst viel weniger zimperlicher Kumpel Cletus ihn immer wieder zur Räson bringen muss.
Was James Lee Burke nach wie vor hervorragend gelingt, sind seine Beschreibungen der Landschaft und des Milieus, in dem er sich auskennt wie kein zweiter zeitgenössischer Schriftsteller. Wenn er seinen Protagonisten über die Geschichte Louisianas, die Mafia, die Drogen- und Waffengeschäfte und den unsinnigen Vietnamkrieg sinnieren lässt, entschädigt dies auch diesmal für den schleppenden Spannungsaufbau und die verqueren Erzählstränge.
 Leseprobe James Lee Burke - "Im Dunkel des Deltas"

Antoine Laurain – „Das Bild aus meinem Traum“

Donnerstag, 14. Juni 2018

(Atlantik, 191 S., Tb.)
Der angesehene Pariser Anwalt Maître Pierre-François Chaumont hat ein Faible für schöne Dinge und gibt auch mal tausende von Euro für Kristallkugeln aus Baccarat, Saint-Louis-Briefbeschwerer oder Vasen von Gallé aus, die in seiner Kunstsammlung im Arbeitszimmer untergebracht werden, weil seine Frau Charlotte die wertvollen Dinge nicht in den gewöhnlichen Wohnräumen stehen haben möchte. Eines Tages entdeckt Chaumont im Auktionshaus Drouot ein Pastellbild aus dem 18. Jahrhundert und ist erstaunt über die frappierende Ähnlichkeit zwischen dem portraitierten Mann mit gepuderter Perücke und blauem Anzug und sich selbst. Einzig ein unentzifferbares Wappen oben rechts in der Ecke könnte Auskunft über die Herkunft des Mannes geben.
Tatsächlich ersteht der Sammler das Bild für 11.760 Euro, doch Charlotte kann seine Begeisterung überhaupt nicht teilen, entdeckt sie ebenso wie die gemeinsamen Freunde doch nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen dem Mann auf dem Bild und Chaumont.
Zunächst frustriert macht er sich auf die Spurensuche und landet auf einem Weingut in Rivaille. Dort wird Chaumont sogleich als Aimé-Charles de Rivaille, Graf von Mandragore erkannt, der vor vier Jahren nach Paris zu einem Weinhändler gefahren war, aber dort nicht ankam. Chaumont nutzt die Gunst der Stunde, tischt Mandragores Frau Mélaine eine irrwitzige Geschichte über sein Verschwinden auf und beginnt ein neues Leben …
„Ich war nicht zufällig hier, ich glich nicht zufällig diesem anderen Mann. Nichts, was seit meiner Entdeckung des Portraits geschehen war, war dem Zufall zuzuschreiben. Ich folgte meinem Schicksal. Jeder Versuch, diese Leute über ihren Irrtum aufzuklären, würde meinem Schicksal zuwiderlaufen. Vor mir öffnete sich eine Tür, und ich konnte entweder hindurchgehen oder meinen Weg wie bisher fortsetzen.“ (S. 116f.) 
„Das Bild aus meinem Traum“ ist das Debüt des ehemaligen Pariser Antiquitätenhändlers und Drehbuchautors Antoine Laurain aus dem Jahre 2007 und erschien 2016 erstmals in deutscher Sprache. Nachdem Laurain mit „Liebe mit zwei Unbekannten“, „Der Hut des Präsidenten“ und „Die Melodie meines Lebens“ auch das deutsche Publikum erobert hat, bietet die nun veröffentlichte Taschenbuchausgabe noch einmal die Möglichkeit, Laurains erste literarische Gehversuche zu erkunden. Dabei bringt er nicht nur seine Erfahrungen als Antiquitätenhändler in die Geschichte ein und thematisiert die Seele, die alte Dinge in sich tragen, sondern erzählt vor allem auf luftig-leichte Art, wie ein Mann mit Frau und angesehenem Beruf auf einmal die Möglichkeit wahrnimmt, ein ganz neues Leben zu beginnen, sich dabei aber auch fragt, was er dafür aufgeben muss.
Besonders tief durchdringt Laurain seinen Protagonisten allerdings nicht. Vielmehr geht es dem französischen Autor um das Spiel der Möglichkeiten. Das ist sicherlich charmant, stellt letztlich aber nur eine erste Fingerübung für die späteren, weitaus gelungeneren Werke dar.

Jérôme Colin – „Ich warte auf dich am Ende der Straße“

Mittwoch, 6. Juni 2018

(Atlantik, 174 S., Pb.)
Eigentlich wollte er bei Rot über Ampeln rauschen, durchgezogene Linien überfahren, gegen Gesetze verstoßen und existieren, stattdessen hat er sich nach seinem Journalismus-Studium ein Leben mit Léa und den drei gemeinsamen Kindern in einem kleinen Häuschen eingerichtet, verdient seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer in Brüssel. Dabei führt der 38-jährige Hypochonder, dessen beiden Großväter ebenso wie sein Vater an Krebs gestorben sind, teils interessante, manchmal auch amüsante Unterhaltungen mit seinen Fahrgästen, spielt dabei seine Lieblingsmusik von Beck, Richard Hawley, Tom Waits, Jeff Buckley, Elliot Smith und Jacques Brel, erinnert sich daran, wie er Léa vor sechzehn Jahren begegnet ist.
Dann begegnet er Henry, einem Mann, den er jeden Freitag, Samstag und Sonntag gegen halb neun abends von zuhause abholen in eine Kneipe fahren soll.
Doch besonders angetan ist er von Marie, die er bei einem Kneipenbesuch mit seinem Freund Benjamin kennenlernt und mit der er eine Affäre beginnt. Léa und er trennen sich zunächst auf Zeit, die sie dafür verwenden wollen, um über sich und ihre Beziehung nachzudenken. In Gedanken ist der Taxifahrer aber immer bei Marie, kaum bei Léa …
„Wir können nicht anders als lieben. Wir müssen jemanden finden, der uns durch den Sturm begleitet. Wir müssen uns mit wenig zufriedengeben, um nicht allein zu verrecken. Wir müssen uns selbst weismachen, dass wir verliebt sind in Menschen, die wir nie ertragen würden, wenn wir das Glück gehabt hätten, der großen Liebe zu begegnen.“ (S. 156) 
In seinem Debütroman „Ich warte auf dich am Ende der Straße“ erkundet der in Brüssel lebende Journalist und Fernsehmoderator Jérôme Colin auf leicht eingängige Weise das Leben eines namenlosen Taxifahrers, der als Ich-Erzähler seine Gedanken und Erinnerungen zum Leben und zur Liebe von sich gibt. Begleitet von dem dazugehörigen Soundtrack aus Lieblingssongs, mit denen er bestimmte Ereignisse wie den ersten Kuss mit Léa verbindet, regen ihn zuweilen die Gespräche mit seinen Fahrgästen, die er aus ihrer Einsamkeit heraus ins pulsierende Leben kutschieren soll, zu diesen Erörterungen an.
Statt darüber betrübt zu sein, dass er aus seinem Studium nicht mehr gemacht hat, suggerieren die sympathischen Überlegungen gerade zur Liebe, dass der Taxifahrer sehr wohl zufrieden mit seinem Schicksal ist und einfach glücklich damit ist, auch neuen Empfindungen und Leidenschaften Raum zu geben. Darüber hinaus legt er Zeugnis von der Einsamkeit in der Großstadt und der Sehnsucht der Menschen nach einem aufregenden, anderen Leben ab.

Peter Straub – (Blaue Rose: 3) „Mystery“

Dienstag, 5. Juni 2018

(Heyne, 525 S., Jumbo)
Mitte der fünfziger Jahre wächst der zehnjährige Tom Pasmore auf der karibischen Insel Mill Walk auf. Nachdem er sich, ohne eine Erinnerung daran zu haben, wie er dort hingekommen ist, eines Nachmittags in einem ihm völlig unbekannten Viertel wiederfindet, wird er von einem Auto angefahren und wacht im Krankenhaus wieder auf, wo ihm nicht nur seine besorgten Eltern, sondern auch sein Großvater Glendenning Upshaw und seine Schulfreundin Sarah Spence Besuche abstatten. Das nachfolgende Jahr verbringt Tom zuhause im Bett, im Rollstuhl und schließlich auf Krücken und liest alles an Büchern, was ihm sein Vater und sein Nachbar Lamont von Heilitz vorbeibringen.
Sieben Jahre später beginnt Tom ein Interesse für die wenigen Morde in Mill Walk zu entwickeln, über die im Eyewitness berichtet wurde, und freundet sich mit Lamont an, der sich seinen Spitznamen Shadow als prominenter Hobby-Detektiv verdient hat. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dem Fall der im Juni am Eagle Lake ermordeten Millionärin Jeanine Thielman. Zwar legte ein Mann namens Anton Goetz damals ein Geständnis ab, aber der Shadow verfolgte damals die Laufbahnen aller, die irgendwie mit dem Mord an Jeanine Thielman zu tun hatten.
Tom erhält die Möglichkeit, vor seinem im Herbst beginnenden Studium, das ihm sein Großvater nahegelegt hat, den Sommer mit Sarah Spence und der einflussreichen Redwing-Familie in Eagle Lake zu verbringen. Für Lamont soll er dort nach Hinweisen suchen, die zur Lösung des unzureichend aufgeklärten Verbrechens beitragen. Tatsächlich erweist sich Tom als so geschickt, dass ihn seine Nachforschungen selbst in Lebensgefahr bringen …
„Tom spielte die Ereignisse und Umstände von Jeanine Thielmans Ermordung tagelang durch. Er schrieb in der dritten und in der ersten Person darüber, stellte sich vor, er wäre Arthur Thielman, Jeanine Thielman, Anton Goetz und sein eigener Großvater; er versuchte sogar, das Ereignis durch die Augen des verschüchterten Kindes zu sehen, das sein Mutter war. Er spielte mit Daten und Zeitpunkten; er beschloss, alles über Bord zu werfen, was man ihm über die Motive der Beteiligten gesagt hatte, und mit neuen zu experimentieren.“ (S. 354) 
Nachdem sich Peter Straub mit seinen Mystery-Thrillern „Ghost Story“ (1979) und „Schattenland“ (1980) einen Namen machen konnte und schließlich durch die Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ (1984) weltberühmt wurde, hat er sein Magnum Opus mit der Reihe um die „Blaue Rose“ veröffentlicht, deren zweiter  Teil „Koko“ 1989 mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde, während der abschließende Part „Der Schlund“ 1993 den Bram Stoker Award gewann. Dazwischen erschien 1990 mit „Mystery“ ein Roman, der eher an die klassischen Detektivromane von Raymond Chandler und Dashiell Hammett angelehnt ist und nichts mit dem Horror zu tun hat, der Straubs schriftstellerische Meisterschaft begründete.
Der Autor verwendet viel Mühe darauf, die Atmosphäre und die gesellschaftlichen Verhältnisse auf Mill Walk zu beschreiben, wobei Toms Familiengeschichte, aber auch die phänomenalen Erfolge des „Amateurs des Verbrechens“ einen besonderen Schwerpunkt bilden. Ganz allmählich wird dabei das Geflecht aus Lügen, Korruption und Gewaltverbrechen ausgebreitet, das sich bis in das elitäre Erholungsgebiet von Eagle Lake erstreckt und in das Tom bei seinem Aufenthalt dort immer tiefer eindringt.
Neben dem faszinierenden, aber auch sehr komplexen Kriminalfall darf der Leser aber auch Toms Liebschaft mit Sarah verfolgen, die eigentlich einem Redwing-Sprössling „versprochen“ ist. Es ist nicht immer leicht, Straubs ausschweifenden und vielschichtigen Ausführungen zu folgen. Gerade der Beginn macht es dem Leser schwer, überhaupt einen Draht zu Tom Pasmore zu finden, der sich im Laufe des epischen Romans selbst zu einem veritablen Hobby-Detektiv mausert. Darüber hinaus überzeugt der Roman durch die feinen Charakterisierungen der oft schillernden Figuren, den dramaturgisch geschickten Spannungsaufbau und die stimmungsvolle Atmosphäre, die den Leser in das außergewöhnliche Leben auf der erfundenen Karibikinsel eintauchen lässt.