Michael Connelly – (Harry Bosch: 19) „Die Verlorene“

Freitag, 7. September 2018

(Droemer, 444 S., HC)
Seit Harry Bosch das LAPD verklagt hatte, weil es ihn seiner Meinung nach unrechtmäßig aus der Einheit für kalte Fälle entlassen hatte, arbeitet er in Teilzeit in der Reserveeinheit des San Fernando Police Department, wo er sich gerade mit dem Screen-Cutter-Fall befasst, einem Serientäter, der nach einem bestimmten Schema in die Wohnung von jungen Frauen eindringt, sie vergewaltigt und schließlich tötet.
Nebenbei bietet Bosch seine Dienste allerdings auch als Privatermittler an. Als er von dem milliardenschweren Unternehmer Whitney Vance damit beauftragt wird, einen möglichen Erben für sein Vermögen ausfindig zu machen, wird Bosch schnell fündig: Aus der Verbindung mit einer jungen Mexikanerin, die der junge Vance als Student kennengelernt hat und die sich mittlerweile erhängt hat, ist ein Junge namens Dominick hervorgegangen, der von einer Familie in Oxnard adoptiert worden ist.
Doch als Bosch seinen Auftraggeber über seine Fortschritte informieren will, erfährt er, dass der alte Mann plötzlich verstorben ist. Bosch glaubt allerdings nicht an einen natürlichen Tod. Offenbar versuchen die mächtigen Teilhaber des Vance-Imperiums, mit allen Mitteln ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Damit befindet sich auch der mögliche Erbe des Vance-Vermögens in Lebensgefahr. Zusammen mit seinem Halbbruder Mickey Haller versucht Bosch, den letzten Willen des Verstorbenen durchzusetzen.
„Er hielt hier ein Dokument in den Händen, das mehrere Milliarden Dollar wert war, ein Dokument, das die weitere Entwicklung eines riesigen Unternehmens und einer Industrie verändern konnte, nicht zu reden vom Leben und der Familie einer nichts ahnenden Frau, die vor sechsundvierzig Jahren geboren worden war und ihren Vater nie kennengelernt hatte.
Vorausgesetzt, sie lebte noch und Bosch konnte sie ausfindig machen.“ (S. 228) 
Egal, in welcher Funktion Harry Bosch ermittelt, ob nun beim LAPD oder als Teilzeit-Reservist für das SFPD – immer wieder hat er einen schweren Stand bei seinen Vorgesetzten, aber eben auch den richtigen Riecher bei den ihm anvertrauten Fällen. In seinem 19. Fall steht zunächst sein privater Auftrag für den schon sehr gebrechlich wirkenden Milliardär Whitney Vance im Vordergrund, der als junger Mann auf Druck seiner Familie seine große Liebe verlassen musste und nie erfahren sollte, ob aus der kurzen Liaison eventuell ein Nachkomme hervorgegangen ist. Akribisch beschreibt Connelly die Spurensuche, die Harry Bosch über verschiedene Ämter, Heime und natürlich die Instrumente führt, die ihm als (Reserve-)Polizist zur Verfügung stehen. Spannend wird es allerdings erst mit dem Tod von Boschs Auftraggeber auf der einen Seite, mit dem Verschwinden seiner SFPD-Kollegin Bella Lourdes beim Screen-Cutter-Fall auf der anderen Seite.  
Connelly schreibt wie gewohnt flott, wechselt geschickt zwischen den beiden Fällen hin und her und hält so die Spannung gekonnt aufrecht. Besonders sympathisch ist natürlich die erneute Zusammenarbeit mit dem Lincoln Lawyer, Boschs Halbbruder Mickey Haller, während die Kontakte mit seiner Tochter Maddie sehr kurz ausfallen.
Am Ende bietet „Die Verlorene“ souverän, aber eben auch konventionell strukturierte und spannungsreiche Thriller-Kost mit einem charismatischen Ermittler, den man einfach mögen muss.
Leseprobe Michael Connelly - "Die Verlorene"

Astrid Rosenfeld – „Kinder des Zufalls“

Donnerstag, 6. September 2018

(Kampa, 270 S., HC)
Seit sie mit einem Schiff aus Deutschland nach Amerika kam, ist Charlotte Foreman auf der Suche nach dem ultimativen Abenteuer, denn sie will, dass ihr Herz „schnell schlägt“. Sie landet in dem texanischen 1300-Seelen-Dorf Myrthel Spring und kommt zunächst auf der Farm von Terry Finsher unter, der dort mit seiner Frau Diana und den beiden einjährigen Zwillingen Sullivan und Allan lebt. Zuvor lernte sie Collin Goodwin kennen, der in Long Beach aufwuchs, nach Los Angeles gezogen war und in den Küchen unzähliger Diners gearbeitet hatte.
Nachdem er bislang bei fremden Menschen untergekommen war und zuletzt bei der verzweifelten, großen und dicken Mary gewohnt hatte, empfand er den Umzug zu Ozzy geradezu als Aufstieg, durfte er doch allein in dessen Garage wohnen und ein Auto sein Eigen nennen. Außerdem verschaffte ihm Ozzy einen Job als Nachtportier in einem Hotel in Downtown, wo sich Collin schließlich in Charlotte verliebte.
Seine polnische Mutter Agnieszka kam wie Charlotte einst mit dem Schiff nach Amerika. Nach einer Kneipenschlägerei drohte Collin eine Gefängnisstrafe, die er allerdings gegen den Militärdienst in Vietnam eintauschte. Die schwangere Charlotte kam dann bei Collins Anwalt unter und brachte ihren Sohn Maxwell auf der Finsher-Ranch zur Welt, unterhielt mit Terry eine heimliche Affäre.
Auf der anderen Seite des Atlantiks, bringt die in Stuttgart lebende 43-jährige Annegret Büttner am 11. März 1977 ihre Tochter Elisabeth zur Welt, die wie Maxwells Mutter nach Amerika geht und eine Karriere als Tänzerin macht, bis ein kaputtes Knie diesem Teil ihres Lebens ein Ende setzt. In Myrthel Spring lernt sie schließlich Maxwell kennen, der durch seine Darstellung des Cowboys Jill in einer Fernsehserie bekannt geworden ist, nach Absetzung der Serie aber keine anderen Rollen mehr angeboten bekam. Zusammen versuchen sie, mit einem Saloon gemeinsam glücklich zu werden …
„Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn liebte. Dass sie, seit sie nicht mehr tanzen konnte, nicht wusste, wer sie war. Tanzen war ihr Leben gewesen. Und in ihr, in diesem Körper mit dem kaputten Knie und den etwas zu dicken Schenkeln, lebte die Ballerina weiter. Versuchte es zumindest. Sie war nur noch ein Schatten. Aller Abschied ist grausam.“ (S. 235) 
Nach ihren drei bei Diogenes erschienenen Romanen „Adams Erbe“, „Elsa ungeheuer“ und „Zwölf Mal Juli“ legt die 1977 in Köln geborene, nun im texanischen Marfa lebende Astrid Rosenfeld ihr neues Werk im neu gegründeten Kampa Verlag vor. In „Kinder des Zufalls“ erzählt sie nicht nur von Maxwell und Elisabeth, die beide um ein Haar am 11. März 1977 gestorben wären – der Junge im Alter von zehn Jahren an einem Baum im texanischen Myrthel Spring, das noch ungeborene Mädchen im Bauch ihrer in Stuttgart lebenden Mutter. Virtuos beschreibt die Autorin auch die Biografien ihrer Eltern, vor allem ihrer Mütter. Deren Streben nach Liebe und Glück stellt auch die Antriebskraft für den Lebenslauf ihrer Kinder dar, die sich eines Tages in Myrthel Spring begegnen, nachdem sie sich ebenso wie ihre Mütter durch ein Leben gekämpft haben, das von Höhenflügen und Entbehrungen geprägt gewesen ist.
Obwohl Rosenfeld sehr anekdotisch vorgeht und sprunghaft zwischen Zeiten und Orten wechselt, taucht der Leser durch die einfühlsam vorgetragenen, zwischen lakonischem Humor und tragischem Ernst pendelnden Episoden sehr schnell in die Gefühlswelt der jeweiligen Figuren ein, von denen man am Ende gern mehr erfahren hätte.

Stephen King – „Der Outsider“

Sonntag, 2. September 2018

(Heyne, 752 S., HC)
Als die Polizei von Flint City im Mordfall des elfjährigen Frank Peterson ermittelt, der furchtbar geschändet im Stadtpark aufgefunden wurde, meinen nicht nur verschiedene Zeugen ausgerechnet den beliebten Englischlehrer und Trainer der Jugendbaseballmannschaft Terry Maitland in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben, auch die forensischen Beweise weisen auf Maitland als Täter hin. Detective Ralph Anderson ordnet eine öffentlichkeits- und medienwirksame Verhaftung mitten in einem Spiel an. Zwar kann Maitland ein glaubwürdiges Alibi für den fraglichen Tatzeitpunkt vorweisen, weil er mit seinen Englischlehrer-Kollegen auf einer Sommertagung in Cap City gewesen und bei einem Vortrag des Gastredners Harlan Coben sogar gefilmt worden ist.
Die Bevölkerung hat den bislang unbescholtenen Mann längst als Kindermörder abgestempelt. Als auch noch Frank Petersons Mutter an einem Herzinfarkt stirbt, sein Bruder Ollie Terry Maitland auf dem Weg zum Gericht erschießt und dabei selbst von Detective Anderson niedergestreckt wird, befindet sich die Stadt im Ausnahmezustand. Maitlands Anwalt Howie Gold engagiert Alec Pelley, einen Reservisten der Highway Patrol, um herauszufinden, wie Terry Maitland offenbar an zwei Orten gleichzeitig gewesen sein kann. Dazu holt er sich die Unterstützung der Ermittlerin Holly Gibney, die einst mit ihrem inzwischen verstorbenen Partner Bill Hodges bei „Finders Keepers“ einige außergewöhnliche Fälle gelöst hatte.
Offenbar gab es in der Vergangenheit ähnliche Fälle, bei denen Männer scheußliche Verbrechen begangen hatten und zu den Tatzeiten auch an anderen Orten gesehen worden waren. Die Verweise auf eine mythische, mexikanische Gestalt namens el Cuco, einen Outsider, bringen Detective Anderson fast um den Verstand.
„Ralph konnte an keine Erklärung glauben, die gegen die Gesetze der Natur verstieß, nicht nur als Detective, sondern auch als Mensch. Frank Peterson war von einer echten Person getötet worden, nicht von einer Schauergestalt aus einem Comicheft. Was blieb dann übrig, egal, wie unwahrscheinlich es war?“ (S. 276) 
Stephen Kings neuer Roman kommt gleich zur Sache: Ein grausamer Mord an einem elfjährigen Jungen führt schnell zu einem scheinbaren Ermittlungserfolg, wird aber durch ein ebenso stichhaltig wirkendes Alibi des vermeintlichen Täters zu einer sehr komplizierten Angelegenheit, die leider weitere Todesfälle nach sich zieht. Bis zur Hälfte des Romans findet sich der Leser in einem nahezu klassischen Krimi wieder, der durch immer wieder eingestreute Niederschriften von Vernehmungsprotokollen an Form gewinnt, aber erst mit dem Verweis auf Edgar Allan Poes Geschichte von William Wilson und seinem Doppelgänger beginnt eine übernatürliche Komponente in die Ermittlungsarbeit einzufließen und diese immer mehr zu bestimmen. Daran hat vor allem Holly Gibney einen großen Anteil, die zuletzt in dem dritten und abschließenden Bill-Hodges-Abenteuer „Mind Control“ einen Fall mit übersinnlichen Fähigkeiten lösen konnte. Die gemeinsame Zusammenarbeit zwischen der weltoffenen Ermittlerin und dem skeptischen Detective zählt zu den Höhepunkten eines meisterhaft erzählten Thrillers, wie er nur aus der Feder des „King of Horror“ stammen kann, der in den Plot immer wieder Verweise auf ein durch Donald Trump zunehmend verunsichertes Land einstreut. Während der streitbare amerikanische Präsident sein Land immer mehr in die Isolation treibt und die Grenzen nach außen abschottet, können die US-amerikanischen Bürger nicht mehr sicher sein, welchen Nachrichten und welchen Nachbarn sie noch vertrauen können …
Vielleicht ist mit „Der Outsider“ der Grundstein zu einer neuen Mini-Reihe gelegt, in der die sympathische Holly Gibney eine Hauptrolle spielt. Mit Ralph Anderson gibt sie nämlich ein ebenso interessantes wie effektives Gespann ab. 
Leseprobe Stephen King - "Der Outsider"

Dennis Lehane – „Der Abgrund in dir“

Mittwoch, 29. August 2018

(Diogenes, 527 S., HC)
Rachel war drei Jahre alt, als ihr Vater aus dem Leben ihrer Mutter Elizabeth und ihrem eigenen verschwand. Vier Jahre später schrieb ihre Mutter, die selbst nie verheiratet gewesen war, mit „Die Treppe“ einen Bestseller-Ratgeber darüber, wie man erfolgreich verheiratet blieb, worauf sie zwei zunehmend weniger erfolgreiche Fortsetzungen nachlegte und bei aller Popularität selbst einen unglücklichen, ja verbitterten Eindruck machte.
Nachdem ihre Mutter bei einem Autounfall getötet wurde, hat Rachel damit begonnen, ihren Vater zu suchen, von dem sie nur den Namen James und die Information besaß, dass er in Connecticut unterrichtet hat.
Während ihres ersten Collegejahrs in Boston lernt Rachel den sympathischen Detektiv Brian Delacroix kennen, der bei der Suche nach ihrem Vater zwar keine Erfolge erzielt, aber über die Jahre mit Rachel in Verbindung bleibt, als sie Karriere erst bei der Zeitung, dann beim Fernsehen macht, wo sie ihren Sebastian kennenlernt, der sie allerdings fallen lässt, als Rachel in Haiti über die Naturkatastrophe berichtet und vor laufender Kamera einen Nervenzusammenbruch erleidet.
Ihre Panikattacken führen dazu, dass sie sich kaum aus der Wohnung traut, die sie schließlich mit Brian teilt, der seine Tätigkeit als Detektiv aufgegeben hat, um im internationalen Holzhandel zu arbeiten, den seine Familie betreibt. Doch als sie Brian eines Tages in Boston sieht, obwohl er eigentlich in London sein sollte, beginnt Rachel an ihrer Ehe zu zweifeln. Tatsächlich scheint Brian ein Doppelleben zu führen, das Rachel zunehmend den Boden unter den Füßen wegzieht.
„Sie nahm ein Bild von sich und Brian von der Kommode. Ihr inoffizielles Hochzeitsfoto. Sie sah seine verlogenen Augen und sein verlogenes Lächeln, und sie wusste, dass sie ebenso verlogen war wie er. An fast jedem Tag ihres Lebens, von der Grundschule an, über High-School, College, Uni und dann im Job, hatte sie eine Rolle gespielt. Sobald diese Rolle dem Publikum nicht mehr gefiel, hatte sie sie abgelegt und war in eine neue geschlüpft.“ (S. 400) 
Dennis Lehane, gefeierter Autor von erfolgreich verfilmten Bestsellern wie „Mystic River“ und „Shutter Island“, legt mit „Der Abgrund in dir“ sowohl einen packenden Psychothriller als auch eine vertrackte Liebesgeschichte vor, deren komplexe Facetten sich erst nach und nach auf immer wieder überraschende Weise entfalten.
Dabei zieht der Autor den Leser von Beginn an in ein verwirrendes Geflecht ausgefeilter Inszenierungen und falscher Identitäten. Der Roman beginnt mit einer Szene, in der Rachel ihren Mann Brian auf seinem Boot erschießt, worauf rückblickend Rachels Kindheit und die verzweifelte Sehnsucht nach einem Vater aufgerollt wird, deren Identität ihre Mutter nie preisgeben wollte. Immerhin führt ihre Suche zu einem Mann, den sie – leider irrtümlich - für ihren Vater gehalten hat, der aber immerhin zu einem guten Freund wird.
Und so begegnet Rachel in ihrem Leben scheinbar nur Männern, die eine mehr oder weniger raffiniert angelegte Rolle spielen. Während Sebastian seine Karrieresucht auf längere Sicht nur ungeschickt hinter seiner Sympathie für Rachel verbergen konnte, begegnen ihr mit Brian und seinem Geschäftspartner Caleb schon ganz andere Kaliber, die Rachel in ein letztlich tödliches Betrugsszenario involvieren, das ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellt.
Lehane erweist sich einmal mehr als grandioser Erzähler, der vor allem seine Protagonistin Rachel Childs ausgezeichnet charakterisiert und Brian Delacroix so geheimnisvoll anlegt, dass die Entwicklung in der Beziehung zwischen den beiden Figuren glaubwürdig genug wirkt, um die Thriller-Komponente und das seltsam versöhnliche Finale erklären zu können. Neben dem spannungs- und wendungsreichen Plot gefällt aber vor allem das Spiel mit den Identitäten und Rollen, die Menschen im Lauf ihres Lebens annehmen, um Beziehungen und Jobs erfolgreich auszufüllen. In „Der Abgrund in dir“ beschreibt Lehane auf überzeugende Weise das erschreckende Szenario des Scheiterns eines scheinbar ausgeklügelten Rollenspiels.

Alessandro Baricco – „Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur“

Sonntag, 26. August 2018

(Hoffmann und Campe, 224 S., HC)
Der 1958 in Turin geborene Alessandro Baricco ist vor allem durch seinen verfilmten Roman „Seide“ zu einem international bekannten Schriftsteller geworden, der zuletzt im Verlag Hoffmann und Campe die beiden Romane „Die junge Braut“ (2017) und „So sprach Achill“ (2018) veröffentlicht hat. Aber der studierte Philosoph und Musikwissenschaftler hat auch zahlreiche Essays, Erzählungen und Theaterstücke verfasst und als Redakteur der linksliberalen italienischen Tageszeitung „La Repubblica“ zwischen Mai und Oktober 2006 eine Reihe von insgesamt dreißig Kolumnen zum Thema der Mutation der Kultur durch „die Barbaren“ geschrieben, die nun gesammelt in Buchform erschienen sind.
Baricco versucht hier aufzuzeigen, wie sich „die Barbaren“ aufgemacht haben, das Erbe der klassischen Kultur zu plündern, was ihnen durch die technologischen Entwicklungen vor allem des Fernsehens und des Internets erleichtert wird. Anhand einiger durchaus interessanter Beispiele - wie der kritischen Auseinandersetzung mit Beethovens Neunter Symphonie zur Zeit ihrer Erstaufführung im Mai 1824 und heute; Walter Benjamins Bemühen, die Welt zu beschreiben, wie sie bald sein würde, nicht wie sie war; die Art und Weise, wie sich die Barbaren die Welt des Weins, des Fußballs und der Bücher angenommen haben – beschreibt Baricco im kumpelhaften Ton als Verlust der Seele, als Versuch, die Welt mit Gefälligkeit, Oberflächlichkeit, Effekthascherei und triebhaftem Kommerz zu durchdringen.
„Es gibt keine Grenze, glaubt mir, es gibt nicht die Kultur auf der einen und die Barbaren auf der anderen Seite. Es gibt nur den Saum der Mutation, der vordringt und schon in uns verläuft. Wir sind Mutanten, alle miteinander, manche weiter entwickelt, andere weniger.“ (S. 216) 
Der Autor sieht die Unterschiede innerhalb der Mutanten vor allem in der Tiefe, mit der kulturelle Errungenschaften durchdrungen werden. Während die Barbaren sich damit begnügen, auf Google nur die relevantesten Ergebnisse zu verfolgen, geht es dem Kulturbürgertum um das tiefe Verständnis eines Werkes. Immer wieder bemüht Baricco seinen eigenen philosophischen und musikwissenschaftlichen Hintergrund, um mit der Demonstration seines eigenen Wissens seine intellektuelle Güte festzuschreiben, doch letztlich betreibt er mit seinen durchaus unterhaltsamen Kolumnen genau jene Jagd nach Spektakularität und Differenzierung, die er bei den Barbaren zu beobachten glaubt.

Lee Child – (Jack Reacher: 19) „Im Visier“

Samstag, 11. August 2018

(Blanvalet, 414 S., HC)
Als Jack Reacher, ehemaliger Eliteermittler der Militärpolizei, im Bus nach Seattle sitzt, stößt er in der Army Times auf eine an ihn gerichtete Kleinanzeige, dass er Rick Shoemaker anrufen solle. „Man kann die Army verlassen, aber sie verlässt einen nie“, weiß der hochdekorierte Ex-Soldat, der wegen seiner Rastlosigkeit auch „Sherlock Homeless“ genannt wird. Da Reacher Shoemaker einen Gefallen schuldig ist, ruft er zurück und erfährt von General Tom O’Day die Hintergründe des versuchten Attentats, das vor zwei Tagen auf den französischen Präsidenten in Paris verübt worden war, dank des schusssicheren Panzerglases aber nicht von Erfolg gekrönt wurde.
Der mögliche Täterkreis ist allerdings überschaubar klein: Wer sich aus dreizehnhundert Metern vornimmt, ein panzerbrechendes Geschoss Kaliber .50 auf ein kopfgroßes Ziel abzufeuern, muss ein extrem gut ausgebildeter Scharfschütze sein, von denen es weltweit nur eine Handvoll gibt, darunter John Knott, den Reacher vor sechzehn Jahren festgenommen hat, der sich aber wieder auf freiem Fuß befindet.
Reacher soll mit der CIA-Agentin Casey Nice in Paris herausfinden, ob sich Knott und sein möglicher Komplize noch immer vor Ort aufhält und die nächste Möglichkeit plant, sein Ziel zu erwischen – beim G8-Gipfel in London. Dort geraten Reacher und Nice gleich in einen Bandenkrieg zwischen den Serben und den Romford Boys, die von dem bärengroßen Gangster Littley Joey angeführt werden und von dem Reacher vermutet, dass er Knott Unterschlupf gewährt. Um an Knott heranzukommen, sichert sich Reacher die Unterstützung des SAS-Agenten Bennett, doch all die brauchbaren Informationen können nicht vermeiden, dass Reacher das riesige Haus des Gangsterbosses betreten muss …
„Ich mochte Joey Green nicht. Teils aus den richtigen Gründen wie die Teenager aus Estland und Litauen und die Familienväter, die Wucherzinsen zahlen mussten. Aber auch aus anderen, primitiveren Gründen, denn bevor der Mensch zivilisiert worden war, hatte er siebenmal länger als Wilder gelebt, was Spuren hinterließ. Unterdessen gab der primitive Teil meines Gehirns den Ton an: Meine Stammesversammlung will, dass du beseitigst wirst, Kumpel. Noch dazu bist du hässlich. Und du bist ein Waschlappen.“ (S. 370f.)
Auch in seinem neunzehnten Abenteuer – von denen bereits zwei mit Tom Cruise in der Hauptrolle erfolgreich verfilmt wurden – bleiben sich Jack Reacher und vor allem sein geistiger Schöpfer Lee Child treu: Ohne festen Wohnsitz und eigenes Auto zieht der hochdekorierte Ex-Militärermittler Jack Reacher durch die Lande und gerät durch einen „vorhersehbaren“ Zufall an einen ebenso lebensgefährlichen wie lebenswichtigen Auftrag. Wie so oft erhält er dabei eine attraktive weibliche Begleitung, mit der Reacher aber ausnahmsweise mal nichts anfängt und die überhaupt erschreckend blass bleibt. Das intellektuelle Geplänkel spielt sich diesmal zwischen Reacher und seinem Kontaktmann in London ab, den undurchsichtigen, aber bestens informierten Bennett, die Action wird aber allein von Reacher entfacht.
Der Plot von „Im Visier“ folgt dabei vertrauten Mustern. Reacher macht sich detailliert mit den Umständen des versuchten Anschlags in Paris vertraut, stellt komplizierte Berechnungen und Überlegungen über den Tathergang und die Täter an, um dann seinerseits einen Plan zu entwickeln, in dessen Details er weder Nice noch Bennett einweiht. Bis es zum Showdown kommt, muss der Leser einige von Reachers wie immer erstaunlichen Analysen und somit auch einige Längen über sich ergehen lassen, denn so sehr die faszinierenden Beschreibungen Jack Reacher als grandiosen Ermittler und überlegten Kämpfer erscheinen lassen, so unrealistisch wirken manche Rückschlüsse. Da sich „Im Visier“ an der Struktur früherer Reacher-Bände orientiert, erwartet den Leser wenig Überraschendes, dafür aber gewohnt kurzweilige, knackige Unterhaltung mit pointierten Dialogen und effizienter Action. 
Leseprobe Lee Child - "Im Visier"

Jardine Libaire – „Uns gehört die Nacht“

Montag, 6. August 2018

(Diogenes, 457 S., Pb.)
Elise Perez ist froh, endlich dem Sozialwohnungskomplex in der South Bronx entkommen zu sein und in New Haven in der Wohnung von Robbie, der am South Central Community College Flugzeugtechnik studiert und nebenbei im Red Lobster kellnert, ein neues Zuhause gefunden zu haben. Elise, Anfang Zwanzig, halb Puerto-Ricanerin, halb Amerikanerin, findet einen Job in einer Zoohandlung und lernt nach drei Monaten im Januar 1986 ihre Nachbarn James und Matt kennen, die aus einer ganz anderen Welt stammen.
Während Elise ohne Vater und ohne Schulabschluss aufgewachsen ist, stammt James aus der schwerreichen Investmentbankerfamilie Hyde, Moore & Kent, seine Mutter Tory ist eine berühmte Schauspielerin. Trotzdem lädt James Elise zum Abendessen ein, lässt sich zum Abschied zu einem Blow Job verführen und ist ganz hin und weg von Elise. James‘ Familie ist von dem nicht standesgemäßen Umgang natürlich alles andere als begeistert, doch davon lässt sich der Yale-Student nicht irritieren. Stattdessen will er sogar sein Erbe ausschlagen, die Uni abbrechen und mit Elise zusammenziehen.
„Vielleicht sind Elise und Jamey ihr eigenes Volk, vielleicht gehören sie zu niemandem sonst, zu nichts Größerem als zueinander. Können wir so leben? Darüber denkt Elise nach, als sie sich müde die schwarzen Turnschuhe aufschnürt, an deren Sohlen Gold klebt.“ (S. 329) 
Doch über dem jungen Glück schwebt eine dunkle Bedrohung, die nicht nur von dem Groll des Hyde-Clans herrührt …
Nachdem die in New York geborene und in Austin, Texas, lebende Jardine Libaire Kurzgeschichten im New York Magazine, in der Los Angeles Review of Books und in Elle veröffentlicht hat, legt sie mit „Uns gehört die Nacht“ ihr Romandebüt vor, das passenderweise durch ein Zitat aus Shakespeares „Romeo und Julia“ eingeleitet wird. Ihre außergewöhnliche Liebesgeschichte, die aus einer Affäre entsteht und über anfängliche Neugier und wachsendem Interesse ganz kompromisslose Wege einschlägt, wirkt wie eine moderne Variante von Shakespeares Tragödie, und auch James und Elise scheint ein ähnliches Schicksal zu drohen wie ihren berühmten „Vorbildern“.
Der Autorin gelingt es erstaunlich gut, die ausgetretenen Pfade einer Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen zu umschiffen, indem sie vor allem mit wunderbaren Vergleichen und einer eigenen Sprache arbeitet, die den unterschiedlichen Gefühlen der Liebenden eine sehr individuelle Note verleiht – bis zum Shakespeare-würdigen Finale.
Leseprobe Jardine Libaire - "Uns gehört die Nacht"

Karin Slaughter – „Ein Teil von ihr“

Mittwoch, 1. August 2018

(HarperCollins, 544 S., eBook)
Eigentlich war es immer Andys Traum gewesen, in New York zu leben und zu arbeiten, doch nach sechs Jahren muss sie deprimiert feststellen, dass sie nicht vom Fleck gekommen ist. Aus ihrem Wunsch, sich einen Platz im Umfeld der Stars zu sichern, ist nur ein Assistenz-Job bei einem Bühnenbildner für eine Off-Broadway-Produktion und eine Affäre mit ihrem Professor am College für Kunst und Design herausgesprungen. Zwei Semester vor dem Abschluss ihres Theater-Studiums packt sie die Koffer und kehrt zu ihrer an Brustkrebs erkrankten Mutter Laura Oliver nach Belle Isle zurück, wo sie in einem Diner im Einkaufszentrum auf ihren 31. Geburtstag anstoßen wollen. Doch als sich die Frau eines von Lauras Patienten mit ihrer Tochter für die Wunder bedanken will, die sie an ihrem Mann bewirkt hat, stürmt ein Mann das Restaurant und erschießt die beiden zu Laura und Andy gestoßenen Frauen.
Als der Mann auch Laura und Andy mit einem Jagdmesser bedroht, geht Andy in Deckung, ihre Mutter reagiert dagegen ausgesprochen überlegt und bringt den Täter durch einen Schnitt über seine Kehle kurzerhand um. Nicht nur die Medien fragen sich nach Sichtung des Videomaterials von der spektakulären Aktion, warum Laura den Mann nicht einfach überwältigt hat, sondern ihn töten musste. Auch Andy erkennt ihre eigene Mutter nicht mehr wieder, zumal Laura von ihr verlangt, sofort auszuziehen und nichts zu dem Vorfall auszusagen.
Tatsächlich reicht die Vorgeschichte bis ins Jahr 1986 zurück, als sich die aufstrebende Pianistin Jane in einen charismatischen jungen Mann verliebt hat, der es auf das Imperium von Martin Queller abgesehen hat, der das Wohlfahrtssystem mit seinen Krankenhäusern und Pflegeheimen um ein Vermögen betrogen hat. Bei einer Podiumsdiskussion in Oslo erschoss Jane den Queller-Patriarchen und ist seither mit ihrem falschen Namen auf der Flucht gewesen …
„Erst in der sicheren Abgeschiedenheit Berlins hatte Jane erkannt, dass Angst sie ihr ganzes Leben lang begleitet hatte. Jahrelang hatte sie sich eingeredet, Neurosen seien der Fluch einer erfolgreichen Solokünstlerin, aber was sie in Wahrheit vorsichtig auftreten, ihre eigenen Worte zensieren, ihre Emotionen anpassen ließ, war die erdrückende Präsenz der beiden Männer in ihrem Leben.“ (Pos. 4991) 
Mit ihren Grant-County-, Atlanta- und Georgia-Krimireihen um die Gerichtsmedizinerin Sara Linton und Will Trent, Special Agent beim Georgia Bureau of Investigation, hat sich Karin Slaughter in kürzester Zeit zu einer internationalen Bestseller-Autorin entwickelt. Allerdings haben diese Reihen in den letzten Jahren stark an Qualität eingebüßt, was für Slaughter Anlass gewesen sein könnte, seit 2013 vermehrt eigenständige Romane wie „Cop Town“, „Pretty Girls“ und „Die gute Tochter“ zu schreiben.
Mit ihrem neuen Thriller „Ein Teil von ihr“ setzt die US-amerikanische Schriftstellerin diesen Trend fort und knüpft thematisch an „Die gute Tochter“ an, wo Slaughter versucht hat, einen Thriller-Plot mit einem Familiendrama zu verknüpfen.
„Ein Teil von ihr“ erzählt eigentlich zwei Geschichten, die ihren Anfang jeweils mit einem Mord nehmen und immer wieder zwischen 1986 und 2018 hin und herspringen, so dass die mühsam aufgebaute Spannung ebenso oft wieder abfällt. Das größte Problem besteht aber in den zwar sehr bemühten, aber absolut nicht überzeugenden Charakterisierungen der Hauptfiguren, von denen keine auch nur annähernd ein Identifikationspotenzial für den Leser besitzt.
So wirkt Lauras erwachsene, in New York kläglich gescheiterte Tochter Andy einfach nur naiv und unbeholfen, entwickelt im Verlauf der Geschichte aber auf einmal einen ausgeprägten detektivischen Spürsinn, mit dem sie zuletzt die wahre Identität ihrer Mutter aufdeckt. Trotz vieler Hintergründe und Unterhaltungen zwischen Andy und ihrer Mutter bleibt Laura eine verschlossene, geheimnisvolle Persönlichkeit, zu der der Leser ebenfalls keine Beziehung aufbauen kann.
Weitaus komplexer ist die Geschichte angelegt, die 1986 in Oslo ihren Anfang nimmt und vor allem die familiären Strukturen des Queller-Imperiums thematisiert sowie die unterschiedlichen Rollen, die die Sprösslinge des Familienoberhaupts bei dem Attentat spielen. Die Konstellation der Figuren und ihre Motivationen wirkt zunächst sehr interessant, doch sorgen allzu viele Abschweifungen dafür, dass das Interesse an der weiteren Entwicklung der Story schnell nachlässt.
Für Karin Slaughter und ihre Fans ist zu wünschen, dass sich die Autorin wieder auf ihre ursprünglichen Qualitäten in der Erzählung spannender Plots mit glaubwürdigen, gut gezeichneten Charakteren besinnt. 
Leseprobe Karin Slaughter - "Ein Teil von ihr"

Andrea De Carlo – „Arcodamore“

Dienstag, 24. Juli 2018

(Diogenes, 349 S., HC)
Nachdem sich der in Mailand lebende Fotograf Leo Cernitori vor drei Jahren von seiner Frau getrennt hat, ist er oft bei seinem Cousin und seiner Frau Tiziana zu Gast. Auf dessen Geburtstagsüberraschungs-Party, die seine Frau organisiert hat, bittet er Leo, ihm ein Alibi zu verschaffen, da er noch eine Verabredung habe – mit der attraktiven Harfenistin Manuela Duini. Leo kommt mit ihr bei dem gemeinsamen Treffen ins Gespräch und trifft seinerseits Verabredungen mit ihr. Im Gegensatz zu seinem Cousin führt Leo nämlich ein ganz ungebundenes Leben, zu dem seine beiden Kinder und eine Freundin in Venedig gehören, aber bislang haben seine Beziehungen stets einen ganz unverbindlichen Charakter.
 
Als er jedoch Manuela mit Haut und Haaren verfällt, lernt Leo eine ganz neue Seite an sich kennen: Auf den Einbruch in Manuelas Wohnung reagiert er mit Wut und Eifersucht. Er entdeckt nämlich Tagebücher von ihr, in denen sie von einer immerhin zwei Jahre andauernden Mann berichtet, der sie gedemütigt, verletzt und erpresst hat. Als Leo Manuela daraufhin zur Rede stellt, reagiert die Musikerin ebenso wütend, das Band zwischen ihnen scheint für immer zerrissen. Und doch nähern sie sich wieder an, vorsichtig, dann leidenschaftlich, voller Ungewissheit über ihr Schicksal.
„Mit großer Willensanstrengung ging ich auf Manuela zu, als müsse ich gegen ein umgekehrtes Magnetfeld ankämpfen. Wir sahen uns aus einem halben Meter Abstand mit leicht geöffneten Lippen an, in unserem Blick vermischten sich Anziehung und Misstrauen, Eifersucht und Ungewissheit, Bitterkeit und Süße.“ (S. 208) 
In seinem siebten Roman (nach Werken wie „creamtrain“, „Macno“, „Techniken der Verführung“ und „Zwei von zwei“) geht der Mailänder Schriftsteller Andrea De Carlo einmal mehr den komplexen Mechanismen der Liebe und Leidenschaft nach. Die erste Romanhälfte ist dabei noch ganz interessant, wenn er Leo, den er aus die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählen lässt, und die Stationen seines Lebens ebenso kurz skizziert wie seine Arbeit als Fotograf von unbewegten Objekten wie Möbeln, wobei sich aus der Beziehung zu seinem verheirateten Cousin und zu Manuela, die er ihm schließlich vor der Nase wegschnappt, die eigentlich interessante Story entwickelt. Doch sobald es nur noch darum geht, wie sich Leo und Manuela ineinander verlieben, leidenschaftlich lieben und begehren, dann wütend anschreien, Besitzansprüche stellen und nicht verstehen wollen, was der andere überhaupt für ein Problem hat, wirkt die ja leider nur aus einer Perspektive erzählten Geschichte zunehmend konstruierter.
Dabei bemüht De Carlo auch noch die aktuellen Korruptionsskandale in Italien, in die auch Manuelas Ex-Geliebter als Leiter eines Therapiezentrums verwickelt zu sein scheint. Allerdings wird diese Komponente so nebensächlich behandelt, dass sie auch weggelassen hätte werden können.
Wie sich Leo und Manuela begehren, bekriegen und wieder die Kurve zu kriegen scheinen und somit den im Romantitel angedeuteten „Liebesbogen“ durchleben, ist zwar voller knisternder Erotik und interessanter Gespräche über die Natur der Liebe, wirkt aber nicht wie die überzeugende Auseinandersetzung eines Paares, sondern wie eine theoretische Diskussion darüber, ob der Liebesbogen nach Erreichen des Höhepunkt sich nicht zu einer Gerade entwickeln kann.
Dennoch lässt sich „Arcodamore“ wunderbar schnell und leicht lesen, verführt mit sprachlicher Finesse und purer sexueller Leidenschaft, die allerdings wie aus dem Nichts auch ins andere Extrem umkippt.

Dan Simmons – „Kraft des Bösen“

Sonntag, 22. Juli 2018

(Heyne, 793 S., Jumbo)
Die drei „Gedankenvampire“ William Borden, Nina Drayton und Melanie Fuller haben einen Wettkampf daraus gemacht, sich beim Manipulieren und Benutzen anderer Menschen zu überbieten, oftmals um aufsehenerregende Attentate zu verüben. Als nach einem ihrer alljährlichen Treffen in Melanies Haus in Charleston im Dezember 1980 die Nachricht die Runde macht, dass Will bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist, verdächtigt Melanie die plötzlich wie vom Erdboden verschwundene Nina, für den Unglücksfall verantwortlich gewesen zu sein, macht sie in einem Hotel ausfindig und erschießt sie nach kurzem Gedanken-Wettstreit.
Sheriff Bobby Joe Gentry übernimmt mit Unterstützung von FBI Special Agent Richard M. Haines die Ermittlungen bei den insgesamt neun Todesfällen, wobei Saul Laski, der Psychiater der getöteten Nina Drayton, Licht ins Dunkel des sogenannten Charleston-Massakers bringen soll. Laski wiederum hatte 1942 im Konzentrationslager von Chelmno bereits Kontakt zu Gedankenvampiren gehabt.
Laski begegnet der Kunststudentin Natalie Preston, deren Vater eines der Opfer des Massakers gewesen war, und macht sich mit ihm und Gentry auf die Suche nach den mysteriösen Manipulatoren. Offensichtlich sind sie nicht die einzigen, die mit dieser Fähigkeit ausgestattet sind. Laski ist der Überzeugung, dass der angeblich getötete Will Borden jener Standartenführer Wilhelm von Borchert ist, der ihm im SS-Konzentrationslager vor fast vierzig Jahren so zugesetzt hat. Zusammen mit Natalie macht sich Laski auf die Suche nach Borchert und kommt dabei einer mächtigen Gruppe von Männern auf die Spur, die sich jedes Jahr für eine Woche auf der unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen abgeschirmten Dolmann Island treffen, um ihre Macht über ihre sogenannten Surrogate zu demonstrieren, über Menschen, die sie durch ihre manipulativen Fähigkeiten zu willenlosen Werkzeugen ihrer zerstörerischen Triebe machen.
Mit Hilfe von Freunden beim israelischen Geheimdienst gelingt es den beiden, die Sicherheitsbarrieren zu durchbrechen, doch ihr Plan, Borchert und seine mächtigen Freunde auszuschalten, birgt etliche Risiken, zumal nach wie vor Melanie Fuller ihre Fühler nach Natalie ausstreckt.
„Natalie wusste, die Gerechtigkeit verlangte, dass sie blieb und den Plan bis zum Ende ausführte, aber Gerechtigkeit nahm augenblicklich in ihrem Herzen die zweite Stelle ein, an erster kam der zunehmende Wunsch, Saul zu retten, wenn es überhaupt eine Chance gab.“ (S. 710) 
Seit seinem mit dem World Fantasy Award ausgezeichneten Debütroman „Göttin des Todes“ (1985) hat der amerikanische Schriftsteller Dan Simmons vor allem seine Spuren im Science-Fiction-Genre hinterlassen, aber immer wieder auch Horror-Romane geschrieben, die regelmäßig mit dem Locus Award prämiert worden sind. Sein zweiter Roman, „Kraft des Bösen“, wurde 1989 sogar zusätzlich mit dem Bram Stoker Award ausgezeichnet und zählt zu den großen epischen Horror-Romanen des 20. Jahrhunderts. Auf fast 800 großformatigen Seiten (die entsprechende Taschenbuchausgabe bringt es sogar auf 1200!) entfaltet Simmons ein beängstigendes Szenario, in denen Gedankenvampire ihre Lebensenergie dadurch auf einem stets hohen Level halten, indem sie die Kontrolle über nahezu beliebige Menschen gewinnen, ihren Verstand anzapfen und sie die Dinge tun lassen, die sie ihnen so auftragen.  
Simmons nimmt sich dabei sehr viel Zeit, die jeweilige Biografie seiner Figuren zu schildern, die besondere Freundschaft und den ebenso spielerischen wie für die Beteiligten todernsten Wettkampf zwischen William Borden, Nina Drayton und Melanie Fuller auf der einen Seite und auf der anderen Seite die perfiden Sommerlager, die der mächtige C. Arnold Barent in seinem illustren Island Club veranstaltet, zu dem der prominente Fernsehprediger Jimmy Wayne Sutter und der Joseph Kepler zählen und zu dem nun auch der Filmproduzent Tony Harod stößt. Immer wieder werden dabei Bezüge zu realen Ereignissen – wie den Attentaten auf Kennedy und Reagan – hergestellt, was dem fiktiven Stoff eine zunehmend reale Dimension verleiht.
Dass sich bei einer so episch angelegten Geschichte auch verschiedene Längen einschleichen, liegt fast in der Natur der Sache, aber Simmons verfügt über einen so packenden Schreibstil, dass dies gerade zum turbulenten Finale hin kaum noch ins Gewicht fällt.

Trotz der extrem ausführlichen Schilderungen hätten die Charakterisierungen der Figuren etwas differenzierter ausfällen können. Allein Saul Laski gewinnt durch seine eindringlich geschilderten Erinnerungen an seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg ein tieferes Profil, und auch Melanie Fuller darf als Einzige aus der Ich-Perspektive ihre Konturen schärfen.

David Lynch & Kristine McKenna – „Traumwelten“

Freitag, 20. Juli 2018

(Heyne, 765 S., HC)
Seit David Lynch mit seiner wundersamen und in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Mystery-Drama-Serie „Twin Peaks“ 1990 die Fernsehwelt revolutionierte und für neue Serien-Formate zugänglich machte, hat er den Cineasten auf der ganzen Welt ebenso verstörende Meisterwerke wie „Der Elefantenmensch“, „Blue Velvet“, „Wild at Heart“, „Lost Highway“, „Mulholland Drive“ und „Inland Empire“ geschenkt, bevor er im vergangenen Jahr zusammen mit „Twin Peaks“-Co-Schöpfer Mark Frost für „Twin Peaks: The Return“ die surreale Atmosphäre seiner längst zum Kult avancierten Erfolgsserie wieder aufleben ließ. Während seine oft nicht verstandenen Werken in unzähligen Zeitungs- und Magazin-Artikeln wie Büchern seziert worden sind, war von David Lynch selbst gerade hierzulande sehr wenig zu erfahren.
Diese Lücke schließen Lynch und seine langjährige enge Freundin Kristine McKenna mit ihrem wunderschön aufgemachten Buch „Traumwelten“, das einen ungewöhnlichen Ansatz wählt, chronologisch die wichtigsten Stationen in Lynchs Leben und Werk aufzuarbeiten. Dazu hat die über zwanzig Jahre bei der Los Angeles Times arbeitende Journalistin und Kritikerin McKenna über hundert Interviews mit David Lynch selbst, aber auch mit seinen Ex-Frauen, Agenten, Schauspielern, Freunden, Produzenten, Mitarbeitern und Musikern geführt, um so ein umfassendes, sehr intimes Portrait eines Mannes zu zeichnen, der sich nur selten vorschreiben ließ, was von seinen Arbeiten für Kino und Fernsehen erwartet wurde, und aus den teils niederschmetternden Erfahrungen – wie bei der Adaption von Frank Herberts Science-Fiction-Epos „Dune – Der Wüstenplanet“ und der zweiten Staffel von „Twin Peaks“ – seine Lehren zog.
Nach jedem Kapitel, das die einzelnen Wegpunkte in Lynchs Leben zusammenfasst und dabei Zitate von Lynchs jeweiligen WeggefährtInnen zur Verifizierung und Illustration verwendet, fügt Lynch in eigenen Worten seine Sichtweise der Dinge vor, die einzelne Aspekte der vorangegangenen Ereignisse in der Regel nur ausführt, aber auf diese Weise ein umfassendes Gesamtbild erzeugt. Dabei werden seine glückliche Kindheit in Boise, Idaho, die Freundschaft mit Toby Keeler (dessen Vater Bushnell Keeler Lynch überhaupt auf die Idee brachte, Künstler zu werden), die Realisierung seines Debütfilms „Eraserhead“ (von dem Mel Brooks so begeistert war, dass er David Lynch bei seinem nächsten Film „Der Elefantenmensch“ in jeder Hinsicht seine volle Unterstützung gab) und die problematischen Entwicklungen bei der Produktion all der folgenden Filmen thematisiert.
Es wird vor allem deutlich, mit welchem Enthusiasmus Lynch seine Visionen verfolgte, wie entspannt und freundlich er immer am Set gewesen ist, wie sehr er die transzendentale Meditation von Maharishi Mahesh Yogi für sich zu nutzen verstand und immer an mehreren Projekten gleichzeitig arbeitete, wozu auch die Fotografie, die Malerei, Sounddesign und auf stets improvisierende Weise auch die Musik zählte. Es werden so viele Aspekte angesprochen, die sich in dem umfangreichen Kosmos von David Lynch und seinem Schaffen ereignet haben, dass nicht mal 700 Seiten ausreichen, um sie zu würdigen – wie auch Lynch selbst am Ende des Buches konstatiert:
„Wenn ich eine beliebige Seite des Buches aufschlage, denke ich: Mann, das ist ja nur die Spitze des Eisbergs, es gibt noch so viel mehr Geschichten zu erzählen. Man könnte ganze Bücher über einzelne Tage schreiben, und das wäre immer noch nicht genug. Eine gesamte Lebensgeschichte zu erzählen ist ein Ding der Unmöglichkeit, und was wir uns von diesem Buch bestenfalls erhoffen können, ist ein sehr abstraktes ‚Rosebud‘.“ (S. 694f.) 
Tatsächlich ist „Traumwelten“ so unterhaltsam geschrieben, dass einem David Lynch nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch sehr sympathisch wird. Das wird aus jeder einzelnen hier wiedergegebenen Episode und aus den Erinnerungen seiner privaten wie künstlerischen und geschäftlichen Weggefährten mehr als deutlich. In diesem Sinne wirkt das Buch aber auch eher wie eine Autobiografie, die wenig Raum für eine kritische Auseinandersetzung lässt, aber verdeutlicht, wie wertschätzend und humorvoll Lynch mit seinen Mitmenschen umgeht, wie sehr er immer wieder versucht, die dunklen Seiten des Lebens in seiner Kunst mit den schönen und wundervollen Dingen zu versöhnen.
Wer einen sehr persönlichen Einblick in Leben und Werk des Ausnahme-Künstlers David Lynch gewinnen möchte, wird „Traumwelten“ sehr unterhaltsam und erleuchtend finden. Wunderbare Schwarz-Weiß-Fotografien, eine ausführliche Filmografie und eine Auflistung der Ausstellungen runden diesen intimen Einblick in das Leben und künstlerische Schaffen von David Lynch ab.
Leseprobe David Lynch & Kristina McKenna "Traumwelten"

Lee Child – (Jack Reacher: 6) „Tödliche Absicht“

Dienstag, 17. Juli 2018

(Blanvalet, 480 S., Tb.)
Seit er als hochdekorierter Spitzenermittler der US-Militärpolizei vor Jahren freiwillig aus dem Dienst ausgeschieden ist, verfügt Jack Reacher weder über einen festen Wohnsitz noch einen Job, ist meist per Fuß oder per Anhalter unterwegs und eigentlich unauffindbar. Doch der aufgeweckten Leiterin des Personenschutzes beim Secret Service, M. E. Froelich, die mit Jacks mittlerweile verstorbenen Bruder Joe liiert gewesen ist, gelingt es trotzdem, den erfahrenen Ermittler durch eine Western-Union-Überweisung in Atlantic City aufzuspüren und ihn für einen außergewöhnlichen Job anzuheuern: Um Sicherheitslücken im Schutz des designierten Vizepräsidenten Brook Armstrong aufzudecken, soll Reacher einen Anschlag auf Armstrong vorbereiten.
Allerdings braucht Reacher nicht lange, um festzustellen, dass mehr hinter der heiklen Aufgabe steckt, die ihm die ebenso engagierte wie attraktive Froelich zugedacht hat, denn der Secret Service hat mit einer echten Bedrohung zu kämpfen, wie verschiedene Nachrichten, die abgefangen wurden, immer deutlicher machen. Als die Täter schließlich zwei beliebige Männer mit Namen Armstrong töten, wissen Reacher und Froelich, dass das Attentat auf die eigentliche Zielperson kurz bevorsteht.
„,Hier geht’s um Armstrong persönlich‘, fuhr Reacher fort. ,Es gibt keine andere Möglichkeit. Denken Sie an den Zeitrahmen, an Ursache und Wirkung. Armstrong ist erst diesen Sommer als Mitkandidat aufgetreten. Vorher war er praktisch unbekannt. Das hat Froelich mir selbst erzählt. Jetzt gehen Morddrohungen gegen ihn ein. Warum? Weil er im Wahlkampf irgendetwas getan hat, behaupte ich.‘“ (S. 339) 
Selbst wenn man noch keinen der vorherigen Jack-Reacher-Romane gelesen hat, macht es Lee Child den Lesern leicht, seinen charismatisch coolen Protagonisten kennenzulernen. Dazu gehört ein kurzer Abriss seiner imponierenden Laufbahn bei der Militärpolizei ebenso wie eine eindrucksvolle Demonstration seiner Nahkampffähigkeiten, bis er durch außergewöhnliche Umstände in einen verzwickten Fall hineingezogen wird, der seine ausgezeichneten Ermittler-Fähigkeiten erfordert.
In „Tödliche Absicht“ hat es Reacher nicht nur mit der Identifizierung der mutmaßlichen Attentäter und der Vereitelung des geplanten Anschlags auf den zukünftigen Vizepräsidenten zu tun, sondern auch mit einer überaus fähigen Secret-Service-Agentin, die die Trennung von Reachers Bruder Joe noch immer nicht verwunden hat.
Lee Child entwickelt den Plot mit langsam steigender Spannung, beschreibt dezidiert die Vorbereitungen, die der Secret Service und Reacher treffen, um die Attentäter aufzuspüren, die vor allem das mittlerweile involvierte FBI für Insider aus dem Secret Service hält. Reacher macht seinem hervorragenden Ruf wieder alle Ehre, ist bei seinen Schlussfolgerungen und Aktionen seinen Mitstreitern immer einen Schritt voraus und führt seinen Auftrag – überwiegend – erfolgreich zu Ende. Durch die Beziehung zwischen Froelich und Reachers Bruder erfahren wir weitere Details aus Reachers Vergangenheit. Interessanter als das Tête à tête zwischen Reacher und der Secret-Service-Agentin ist allerdings das Verhältnis zwischen Reacher und seiner unnahbaren Kollegin Neagley, der im Finale eine Schlüsselstellung zukommt.
Durch die sehr ausführlichen Schilderungen von Reachers Vorgehen und Analysen entstehen schon einige Längen, bis die Handlung in der zweiten Hälfte an Fahrt aufnimmt, aber dann erlebt der Leser einen REacher in Bestform. Das ist nicht mehr und nicht weniger, als man von einem Thriller dieser Reihe erwartet. 
Leseprobe Lee Child - "Tödliche Absicht"