Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 4) „Die Lady im See“

Samstag, 30. Oktober 2021

(Diogenes, 326 S., HC) 
Raymond Chandler (1888-1959) zählt neben Dashiell Hammett und James M. Cain zu den großen amerikanischen Hardboiled-Krimiautoren. Seine Figur des melancholischen Privatdetektivs Philip Marlowe hat nicht zuletzt durch Humphrey Bogarts Verkörperung in Howard Hawks' „Tote schlafen fest“ die Vorstellung des Publikums von einem Privatdetektiv geprägt. Leider hat Chandler bis zu seinem Tod nur sieben Marlowe-Romane (neben etlichen Kurzgeschichten) geschrieben, die nun nach und nach in einer Neuedition vom Diogenes Verlag erscheinen. „Die Lady im See“ stellt dabei den vierten Band in der Chronologie dar. 
Als Philip Marlowe das Treloar Building an der Olive Street betritt, wo die Gillerlain Company ihren Sitz hat, ist er auf dem Weg zu Derace Kingsley, dem Geschäftsführer des Kosmetik-Unternehmens. Er beauftragt Marlowe damit, seine Ehefrau Crystal zu suchen, die vor einem Monat einen Wochenendtrip zum gemeinsamen Wochenendhaus in der Nähe vom Puma Point unternommen hat, aber seitdem nicht mehr gesehen wurde. Das letzte Lebenszeichen seiner Frau erhielt Kingsley in Form eines Telegramms, in der Crystal ankündigte, über die mexikanische Grenze zu gehen, um sich scheiden zu lassen. Offenbar wollte sie ihren Liebhaber, den Gigolo Chris Lavery, heiraten, doch der habe Kingsley vor kurzem gegenüber behauptet, Crystal seit zwei Monaten nicht mehr gesehen zu haben. Marlowe macht sich also auf den Weg zum Privatsee Little Fawn Lake, wo er mit Bill Chess den Verwalter der Häuser von Kingsley und seines Freundes trifft. 
Von ihm erfährt Marlowe, dass Chess‘ Frau Muriel fast zu gleichen Zeit wie Crystal verschwand. Dann entdeckt Marlowe zufällig eine Leiche im See, die Chess nur anhand ihrer Kleider als Muriel identifizieren kann. Als auch noch ihr Wagen und ihre Kleider in einem Schuppen im Wald nahe des Sees gefunden werden, deutet alles darauf hin, dass die Frau im See ermordet wurde. Marlowe sucht daraufhin Lavery auf und stellt fest, dass sich gegenüber das Haus von Dr. Albert S. Almore befindet, bei dem Muriel Chess unter dem Namen Mildred Haviland als Arzthelferin arbeitete. Nach dieser Mildred suchte bereits ein Polizist namens De Soto, wie Marlowe von einer Lokalreporterin erfährt. Marlowe durchsucht das Haus von Bill Chess, nachdem dieser wegen Mordverdachts festgenommen wurde, und entdeckt eine Kette mit der Gravur „Von Al für Mildred, 28. Juni 1938. In Liebe.“ 
Als Marlowe dann auch Lavery erschossen in seiner Wohnung auffindet, scheint der Fall um das Verschwinden von Crystal Kingsley und Muriel Chess immer komplizierter zu werden … 
„Kingsleys Frau war bestimmt schon zur Fahndung ausgeschrieben oder würde es bald sein. Für die war die Sache in trockenen Tüchern. Eine widerliche Angelegenheit unter ziemlich widerlichen Menschen, zu viel körperliche Liebe, zu viel Alkohol und zu viel Nähe, die in wildem Hass münden, in Mordlust und Tod. Mir war das alles ein wenig zu einfach.“ (S. 184) 
Für seinen 1943 unter dem Titel „The Lady in the Lake“ erschienenen vierten Roman hat sich Chandler seiner beiden bereits 1938 und 1939 veröffentlichten Kurzgeschichten „Bar City Blues“ und „The Lady in the Lake“ bedient sowie beim Verweben der beiden Storys zu einem Roman auch die Geschichte „No Crime in the Mountains“ (1941) berücksichtigt, wie der Übersetzer der Chandler-Neuedition, Rainer Moritz, in seinem Nachwort erwähnt. Chandler beschreibt Bay City, wo sich der Großteil der Handlung abspielt, als wahren Sündenpfuhl, wo Dr. Almore die Prominenten mit Dorgen versorgt, schöne Frauen reihenweise den Männern die Köpfe verdrehen und sie als Wracks zurücklassen, und korrupte Cops wie Degarmo und die gewalttätigen Streifencops Cooney und Dobbs nahezu ungehindert ihre eigenen Dinger drehen. Auch wenn Philip Marlowe in erster Linie dem Police Captain Webber bei der Aufklärung der Morde hilft und dabei Kingsleys Auftrag nicht aus den Augen verlieren will, entpuppt sich „Die Lady im See“ weniger als klassischer Whodunit-Krimi, sondern als vertracktes Spiel um Identitäten, in das übrigens nicht nur die Femmes fatale verwickelt sind. 
Zwar nehmen die Verwicklungen zwischen den Vermissten- und Mordfällen zum Ende hin fast unübersichtliche Züge an, doch Chandler versteht es, mit seinem lakonischen Humor und seiner pointierten Sprache den Leser bei Laune zu halten, um Seite an Seite mit dem zutiefst moralischen Philip Marlowe zuzusehen, wie die Ordnung in der zerrütteten Welt wieder hergestellt wird.  

Kent Haruf – „Ein Sohn der Stadt“

Montag, 25. Oktober 2021

(Diogenes, 284 S., HC) 
Der am 24. Februar 1943 in Pueblo, Colorado, geborene Schriftsteller Kent Haruf schrieb leider nur sechs Romane, bevor er 2014 verstarb, und alle sechs Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt, ebenfalls in Colorado gelegen. Nachdem sich sein letzter Holt-Roman „Unsere Seelen bei Nacht“ nicht zuletzt durch die erfolgreiche Verfilmung mit Robert Redford und Jane Fonda in den Hauptrollen ein internationaler Bestseller wurde, erscheinen nach und nach auch die vorangegangenen Bände, mit „Ein Sohn der Stadt“ nun der zweite Roman in der Holt-Chronologie. 
Acht Jahre lang war der ehemalige Highschool-Footballstar Jack Burdette verschwunden – mit 150.000 Dollar, die er als Geschäftsführer der Farmerkooperative unterschlagen hat. Am späten Samstagnachmittag Anfang November kehrt der ehemalige Frauenschwarm in einem roten Cadillac überraschend nach Holt zurück, wobei er sich in jeder Hinsicht zum Nachteil verändert hat, gelbgesichtig, fettleibig, schmuddelig und mit schütterem Haar schindet er trotz seiner einschüchternden körperlichen Erscheinung keinen Eindruck mehr. Sheriff Bud Sealy nimmt Burdette sofort fest. Dabei ist dessen Vergehen längst verjährt. 
Pat Arbuckle, Herausgeber des „Holt Mercury“, erinnert sich, wie Jack Burdette bereits in der Schule alle für sich einnahm und vor allem von der hübschen Wanda Jo Evans angeschmachtet wurde, die ihm die Hausaufgaben machte und ihn mit Spickzetteln für die Seminararbeiten. Als Gegenleistung durfte sie ihn bei den Straßenrennen am Freitag- und Samstagabend begleiten. Nach dem Tod seines Vaters, der im betrunkenen Zustand von einem Güterzug erfasst wurde, brach er mit seiner streng religiösen Mutter und bezog ein Zimmer im Hotel Letitia, wo er regelmäßig Pokerrunden veranstaltete. 
Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich damit, nach der Schule und an den Wochenenden im Getreidesilo der Farmer-Kooperative zu arbeiten, wo er sich so gut machte, dass ihm später der Job als Manager angeboten wurde, doch zunächst leistete er seinen Wehrdienst ab, bevor er nach Holt zurückkehrte, wo Wanda Jo weiterhin vergeblich darauf wartete, dass Jack sie zur Frau nahm. Stattdessen kehrte er in seiner Funktion als Manager nach einer Tagung von Kooperative-Managern in Tulsa nicht nur um Tage verspätet zurück, sondern präsentierte dabei mit Jessie auch noch seine Ehefrau, die er bei dem Kongress kennengelernt hatte. Das war nicht nur für Wanda Jo ein schwerer Schlag, sondern zeigte auch, aus welchem Holz Jack wirklich geschnitzt war. Schließlich ließ er Jessie mit den zwei Kindern sitzen und verschwand nach Kalifornien … 
„Offenbar wollte sie in Holt bleiben, um dies durchzustehen, aus nur ihr selbst bekannten Gründen. Als wäre sie entschlossen, auch auf solche Ereignisse in ihrer eigenen ruhigen und selbständigen Art zu reagieren, als hinge ihr Selbstbild allein davon ab. Als würde sie etwas beweisen wollen. Daher war es letztendlich tragisch. Es ging um mehr als nur Geld. Als es vorbei war, schmerzte es dermaßen, darüber nachzudenken, dass es nur sehr wenige Leute in Holt gab, die bereit waren, sich überhaupt daran zu erinnern.“ (S. 184f.) 
Während der 1., 1984 veröffentlichte Holt-Roman „The Tie That Binds“ noch auf seine deutsche Übersetzung wartet, erzählt Kent Haruf mit „Ein Sohn der Stadt“ aus der Perspektive des örtlichen Zeitungsverlegers Pat Arbuckle die Geschichte eines Idols, das nicht nur erst die Mädchen und später die Frauen in der Stadt verrückt machte, sondern seinen Charme mit krimineller Energie verband, bis er sich um 150.000 Dollar bereicherte und ohne ein Wort sowohl die Stadt als auch seine Familie verließ. 
Was Jack Burdettes Verschwinden und seine unerwartete Rückkehr nach acht Jahren bei den Bewohnern der Stadt auslöst, beschreibt Haruf in gewohnt einfacher, aber eindringlicher Sprache, die vor allem die Emotionen der Stadtbewohner einfühlsam beschreibt. Dabei geht es weniger darum, wie die Kooperative nach dem ungeheuerlichen Betrug weiter ihre Arbeit verrichtete, sondern um das Schicksal der Zurückgebliebenen, wobei Wanda Joe und Burdettes Frau Jessie besonders im Fokus der Erzählung stehen. 
Wirklich dramatisch entwickelt sich die Geschichte nach Burdettes Rückkehr. Hier macht der Autor deutlich, wie stark Burdette die Geschicke in Holt, die Schicksale der Menschen, die er betrogen und verlassen hat, noch immer zu lenken versteht.  
„Ein Sohn der Stadt“ dokumentiert auf beeindruckende Weise, mit welch großer Empathie Kent Haruf seine Figuren und ihre Entwicklung gestaltet, so dass man sich als Leser direkt im Geschehen, in den Herzen und Köpfen der Menschen glaubt. 

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 7) „Schach unter dem Vulkan“

Sonntag, 24. Oktober 2021

(btb, 430 S., HC) 
Seit der schwedische Erfolgsschriftsteller Håkan Nesser 2003 mit „Sein letzter Fall“ seinen zehnten und vorerst letzten Roman um Kommissar Van Veeteren veröffentlichte, etablierte er mit Inspektor Barbarotti eine neue Figur, die fortan in Serie ermittelte. Mit „Schach unter dem Vulkan“ erscheint nun der bereits siebte Roman um den längst zum Kommissar beförderten Barbarotti, der mit seiner Kollegin und Frau Eva Backman im fiktiven Kymlinge das mysteriöse Verschwinden dreier Schriftsteller aufklären muss. 
Der erfolgreiche Schriftsteller Franz J. Lunde leidet seit zwei Jahren unter einer Schreibblockade. Seiner Lektorin Rachel Werner hat er zwar versichert, bis Weihnachten ein Manuskript über sechzig, siebzig Seiten vorzulegen, die Hälfte des Vorschusses ist auch schon ausbezahlt worden, doch die zündende Idee ist ihm bislang noch nicht gekommen. Als Lunde bei einer Lesung in Ravmossen aus dem Publikum mit der Frage einer Frau aus dem Publikum konfrontiert wird, ob er das perfekte Verbrechen, das er in seinem letzten Buch beschrieb, selbst erlebt habe, bricht der Moderator zwar die Fragerunde ab, doch im Hotelzimmer macht sich anschließend Angst bei dem Autor breit, der gerade an einem sehr autobiografisch gefärbten Manuskript mit dem Titel „Letzte Tage und Tod eines Schriftstellers“ arbeitet. 
Bei der anschließenden Lesung am 21. November in Kymlinge wiederholt sich der Vorfall, danach verschwindet Lunde spurlos von der Bildfläche. Als Lundes in der Schweiz lebende Tochter Viktoria tagelang keinen Kontakt zu ihrem Vater herstellen konnte, gibt sie eine Vermisstenmeldung auf. Während Barbarottis Kollegin und Frau Eva in Sydney verweilt, um ihrem fast dreißigjährigen Sohn Kalle aus der Klemme zu helfen. Er sitzt wegen des Verdachts auf Drogenbesitz und Misshandlung seiner Frau in Untersuchungshaft. In einem Gespräch mit Lundes Schwester und der Polizeianwärterin Sisulu erfährt Barbarotti, dass Lundes Frau vor einigen Jahren nach einer Wanderung an der Grenze zwischen den USA und Kanada verschwand und Lunde selbst vor ein, zwei Jahren auch völlig untergetaucht sei. 
Als aber mit der Lyrikerin Maria Green und dem gefürchteten Literaturkritiker Jack Walde zwei weitere Autoren von der Bildfläche verschwinden, ohne dass es einen Anhaltspunkt gibt, was es mit diesen Fällen auf sich hat, beginnen Barbarotti und seine dann aus Australien zurückgekehrte Frau mit der kaum Resultate bringenden Spurensuche. 
„Wie stellt man sicher, dass man mit diesem Frachter keinen Schiffbruch erleidet? Wenn nirgendwo Land in Sicht ist, wie gelingt es einem dann, wenigstens den richtigen Kurs zu finden? Er merkte, dass ihn Lindhagens länger zurückliegende Bemerkung ärgerte, drei Fälle ergäben ein besseres Muster als zwei. War das nur etwas gewesen, das man in die Runde warf, weil es schlau klang, oder war da etwas dran? Auf welche Weise konnte Jack Waldes Schicksal, wie immer es auch aussehen mochte, zur Klärung der Frage beitragen, was mit Franz J. Lunde und Maria Green passiert war?“ (S. 326) 
Mit „Schach unter dem Vulkan“ bewegt sich Nesser in einem Metiers, das er aus eigener Erfahrung nur zu gut kennt, doch bekommt der Leser nur wenig Neues aus dem Literaturbetrieb vermittelt, außer einer Idee davon, wie verschroben und zurückgezogen Schriftsteller sein können. Davon abgesehen plätschert der neue Barbarotti-Roman ebenso ziellos dahin wie die Ermittlungen von Nessers Protagonisten, der selbst etwas blass bleibt. Die kurze Krise, die die räumliche Trennung von Barbarotti und Backman heraufbeschwört, ist schon so schnell überwunden, wie Eva Backman wieder aus Australien zurückkehrt und sich mit ihrem Mann in die Ermittlungen reinhängt. 
Auch hier gewinnen die Figuren wenig Profil, am meisten noch Lunde und der Kritiker Walde, der unter Pseudonym sehr erfolgreich Romane verfasst, die er als Kritiker gnadenlos verreißen würde, doch Spannung kommt nie auf, da es nie auch nur einen Hinweis auf das Schicksal der drei vermissten Autoren gibt und erst zum Ende der Fall eher zufällig gelöst wird. 
Bis dahin lässt Nesser auch recht oberflächliche Kommentare zu Donald Trump und den Auswirkungen der gerade um sich greifenden Corona-Pandemie in die Geschichte einfließen, überzeugt mit humorvollen Einfällen und sprachlichen Feinheiten, doch insgesamt zählt „Schach unter dem Vulkan“ definitiv zu den schwächeren Werken des schwedischen Bestseller-Autors.  

Jonathan Franzen – „Crossroads“

Dienstag, 19. Oktober 2021

(Rowohlt, 826 S., HC) 
Mit schwergewichtigen Romanen wie „Die Korrekturen“, „Schweres Beben“, „Freiheit“ und „Unschuld“ hat sich der US-amerikanische Schriftsteller und Essayist Jonathan Franzen als einer der wichtigsten Stimmen der Gegenwartsliteratur etabliert. Nun legt er mit seinem neuen Roman „Crossroads“ erneut einen imponierend ausschweifenden Familienroman vor – und das ist nur der Anfang seiner „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“ genannten Trilogie. 
Am 23. Dezember 1971 steckt die Familie des protestantischen Pastors Russ Hildebrandt ganz in den Vorbereitungen des Weihnachtsfestes, doch eigentlich sind Russ, seine Frau Marion und ihre Kinder Perry, Clem und Becky mit ihren jeweils eigenen und zwischenmenschlichen Problemen beschäftigt. Das Familienoberhaupt hat es beispielsweise noch immer nicht verwunden, dass ihm der der beliebte Rick Ambrose als Leiter des Jugendprogramms „Crossroads“ den Rang bei den jüngeren Mitgliedern der Gemeinde in New Prospect abgelaufen hat. 
Während Russ in seiner – übrigens von seiner Frau verfassten – Predigten eher von Vietnam und den Navajos redet, bringt sein jüngerer und empathischerer Kollege die Jugendlichen dazu, auf eine durchaus schmerzlich ehrliche, aber auch spirituell bereichernde Weise miteinander umzugehen. Perry, der schon als Jugendlicher Drogen an der Schule vertickte, versackt zunehmend selbst im Drogenrausch und führt das fragile Familiengefüge bis an die Belastungsgrenze. Mittlerweile hat sich Becky nämlich mit dem Musiker Tanner Evans eingelassen, mit dem sie unbedingt nach Europa will, wofür ihre jüngst verstorbene Tante ihr eine großzügige Summe in ihrem Testament hinterlassen hat. Clem wiederum will die moralische Ungerechtigkeit wieder wettmachen, dass er wegen seines begonnenen Studiums nicht nach Vietnam musste, während vor allem weniger privilegierte Schwarze eingezogen wurden. Als Russ einer Siebzehnjährigen anvertraut, dass es in seiner Ehe nicht gut laufe, kommt es fast zum Eklat, wird dieses unangemessen wirkende Geständnis doch fast als sexuelle Belästigung betrachtet. Die Demütigung, die Russ durch diese Ausgrenzung erfährt, schlägt sich auch in seiner Ehe nieder. Während er seiner zunehmend dickeren Frau kaum noch Beachtung schenkt, flüchtet er sich in die Phantasie, mit der zehn Jahre jüngeren Witwe Frances Cottrell anzubandeln, die Russ nur zu gern von ihren rassistischen Vorurteilen befreien möchte, ihr seine liebsten Blues-Platten ausleiht und sie zur Arbeitsfreizeit ins Najavo-Reservat mitnimmt. 
Als Marion von der sich anbahnenden oder schon vollzogenen Affäre erfährt, sehnt sie sich nach ihrer Jugendliebe Bradley zurück, den sie durch ein gedankenloses Manöver vertrieben hatte, macht Diät und sucht ihn nach über dreißig Jahren wieder auf. 
„Sie war nie über Bradley hinweggekommen. Der Mann, in den sie ihr Leben investiert hatte, war zweite Wahl gewesen – so unsicher, wie Bradley selbstbewusst war, so unbeholfen beim Schreiben und zögerlich beim Sex, wie sich Bradley in beidem als großartig erwiesen hatte. Vielleicht hatte sie damals in Arizona einen Mann gebraucht, den sie führen und übertrumpfen konnte, aber die Ehe war längst zu einem bloßen Arrangement verkommen: Als Gegenleistung für ihre Dienste warf Russ sie den Wölfen nicht zum Fraß vor.“ (S. 401) 
Jonathan Franzen legt mit „Crossroads“ nicht nur einen umfangreichen Familienroman über drei Generationen vor. Vielmehr macht er durch die seelischen Nöte einer christlich geprägten Familien Anfang der 1970er in einem fiktiven Vorwort von Chicago die moralischen Konflikte transparent, die jedes einzelne Familienmitglied daran hindern, glücklich zu werden. Stets scheint das, was ein gottgefälliges Leben vermeintlich ausmacht, im Gegensatz zu dem zu stehen, was sich die Protagonisten für sich selbst wünschen. 
So steht für Russ Hildebrandt bei seiner Gemeindefreizeit im Navajo-Reservat auf einmal weniger die Mission im Mittelpunkt, die Teilnehmer einen anderen Blick auf die Ureinwohner zu gewinnen, als die Möglichkeit, möglichst viel Zeit mit der attraktiven Witwe Frances zu verbringen. Und Becky muss als Alleinerbin des Vermögens ihrer Tante entscheiden, ob sie das Geld christlich unter den anderen Familienmitgliedern aufteilen oder wie von ihrer Tante gewünscht einen Trip nach Europa finanzieren soll, wobei immer noch genügend Geld für die ersten Jahre ihrer College-Ausbildung übrigbleiben würde. 
Franzen überlässt es seinen Lesern, sich ein eigenes Bild von diesen Überlegungen und letztlich getroffenen Entscheidungen zu machen. Er selbst agiert als parteiloser, detailliebender Chronist, der tief in das innerste Wesen seiner Figuren eintaucht und so ein wunderbar lebendiges Epos über Liebe und Lügen, Selbstverwirklichung, Sündhaftigkeit und Pflichtbewusstsein, Geheimnisse, Erwartungen und Enttäuschungen erschafft, das man nicht mehr aus den Händen legen mag und dessen Fortsetzung sehnlichst erwartet wird.  

Mick Herron – (Jackson Lamb: 4) „Spook Street“

Sonntag, 3. Oktober 2021

(Diogenes, 448 S., Pb.) 
Während Daniel Craig wohl definitiv zum letzten Mal in der Rolle des weltweit berühmtesten britischen Spions in „Keine Zeit zu sterben“ die Welt im Kino zu retten versucht, geht es seit Jahren schon im sogenannten Slough House weitaus ruhiger zu. Unter der Leitung des furzenden, wenig umgänglichen, aber enorm gerissenen Jackson Lamb verrichtet seine beim MI5 in Ungnade gefallenen „Slow Horses“ öden Papierkram, geraten aber immer wieder zwischen die Fronten, wenn der offizielle Geheimdienst in Schwierigkeiten steckt. 
So kann der MI5 nicht verhindern, dass in der Westacres-Mall bei einem Bombenanschlag über vierzig Menschen ums Leben kommen – kein guter Einstig für den neuen MI5-Leiter Claude Whelan. Dann gibt es auch noch einen Mord im Haus von David „O.B.“ Cartwright aufzuklären. 
Mit Sorge hat der MI5 verfolgt, wie der einstige Stellvertreter des MI5-Bosses Charles Partner und Großvater von Slow Horses River Cartwright, allmählich senil wird und versehentlich Geheimnisse ausplaudern könnte. Zunächst gehen der MI5 und Jackson Lambs Leute davon aus, dass der Tote in Cartwrights Badezimmer sein Enkel sei, doch bei dem zerfetzten Gesicht der Leiche muss die Autopsie Gewissheit geben. 
In der Zwischenzeit ist River Cartwright mit einer Zugfahrkarte, die er in der Tasche des Toten gefunden hat, nach Frankreich gereist, wo er auf das frisch abgebrannte Haus stößt, in dem zuvor eine merkwürdige Kommune untergebracht war. Bei dem Projekt Kuckuck hatte nicht nur Rivers Vater seine Hände im Spiel, sondern auch ein abtrünniger CIA-Agent. Bevor River die Puzzleteile zusammensetzen kann, wird er in London gekidnappt. Emmy Flyte, die von der Metropolitan Police zum MI5 gekommen ist, wo sie von der wegen Amtsmissbrauch geschassten Dame Ingrid Tearney die Leitung der internen Dienstaufsicht des MI5, den Dogs, übernommen hat, hofft auf die Unterstützung von Lambs lahmen Gäulen, die sich in ihrem Slough House nicht mehr sicher fühlen können. Schließlich löst der O.B. selbst das Rätsel. 
„Er wäre besser dran, sein Leben im Regen oder im Regent’s Park aufs Spiel zu setzen, als hier zu sitzen und Lamb zuzuhören, wie er den Dämon exorzierte, der ihn gepackt hatte. Und vielleicht hatte sie das auch getan, sagte sie sich jedenfalls später, wenn Cartwright nicht wieder angefangen hätte zu reden.“ (S. 335) 
Mit seinem bereits vierten „Slough House“-Roman präsentiert der englische Schriftsteller Mick Herron einmal mehr wunderbare Spionage-Unterhaltung, die mit einem großen Knall beginnt und dann immer tiefer in die Labyrinthe des MI5 und des weniger rühmlichen Ablegers von Jackson Lambs Slough Hous führt. Auf elegante Weise führt der Autor seine Leserschaft wie die blubbernden Heizungsrohre durch die einzelnen Büros von Slough House, stellt in wenigen Sätzen die einzelnen Mitarbeiter vor, zu denen sich bald auch Lambs alkoholsüchtige Sekretärin Catherine Standish gesellt, die bereits ihre Kündigung eingereicht hat, aber durch die Cartwrights wieder ins Spiel kommt. 
Herron findet einmal mehr eine ausgewogene Mischung aus bewährter Spionage-Action, vertrackten Fährten und Verbindungen, die vor allem tief in River Cartwrights Biografie eingreifen. Leider wird sich der Leser einmal mehr von einige vertrauten Figuren verabschieden müssen, aber Herron macht aus der Not eine Tugend und führt dafür neue interessante Charaktere ein, von denen sich zeigen wird, ob sie das harte Agenten-Dasein überstehen. Herron deutet bereits an, dass Diana Taverner sich nicht damit begnügen wird, die zweite Geige hinter ihrem neuen Boss Whelan zu spielen. 
Die wunderbar vielschichtigen, humorvollen Charakterisierungen von Jackson Lambs Crew-Mitgliedern, die pointierten Dialoge, die spannende Handlung und die atmosphärisch stimmige Beschreibung der Schauplätze in London machen „Spook Street“ zu einem echten Lesegenuss nicht nur für Fans des Spionage-Genres.  

Dave Zeltserman – „Killer“

Sonntag, 19. September 2021

(Pulp Master, 264 S., Tb.) 
Leonard March stand 1993 für eine ganze Reihe von Verbrechen vor Gericht. Wegen Schutzgelderpressung, Menschenhandel, Prostitution und versuchten Mordes drohten ihm gut 30 Jahre Gefängnis, doch dann schlug March dem Staatsanwalt einen Deal vor, den er nicht ablehnen konnte. Indem er ihm die Mafiagröße Salvatore Lombard ans Messer lieferte, musste er „nur“ 14 Jahre absitzen und bekam dazu Straffreiheit für alle weiteren Verbrechen, die ihm im Gegenzug Lombard hätte anlasten können. Deshalb gesteht March dem Bezirksstaatsanwalt 28 Morde, die er für den Mafiaboss aus Chicago ausgeführt hat. 
Als er nun wieder auf freien Fuß kommt, ist March mit über 60 Jahren auf dem Buckel ein alter, ausgezehrter Mann, der nicht mehr in seine alten Klamotten passt und durch seinen Resozialisierungs-Fallmanager einen Job als Reinigungskraft in einem kleinen Bürogebäude in Waltham und ein möbliertes Einzimmerapartment bekommen hat. Doch wirklich entspannt kann March nicht sein. Zwar wird ihm geraten, möglichst schnell die Umgebung zu wechseln, um nicht Lombards Männern in die Hände zu fallen, aber in drei Wochen hat er vor dem Bezirksgericht in Chelsea zu erscheinen, wo über fünf Klagen auf Tod durch Fremdverschulden gegen ihn verhandelt wird. Marchs Alltag wird nicht nur von der Sorge geprägt, Lombards Rache zu spüren zu bekommen, sondern auch von den Leuten auf der Straße erkannt zu werden. 
Als er einen Überfall verhindert und zwei Crack-Junkies außer Gefecht setzt, wird der ehemalige Auftragskiller von den Medien zum Helden stilisiert, was March ebenso unangenehm ist, gerät er so noch leichter ins Fadenkreuz seiner ehemaligen Mafia-Familie. Schließlich macht er die Bekanntschaft der etwas heruntergekommen wirkenden, aber trotzdem überaus attraktiven, gut dreißig Jahre jüngeren Sophie, die von der Idee begeistert ist, zusammen mit ihm ein Buch über sein Leben zu schreiben und das große Geld zu machen. Doch March hat zu viel erlebt in seinem Leben, seine Frau Jenny an den Krebs verloren und den Kontakt zu seinen drei Kindern verloren, als dass er sich auf solche Angebote einlassen würde. 
„ … es war nun mal so, dass sie mit mir spielte und vom ersten Augenblick mit mir gespielt hatte, ich aber etwas wusste, von dem sie keine Ahnung hatte: dass es eine echte Verbindung gab zwischen uns. Ich hätte nicht genau sagen können, was es war, aber ich konnte es spüren, so deutlich wie ich Sophies elektrisierende Berührung spürte. So gut sie als Scharlatan auch war – und sie war verdammt gut -, ohne diese Verbindung hätte sie sich in meiner Gegenwart niemals so wohlgefühlt, und ich war überzeugt, diese Teil war kein Theater.“ (S. 186) 
Mit „Killer“ ist dem aus Boston stammenden Schriftsteller Dave Zeltserman ein faszinierendes Portrait eines ehemaligen Auftragsmörders gelungen, dem seine gewalttätige Vergangenheit nicht nur alles genommen hat, sondern auch nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wie Betonklötze am Bein hängt. Zeltserman beschreibt den neuen Alltag seines Antihelden ebenso ausführlich wie lakonisch, so dass der Leser sofort feststellen muss, dass sich Leonard Marchs Lebensumstände in Freiheit nicht gerade verbessert haben. 
Immer mit der Angst im Nacken, von Lombards Leuten kaltgestellt zu werden, muss sich March den neugierigen und verängstigten Blicken der Menschen stellen, erhält Hausverbot in dem Café, in der zunächst morgens sein Frühstück einnimmt, übt nachts einen langweiligen Job aus und versucht vergeblich, den Kontakt zu seinen Kindern wieder herzustellen. Dazwischen rollt der Autor chronologisch die einzelnen Episoden auf, in denen March seine Karriere als Auftragsmörder einschlug, beschreibt einige der Jobs, die ausnahmslos schwarze Schafe waren, Killer, Kinderschänder und Verräter, die es nicht anders verdient haben, aber es gab auch einige Kollateralschäden … 
Wegen seiner misstrauischen Familie wollte March den Job schließlich aufgeben, aber wer erst einmal im Dienst der Mafia steht, kommt da nicht ohne weiteres lebend heraus.  
Zeltserman muss keinen tempo- und wendungsreichen Plot entwickeln, um „Killer“ zu einem packenden Lesegenuss zu machen. Es reicht die ungewöhnlich detaillierte Beschreibung des Ich-Erzählers, wie er mühsam sein Leben wieder auf die Kette bekommen will und dabei der ungeliebten Aufmerksamkeit der Medien entkommen muss. Zeltserman hat mit „Killer“ einen herrlich zynischen Neo-Noir geschrieben, der die deprimierenden Lebensumstände seines Protagonisten mit brutaler Nüchternheit beschreibt und auch die typische Femme fatale eine Hauptrolle spielen lässt. 
Das konsequent inszenierte Finale macht einmal mehr deutlich, dass Zeltserman eine ganz eigene Stimme in der Noir-Welt darstellt.  

Jim Thompson – „After Dark, My Sweet“

Mittwoch, 15. September 2021

(Diogenes, 220 S., Tb.) 
Seit seinem Debütroman „Now and on Earth“ (2011 als „Jetzt und auf Erden“ erstmals in deutscher Übersetzung erschienen) hat sich Jim Thompson, der seinen Lebensunterhalt teilweise als Alkoholschmuggler für Al Capone verdiente, schon mit 19 Jahren Alkoholiker war und zunächst True-Crime-Stories veröffentlichte, als Noir-Schriftsteller etabliert, der auch in Hollywood Fuß fassen konnte und beispielsweise die Drehbücher für Stanley Kubricks „Die Rechnung ging nicht auf“ und „Wege zum Ruhm“ schrieb. Die Veröffentlichung von „After Dark, My Sweet“ im Jahr 1955 fiel in seine produktivste Phase. 
William ,Kid‘ Collins hat bereits eine Boxer-Karriere und vier Aufenthalte in Heilanstalten hinter sich, als er am Stadtrand in einer Bar einkehrt und seine letzten Tage bei einem Bier Revue passieren lässt: Nachdem er die letzte Heilanstalt „verlassen“ hatte, nahm er einem Typen siebzig Dollar ab, überquerte die Staatsgrenze und ist seitdem nur auf Achse, mit nur noch vier Dollar in der Tasche. 
Er kommt mit dem Barkeeper Bert ins Gespräch und lernt die durchaus ansehnliche Fay Anderson kennen, die Collins mit zu sich nach Hause nimmt, wo sich schnell herausstellt, dass Collins‘ Gastgeberin nicht nur Witwe, sondern auch Alkoholikerin ist. Wie Collins ebenfalls bald erfahren muss, hat sie sich seiner nicht nur aus purer Nächstenliebe angenommen, sondern plant mit ihm und ihrem Komplizen ,Onkel‘ Bud die Entführung von Charles Vanderventer III, den Sohn einer mehr als wohlhabenden Familie. Zwischenzeitlich bekommt Collins zwar die Möglichkeit, durch die Unterstützung von Dr. Goldman wieder ein geordnetes Leben zu führen, doch entscheidet er sich für Fay, deren alkoholinduzierte Launen er erträgt, weil sie im ,normalen‘ Zustand auch sehr liebenswert sein kann. 
Bei der Entführung soll Collins die Rolle des Chauffeurs übernehmen, der das Entführungsopfer normalerweise von der Schule abholt, worauf Onkel Bud der Familie 72 Stunden Zeit für die Zahlung des Lösegeldes einräumt. Zwar erwischt Collins das falsche Vanderventer-Kind, doch ansonsten scheint der Plan aufzugehen – bis sich herausstellt, dass das Opfer unter Diabetes leidet und seinen Entführern unter den Händen wegzusterben droht … 
„Ich war so verwirrt und durcheinander, dass mir nichts mehr logisch erschien, jede Kleinigkeit war für mich ein neuer Grund für meinen Verdacht. Alles und nichts. Wenn sich die Sache in die falsche Richtung entwickelte, gefiel es mir nicht, aber wenn sie sich in die andere entwickelte, gefiel es mir auch nicht. Und – und ich musste damit aufhören! Wenn ich nicht aufhören würde, wenn die Leute mir weiterhin Schwierigkeiten machten, mich weiterhin einkreisten, mich an die Wand drückten und mir die Luft abschnitten und …“ (S. 143) 
Thompson hat sich in den über zehn Romanen vor „After Dark, My Sweet“ bereits eine gewisse Routine erarbeitet, was die stets verhängnisvollen Beziehungen seiner Protagonisten angeht. Auch in diesem Roman taumelt der Ich-Erzähler mit bewegter Vergangenheit von einer schwierigen Situation in die nächste, lässt sich auf die falschen Leute ein und hofft doch nur, mit Fay – trotz ihrer Fehler und Schwächen – ein neues Leben beginnen zu können. 
Der Autor erweist sich als guter Beobachter menschlichen Verhaltens, charakterisiert seine Figuren durchaus tiefgründig, treibt die Handlung temporeich und mit vielen Wendungen voran, würzt den Plot mit gewohnt pointierten Dialogen und wartet mit einem überraschenden Finale auf. 
Auch wenn „After Dark, My Sweet“ nicht den allerbesten Noir aus Thompsons Feder darstellt, unterhält der Roman von Anfang bis Ende auf hohem und wurde 1990 von James Foley mit Rachel Ward, Jason Patric und Bruce Dern in den Hauptrollen verfilmt. 

 

Dave Zeltserman – „Small Crimes“

Freitag, 10. September 2021

(Pulp Master, 340 S., Tb.) 
Nachdem er den Bezirksstaatsanwalt Phil Coakley mit dreizehn Messerstichen ins Gesicht für immer fürchterlich verunstaltet hatte, durfte der korrupte Cop Joe Denton sieben Jahre im Gefängnis seiner Heimatstadt Bradley absitzen, wo er kurz vor seiner Entlassung noch eine Partie mit dem Gefängnisdirektor Morris Smith spielt. Dass Denton nach so kurzer Zeit auf Bewährung entlassen wird, hat er vor allem der Tatsache zu verdanken, dass er damals seinen Boss, Dan Pleasant, und den hinter ihm stehenden Polizeiapparat nicht verpfiffen hatte. Dabei hat Denton durchaus noch mehr auf dem Kerbholz, als ihm damals in der Verhandlung zur Last gelegt worden war. 
Eigentlich will Denton nun verlorene Zeit nachholen, vor allem mit seinen beiden Töchtern. Doch wie er von seinen Eltern, bei denen er nach seiner Entlassung einzieht, erfahren muss, hat seine Ex-Frau Elaine mit den Kindern die Stadt in Richtung Albany verlassen und will nichts mehr von ihm wissen. Allerdings hängt Denton noch seine Vergangenheit nach. Sein alter Chef hat zwar ein Päckchen mit sechstausendfünfhundert Dollar und Papiere für ihn, die Denton offiziell nach zwanzig Dienstjahren mit 3460 Dollar monatlich in Pension gehen lassen, aber er hat noch einen schmutzigen Job zu erledigen: Während der örtliche Mafiaboss Manny Vassey mit Krebs im Endstadium im Krankenhaus auf sein letztes Stündlein wartet, liest ihm Coakley täglich aus der Bibel vor und versucht dem Todkranken ein Geständnis abzuluchsen. Das würde nicht nur für Denton, sondern auch für seine ehemaligen Kollegen und vor allem für Pleasant mehrere Jahre Knast bedeuten. Bevor Vassey irgendetwas ausquatscht, soll Denton zeitnah entweder Vassey oder Coakley ins Jenseits befördern. Da kommt ihm die Bekanntschaft mit der Krankenschwester Charlotte Boyd gerade recht. 
Denton versucht, sie dazu zu bewegen, Vassey eine tödliche Dosis Morphium zu spritzen, doch inzwischen versucht auch Vasseys psychopathischer Sohn Junior, seinen alten Herrn vor unbequemen Besuchen zu beschützen. Doch Denton ist guter Dinge, dass sich trotz aller Schwierigkeiten die Geschichte zu seinen Gunsten entwickelt … 
„Es gab keinen Grund zur Beunruhigung. Manny würde sich bald verabschieden, und fertig. Dan Pleasant würde mir nicht länger im Nacken sitzen, Phil Coakley mit leeren Händen dastehen und Junior, tja, der war nach wie vor eine Baustelle. Um ihn musste sich irgendwie gekümmert werden. Es musste ihm heimgezahlt werden, dass er zweimal auf mich geschossen hatte. Mir würde schon etwas einfallen, und wenn alles vorbei war, würde ich woanders einen Neuanfang machen.“ (S. 206) 
Der von Noir-Autoren wie Jim Thompson und James M. Cain beeinflusste aus Boston stammende Schriftsteller Dave Zeltserman legt mit dem 2008 veröffentlichten Roman „Small Crimes“ einen temporeichen Thriller vor, der die Schwierigkeiten seines Ich-Erzählers thematisiert, nach einer glücklicherweise viel zu kurzen Haftstrafe sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Allerdings überwirft er sich nicht nur schnell mit seinen Eltern und seiner Ex-Frau, die ihm den Kontakt mit den gemeinsamen Kindern verbietet, sondern hat noch mit seiner kriminellen Vergangenheit zu kämpfen. 
Zwar wirkt der korrupte Ex-Cop nach seiner Entlassung etwas geläutert, doch braucht es nicht viel, bis er wieder zum Koks greift und die Menschen in seiner Nähe zu manipulieren versucht. 
Sympathieträger sucht man in „Small Crimes“ vergebens. Zeltserman versieht seine sprachlich recht einfach gestrickte Geschichte vor allem mit viel Action, die Denton in immer schwierigere Situationen manövriert, die oft nur mit Gewalt und Verrat zu lösen sind. Das ist ebenso spannend wie unterhaltsam, doch überzieht Zeltserman am Ende etwas den Bogen mit einem zu unglaubwürdigen Finale. Wer aber auf ebenso flüssig zu lesende wie temporeiche Thriller-Kost steht, wird an „Small Crimes“ viel Freude haben.  

Hari Kunzru – „Red Pill“

Samstag, 4. September 2021

(Liebeskind, 352 S., HC) 
Mit seinen Romanen „Götter ohne Menschen“ und „White Tears“ hat sich der britische Autor Hari Kunzru bereits als einer der interessantesten Stimmen innerhalb der Gegenwartsliteratur präsentiert. Nun legt er mit „Red Pill“ einen vielschichtigen Roman vor, der nicht von ungefähr auf die Wahl zwischen den Pillen im Science-Fiction-Klassiker „The Matrix“ verweist. 
In seinem neuen Roman schickt Kunzru seinen Protagonisten auf eine wilde Odyssee der Selbstfindung, die von Paranoia, Verschwörungstheorien und medialer Manipulation geprägt wird. Ein amerikanischer Schriftsteller in den mittleren Jahren, seit fünf Jahren mit der Menschenrechtsanwältin Rei verheiratet, mit der er und ihrer gemeinsamen dreijährigen Tochter in Brooklyn lebt, erhält ein dreimonatiges Stipendium für den Aufenthalt der in Berlin Wannsee Kulturstiftung Deuter Zentrum für Sozial- und Kulturforschung. Hier versucht er, nicht nur seine Schreibblockade zu durchbrechen, sondern auch seine Ehe zu retten, die – wie er glaubt - unter seiner mangelnden Inspiration und Produktivität leidet. 
Doch während die Akademie ihrem Gründer, einem ehemaligen Wehrmachtsoffizier, der als vermögender Industrieller das Ziel verfolgte, „das volle Potenzial des individuellen menschlichen Geistes“ zu fördern, Werte wie Offenheit und Transparenz proklamiert, sieht sich der US-Amerikaner gezwungen, in einem Arbeitsraum mit den anderen Stipendiaten zu schreiben und an gemeinsamen Abendessen teilzunehmen. Schließlich gewinnt er den Eindruck, dass sein Zimmer überwacht wird. Statt sich mit der unerwarteten Arbeitssituation zu arrangieren, unternimmt der Schriftsteller lange Spaziergänge in Wannsee, wo einst die Nazis die Vernichtung der Juden beschlossen haben, streamt in seinem Zimmer die Cop-Serie „Blue Lives“, dessen Showrunner er zufällig bei einer Gala anlässlich der Berlinale kennenlernt und der sich für den Stipendiaten als ultrarechter Verschwörer erweist, dessen Ambitionen er beim Durchforsten verschiedener Blogs und Foren zu entschlüsseln versucht. 
Als der Schriftsteller das Deuter-Zentrum verlassen muss, fliegt er jedoch nicht nach Hause, wo sich seine Frau zunehmend Sorgen um seine geistige Verfassung macht, sondern folgt Anton nach Paris und Schottland, fest dazu entschlossen, alles zu tun, um die Sicherheit seiner Familie zu gewährleisten. Denn wenn man Anton seine Pläne verwirklichen lässt, ist sich der Schriftsteller sicher, wird die Welt nicht mehr so sein wie zuvor … 
„Ich glaube, wir haben alle einen Ort, ein geistiges Labor, an dem wir mit Gedanken experimentieren, die zu fremd oder zu zerbrechlich sind, um offen gezeigt zu werden. Ich glaube, dass wir diesen Ort schützen müssen, um uns wie Menschen zu fühlen. Er schrumpft, sein Spielraum wird durch Techniken der Voraussage und Kontrolle eingeschränkt, durch das unheilvolle Gebot der sozialen Medien, Dinge zu teilen.“ (S. 322) 
Vordergründig erzählt Kunzru, der 2016 selbst zu Gast an der American Academy in Berlin Wannsee gewesen und wie sein Protagonist Sohn eines indischen Vaters und einer britischen Mutter ist, die Geschichte eines Mannes, der eine elementare Sinn- und Schaffenskrise zu bewältigen versucht, aber in dem geschichtsträchtigen Deuter-Zentrum schnell sein eigentliches Ziel aus den Augen verliert. Er ist von Heinrich von Kleists Selbstmord ebenso gefesselt wie von der brutalen Cop-Serie „Blue Lives“, wird durch die Bekanntschaft des faszinierenden und undurchschaubaren Anton aber zunehmend aus der Bahn geworfen. 
Kunzru beschreibt auf eindringliche Weise, wie leicht unsere wie selbstverständlich wirkenden liberalen, demokratischen Werte über Bord geworfen werden können. In einem eigenen Abschnitt erzählt der Autor die Geschichte von Monika, der Putzfrau im Deuter-Zentrum, die in der DDR aufgewachsen ist, sich der dortigen Punk-Bewegung angeschlossen hat und schließlich als mutmaßlicher Stasi-Spitzel denunziert wurde. Von den Gräueln des Nazi-Regimes über das Wirken der Stasi-Diktatur bis zu dem Abend, an dem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, entwickelt Kunzru das beunruhigende Bild einer Gesellschaft, in der die Menschen zunehmend bereit sind, sich vorschnell über die sozialen Medien manipulieren und instrumentalisieren zu lassen und so die liberale Werteordnung verraten, um rassistischen und nationalistischen Kräften das Feld zu überlassen. 
Zwar wirkt „Red Pill“ nicht sehr einheitlich in seiner Form, springt Kunzru doch sehr oft bei Ort und Zeit, Ton und Thema hin und her, aber die beunruhigende Botschaft des Romans wirkt lange nach. 

James Sallis – „Sarah Jane“

Samstag, 28. August 2021

(Liebeskind, 218 S., HC) 
Mit seinen Serien um den Privatdetektiv Lew Griffin („Die langbeinige Fliege“, „Stiller Zorn“, „Nachtfalter“) und den Ex-Cop Turner („Dunkle Schuld“, „Dunkle Vergeltung“, „Dunkles Verhängnis“) hat sich der US-amerikanische Schriftsteller James Sallis in die Herzen anspruchsvoller Krimi-Fans geschrieben. Seit seinem erfolgreich – unter dem Titel „Drive“ mit Ryan Gosling in der Hauptrolle - verfilmten Bestseller „Driver“ hat Sallis hierzulande seine literarische Heimat in der Verlagsbuchhandlung Liebeskind gefunden, wo mit „Sarah Jane“ ein weiteres Zeugnis von Sallis‘ beeindruckender Erzählkunst erschienen ist. 
Sarah Jane Pullman hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Sie wuchs mit ihrem Bruder Darnell in der Kleinstadt Selmer zwischen Tennessee und Arkansas bei ihren Eltern auf, die sich neben ihren regulären Jobs um eine Hühnerzucht kümmerten, ist früh von zuhause ausgezogen, hat schräge Beziehungen hinter sich gebracht und musste verkraften, dass ihre Tochter bei der Geburt gestorben ist. Als sie nach einer weiteren schlechten Entscheidung vom Richter vor die Wahl gestellt wird, entweder ins Gefängnis oder zur Army zu gehen, entscheidet sie sich für den Militärdienst, arbeitet schließlich als Köchin in ganz verschiedenen Restaurants und Kantinen. 
Sarah Jane macht ihren College-Abschluss und bekommt durch ihren Freund Ran Einblick in die Polizeiarbeit und bewirbt sich schließlich in der Kleinstadt Farr um einen Job als Cop, den ihr der Kriegsveteran Cal Phillips ohne großes Vorgeplänkel schnell anvertraut. Sie macht sich gut, zieht in ein kleines Haus außerhalb der Stadt, scheint ihr Leben in den Griff bekommen zu haben. Doch dann wird Cal vermisst und sie als nun diensthabender Sheriff mit dem Fall seines Verschwindens betraut. Auf einmal muss sie dem Bürgermeister, der immer mit ihr zu flirten schien, ebenso Rechenschaft ablegen wie einem FBI-Beamten, dann tauchen weitere Männer auf, die sich für Sarah Jane interessieren und sie in eine zunehmend misslichere Lage bringen …
„Manchmal kommt es einem vor, als würde man Tag für Tag für die Aufführung proben, ohne je das Drehbuch gesehen zu haben oder zu wissen, welche Rolle man spielt. Oder du stehst im Park vor einem dieser großen Kästen mit einem Plan, auf dem im Großbuchstaben SIE SIND HIER steht, und du weißt verdammt genau, dass das nicht stimmt. Cals Job. Kummer und Leid der Menschen. Was man in anderen Menschen sieht und spürt, ist letztendlich das, was man in sich selbst finden kann.“ (S. 153)
Zum Ende seines neuen Romans lässt James Sallis einen von Sarah Janes College-Dozenten darüber philosophieren, wie Sätze und damit auch Kunst Revolutionen hervorrufen können. Dieses Gefühl bekommt auch der Leser von Sallis‘ Geschichten zu spüren. Ebenso wie seine letzten Werke (vor allem „Willnot“) besticht „Sarah Jane“ mit knackigen, sprachlich vollkommenen Sätzen, die die Kraft ganzer Absätze und Seiten besitzen. Wenn er beispielsweise die Kleinstadt Farr als einen dieser Orte beschreibt, „wo sich historische Pfefferkuchenhäuser direkt neben modernen Reihenhäusern behaupten, wo sich Eisenwarenläden, Tankstellen und Angelshops an den Stadtrand klammern und wo man in den gutturalen Lauten des heimischen Dialekts noch das Raunen alter Zeiten hört“, beschwört er mehr als nur die städtische Architektur, sondern gleichsam ihren Puls herauf. 
Sallis nimmt sich mehr als 60 Seiten Zeit, um Sarah Janes bewegte Vergangenheit zu rekapitulieren. Allein die häufigen Wechsel, was Zeit, Ort und beteiligte Personen angeht, machen deutlich, welch dramatischen Ereignisse die junge Frau bereits verkraften musste, bevor sie den Job als Polizistin in Farr antritt, angefangen vom ebenso plötzlichen wie immer häufigen Abtauchen ihrer Mutter aus dem Familienleben, dem Tod ihres Partners beim Militäreinsatz im Mittleren Osten bis zu den komplizierten, von Krankheit, Verletzungen und Verlusten geprägten Affären, die Sarah Jane letztlich von Stadt zu Stadt flüchten ließen. 
Durch das ohne besonderen Anlass absolvierte Studium lässt Sallis seiner vielschichtigen Protagonistin eine intellektuelle Reife zukommen, die auch den Leser immer wieder zum Nachdenken über existentielle Themen wie Selbst- und Fremdwahrnehmung, Schein und Sein, Freiheit und Verantwortung, Freundschaft und Familie, Leben und Tod anregt. Dabei hat der Autor mit Sarah Jane eine so komplexe Figur geschaffen, deren Geschichte man auch gern über längere Zeit verfolgt hätte. Doch Sallis lässt seinem Publikum genug Raum, die Leerstellen mit eigenen Erfahrungen und Vorstellungen zu füllen.  

Philippe Djian – „Die Ruchlosen“

Dienstag, 24. August 2021

(Diogenes, 202 S., HC) 

Während die zwischen 2013 und 2016 erschienenen Romane „Love Song“, „Chéri-Chéri“ und „Dispersez-vous, ralliez-vous!“ noch auf ihre deutschsprachige Veröffentlichung warten, knüpft der französische Erfolgsautor Philippe Djian („Betty Blue - 37,2 Grad am Morgen“, „Oh…“) mit seinem neuen Roman an die kurze, aber knackige Prosa an, die bereits seine vorangegangenen Werke „Marlène“ und „Morgengrauen“ ausgezeichnet haben. 
Seit Patrick in den Armen seiner Frau Diana gestorben ist, kümmert sich sein Bruder Marc um die immer wieder von depressiven Stimmungen, die schon mal in Selbstmordversuchen münden, gezeichnete Zahnärztin, ist sogar in ihre Wohnung gezogen, wo er sie besser im Blick hat. Im Gegensatz zu seinem ebenso charismatischen wie temperamentvollen Bruder hat Marc nicht den gewissen Schlag bei Frauen, ist mit seinen knapp dreiunddreißig Jahren noch immer Jungfrau. Dass er mal den Platz seines Bruders bei Diana einnimmt, kommt weder für ihn noch seine Schwägerin in Frage. Aber als Marc, der viel zu viel Zeit mit Online-Poker verbringt und dabei sukzessive seine Geldreserven aufbraucht, eines frühen Morgens am Strand drei Päckchen mit Koks vom Meer angeschwemmt findet, hofft er durch Dianas Bruder Joël die Drogenpäckchen zu Geld machen zu können. Der über Sechzigjährige hat sich nicht nur mit seiner Schwester entzweit, sondern auch mit seiner dreißig Jahre jüngeren Frau Brigitte. Die Dinge verkomplizieren sich nicht nur dadurch, dass sich Joël in der Drogensache mit den falschen Leuten anlegt, sondern auch durch die gar nicht so heimlich Affäre, die Diana mit dem Bürgermeistersohn Serge unterhält … 
„Joël pflegte nicht nur guten Umgang, das lag auf der Hand, und Patrick hatte ihm in dieser Hinsicht nicht nachgestanden. Der Jachthafen und die paar Straßen im Umkreis brachten keine Messdiener und Kirchenleute hervor, und das war das Ergebnis, Geschichten wie aus einem Film, mit Engeln und bösen Jungs.“ (S. 60) 
Was den Umfang seiner Geschichten angeht, bewegt sich Djian weiterhin in Richtung zunehmend minimalistischer Regionen, von 280 Seiten („Marlène“) über 236 Seiten („Morgengrauen“) auf nunmehr 202 Seiten, doch qualitativ bewegen sich seine Geschichten auf etwa ähnlichem Niveau. 
Djian hat es sich angewöhnt, ohne große Einleitung gleich zur Sache zu kommen und den Plot wie ein Feuerwerk abzufackeln, ohne viel Mühe darauf zu verwenden, seinen Figuren und Lesern mal eine Ruhepause zu gönnen. Immerhin versteht er es in „Die Ruchlosen“, mit nur wenigen Skizzen sowohl Marc als auch der fast fünfzigjährigen Diana, aber auch dem vor fast einem Jahr verstorbenen Patrick, dessen Geist die Atmosphäre der Geschichte maßgeblich mitprägt, und dem zerstörerischen Joël Charakter zu verleihen. 
Die Frauenfiguren bleiben bis auf Diana aber recht blass, bleiben Sexgespielinnen oder Gefährten beim Rauchen eines Joints. Djian etabliert ein dichtes Geflecht von mehr oder weniger kranken Beziehungen, die durch den Drogendeal, Affären und schließlich Todesfälle das Drama zu einem echten Thriller werden lassen. Es ist Djians nach wie vor ungewöhnlichem sprachlichen Geschick, seiner einzigartigen Art, mit kurzen Sätzen und knackigen Dialogen Tempo zu machen, zu verdanken, dass sich „Die Ruchlosen“ sehr kurzweilig lesen lässt. 
Allerdings überschlagen sich im Finale die Ereignisse dann doch auf recht unglaubwürdige Art und Weise, die das zuvor schon bizarr anmutende Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren noch absurder erscheinen lässt. Spaß macht dieser teuflische literarische Ritt aber doch!  

Tom Franklin – „Smonk“

Montag, 23. August 2021

(Pulp Master, 307 S., Tb.) 
Mit Eugene Oregon Smonk ist wahrlich nicht zu spaßen. Seit Jahren entzieht er sich überall im Land dem Zugriff des Gesetzes, hat sich immer das genommen, wonach ihm gerade war, hat bestochen, erpresst, genötigt, in jeder Form Gewalt ausgeübt. Als ihm in der Kleinstadt Old Texas, Alabama, am 1. Oktober 1911 der Prozess gemacht werden soll, verkleiden sich sogar die Frauen als Männer, um an der Verhandlung teilnehmen zu können. Dem Gerichtsdiener Will McKissick hat der einäugige, schießwütige Farmer einst nicht nur die Arbeit, sondern auch die Frau genommen, aber so erging es vielen Männern in der Gemeinde, die auch in den Bürgerkrieg ziehen mussten und nicht mehr erlebten, wie Smonk sich um die Witwen und ihre Töchter kümmerte. 
Zum Prozess, der letztlich nicht mehr als ein Lynchmob darstellt, kommt es allerdings nicht. Smonk ist clever genug gewesen, zwei auswärtige Auftragskiller zu engagieren, die als Fotografen getarnt ihren Planwagen vor dem vermeintlichen Gerichtsgebäude platziert haben und schließlich mit ihren Maschinengewehren kurzen Prozess mit allen Beteiligten machen, die bereits mit Schürhaken, Reitpeitschen, Ziegelsteinen, Tischbeinen und Billardstöcken bewaffnet darauf warteten, das Urteil vollstrecken zu dürfen. Smonk kann also fliehen. Zwar muss er sein Glasauge im Getümmel McKissick überlassen, dafür entführt er dessen elfjährigen Sohn. 
McKissick wird vom korrupten Richter damit beauftragt, sich auf die Suche nach dem Geflüchteten zu machen. Begleitet wird er vom Schmied Gates, dessen Frau Lurleen und seine Stieftöchter ebenfalls fleischlichen Umgang mit Smonk pflegten und allesamt dem Massaker zum Opfer gefallen sind. Während sich McKissick und Gates zunächst auf den Weg zu Smonks Farm machen, jagen der christliche Sheriff Walton und seine Leute die 15-jährige, knabenhaft aussehende Hure Evavangeline, die für einen Dollar für jedermann die Beine breit macht, um zu überleben, aber auch keine Hemmungen hat, gewalttätige Männer ins Jenseits zu befördern. Gates, der vor Lurleen bereist zwei Frauen hatte und es auch mit seiner Stieftochter Clena getrieben hatte, hofft derweil, durch die Jagd auf Smonk an weitere Gelegenheiten zu kommen, sich mit dem anderen Geschlecht zu vergnügen … 
„Gates stimmte zu. Aber sein Plan – sein geheimer Plan – bestand darin, abzuwarten, bis der Gerichtsdiener Smonk umgebracht hatte, und ihm dann aufzulauern und ihn umzubringen. Und falls sie Smonk nicht fanden, was dem Schmied ganz recht wäre, hätte er immer noch das Auge als Beweis dafür, dass er Schmonk umgebracht hatte. Er malte sich aus, wie er es mehreren jungen Mädchen zeigte und wie ihre Titten seinen Oberarm streiften.“ 
Tom Franklin hatte mit der 1999 veröffentlichten Kurzgeschichtensammlung „Poachers“ (die 2020 hierzulande vom Berliner Kleinverlag Pulp Master als „Wilderer“ erschienen ist) und seinem vier Jahre darauf folgenden Romandebüt „Hell at the Breech“ (der 2005 bei Heyne unter dem Titel „Die Gefürchteten“ sogar als Hardcover veröffentlicht wurde) bereits zwei gefeierte Bücher veröffentlicht und einen schönen Vorschuss auf sein nächstes Buch erhalten, als er von einer Art Schreibblockade heimgesucht wurde und eine ganz andere Art von Buch begann, das zunächst eine Art Parodie auf Cormac McCarthys „Die Abendröte im Westen“ werden sollte, aber dann einen ganz eigenen Weg einschlug, der zwar McCarthys biblischen Ton beibehielt, aber dann zu einer Western-Groteske auswuchs, in der gleich im ersten Satz verkündet wird, dass der allseits verhasste Smonk innerhalb eines Tages ermordet werden würde. 
Kurz darauf schon erlebt der Leser einen fulminanten Shoot-Out, der das Finale von Sam Peckinpahs „The Wild Bunch“ gemahnt, und eine Odyssee durch die Südstaaten, die von Tollwut, Wollust und Gewalt in allen vorstellbaren Formen geprägt ist. Hier ist jeder nur auf sein eigenes Wohl, die Befriedigung jeder Art von sexuellen Begierden aus, so dass es außer dem fast zwölfjährigen McKinnick Junior keine sympathische Figur in dem Roman gibt. 
Das ist sicher nichts für schwache Nerven und vor allem zartbesaitete Gemüter, doch die Art, wie Franklin in bester Tradition von McCarthy und Larry Brown die dunklen Seite der rauen wie schönen Südstaaten mit seiner wortgewaltigen und humorvollen Sprache aufdeckt, ist einfach ein Genuss. 

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 12) „Die Schuld der Väter“

Donnerstag, 19. August 2021

(Pendragon, 468 S., Pb.) 
Im Sommer 1942 beobachteten der damals 12-jährige Dave Robicheaux und sein 15 Monate jüngerer Halbbruder Jimmie am Rande eines Parks in New Iberia, Louisiana, wie sich in einem alten Ford zwei Pärchen miteinander vergnügten, worauf ein Mann, die seine weibliche Begleitung Legion nannte, den Jungs mit seinem aufgeklappten Taschenmesser einen gehörigen Schrecken einjagte. Nun bekommt es Dave Robicheaux, mittlerweile Detective in der Sheriff-Dienststelle des Iberia Parish, erneut mit diesem unheimlich erscheinenden Mann zu tun, als er zusammen mit seiner Partnerin Helen Soileau den Mord an zwei jungen Frauen aufklären muss. 
Für die brutale Vergewaltigung und den Mord an der sechzehnjährigen weißen Einser-Schülerin Amanda Boudreau wird zunächst der 25-jährige schwarze Cajun-Musiker und Straßengauner Tee Bobby Hulin aufgrund seiner Fingerabdrücke am Tatort festgenommen und von Perry LaSalle verteidigt, doch Amandas Freund, der gefesselt worden ist, will zwei Männer mit Sturmhauben gesehen haben, die für die Tat verantwortlich gewesen sein sollen. Der großmütige Perry LaSalle, der Tee Bobbys Verteidigung übernimmt und Spross des mächtigen Plantagenbesitzers Julian LaSalle ist, strengt sich nicht besonders an, die Unschuld seines Mandanten zu beweisen. 
Die Dinge verkomplizieren sich, als mit Marvin Oates ein zwielichtiger Bibelverkäufer auftaucht und die Prostituierte Linda Zeroski ebenfalls tot aufgefunden wird, was ihren Vater, den Mafioso Joe Zeroski, dazu animiert, den Schuldigen selbst zur Rechenschaft zu ziehen. Doch ist es vor allem eine alte Geschichte zwischen Legion, der als Aufseher auf der LaSalle-Plantage berüchtigt dafür gewesen war, sich über beliebige schwarze Frauen herzumachen, und Tee Bobbys Großmutter Landice, die Licht in die Ermittlungen bringt. 
Aber auch der Clubbesitzer Jimmy Dean Styles, der als Manager von Tee Bobby fungiert, beunruhigen sowohl Dave als auch seinen besten Freund und ehemaligen Kollegen bei der Mordkommission in New Orleans, Clete Purcel. Während Purcel sich wie gewohnt mit den falschen Frauen einlässt und seine Unbeherrschtheit kaum zügeln kann, wird auch Robicheaux bei all den zwielichtigen Typen, mit denen er zu tun hat, von gewalttätigen Phantasien heimgesucht … 
„In dieser Nacht lag ich schlaflos in der Dunkelheit, während der Wind draußen durch die Bäume strich und das Laub im Sumpf im gespenstisch weißen Licht der Blitze im Süden flackerte. Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie so allein gefühlt. Einmal mehr gierte ich geradezu danach, die Finger um die Griffschalen und den Abzug einer schweren, großkalibrigen Pistole zu legen, den beißenden Korditgestank zu riechen, alle Selbstbeherrschung fallen zu lassen, mich loszureißen von den Banden, die mich einschränkten und mir die Luft aus den Lungen quetschten. Und ich wusste, was ich tun musste.“ (S. 352) 
Seit James Lee Burke 1987 mit „The Neon Rain“ den ersten Krimi um den Vietnam-Veteranen und Südstaaten-Cop Dave Robicheaux veröffentlichte, bringt die mittlerweile 23 Bände (von denen noch einige auf ihre deutsche Erstveröffentlichung warten) umfassende Reihe immer wieder die besten Werke des Genres hervor. „Die Schuld der Väter“, der 12. Band der gefeierten Reihe, macht da keine Ausnahme. Burke lässt seinen Ich-Erzähler Dave Robicheaux, dessen Adoptivtochter Alafair demnächst aufs College gehen wird, einmal mehr durch die Labyrinthe menschlicher Abgründe waten. Dabei wirken die Charaktere, mit denen er und Purcel zu tun haben, so undurchsichtig, dass es auch dem Leser, der die Geschichte fast ausschließlich aus Robicheaux‘ Perspektive erzählt bekommt, schwer fällt, die richtigen Schlüsse zu ziehen. 
Einzig bei dem einhellig als unheimlich und stinkenden Legion sind sich alle Beteiligten einig, dass er das pure Böse personifiziert. Burke erweist sich einmal als Meister darin, seinem Publikum nicht nur die besondere Atmosphäre der Südstaaten in seinen bildhaften Beschreibungen lebendig vor Augen zu führen, sondern mit pointierten Dialogen und vielschichtigen Beobachtungen seines Protagonisten tief in die Irrungen und Wirrungen des menschlichen Wesens einzudringen und auf den Grund der Seele der vielschichtigen Figuren zu stoßen, die selten einfach nur gut oder schlecht sind, sondern von je eigenen Dämonen getrieben werden, die sie manchmal nur im Leben scheitern, manchmal aber auch extrem brutale Verbrechen verüben lassen.  

Lee Child – (Jack Reacher: 23) „Der Spezialist“

Montag, 16. August 2021

(Blanvalet, 446 S., HC) 
Seit seinem Roman- und damit gleichzeitig auch seinem Jack-Reacher-Debüt „Größenwahn“ hat sich der Brite Lee Child bereits Ende der 1990er als Bestseller-Autor etabliert. Auch nach über 20 Jahren und ebenso vielen Fällen gelingt es Child auf bemerkenswerte Weise, immer neue Plots aus dem Hut zu zaubern, die das Herz eines jeden Thriller-Fans und vor allem der Jack-Reacher-Fans höher schlagen lassen. Dabei beginnt sein 23. Abenteuer auf allzu vertraute Weise: Von einer kleinen Küstenstadt in Maine will Reacher per Anhalter eine diagonale Route nach Südwesten einschlagen, die ihn eventuell über Cincinnati, St. Louis und Albuquerque bis hinunter nach San Diego führt. Doch als er zu Beginn seines Trips auf den Wegweiser nach Laconia, New Hampshire, stößt, treibt ihn die Neugier dort hin, denn der Name ist Reacher von allen möglichen Dokumenten seiner Familiengeschichte bekannt. 
Es soll der Geburtsort seines längst verstorbenen Vaters Stan Reacher gewesen sein, der mit siebzehn zum Marine Corps gegangen war. Um mehr über seine familiären Wurzeln zu erfahren, lässt sich Reacher in einem kleinen Hotel nieder und versucht über das Archiv der Stadtverwaltung, nähere Informationen zu seinem Anliegen zu erhalten. So schnell er feststellen muss, dass sich die gewünschten Aufzeichnungen nicht so ohne weiteres einsehen lassen, gerät er auch in Schwierigkeiten. Als er nämlich eines Nachts um drei Uhr aufwacht wegen ungewöhnlicher Geräusche aufwacht und einer in Bedrängnis geratenen jungen Frau vor einem Rowdy rettet, den Reacher kurzerhand krankenhausreif schlägt, muss er mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen, die der in zwielichtigen Kreisen agierende Vater des Jungen aus Boston bestellt. 
Währenddessen führen Reachers Recherchen zu einem Ort namens Ryantown, einer Ruine mitten in den Wäldern, die auch Schauplatz weitere außergewöhnlicher Ereignisse ist. Hier haben Jack Reachers entfernter Verwandter Mark und seine Freunde ein Motel so hergerichtet, dass es den Startpunkt für ein ebenso exklusives wie mörderisches Abenteuer bildet. Mark und seine Crew halten nämlich das aus Kanada stammende Pärchen Patty Sundstrom und Shorty Fleck in Zimmer 10 gefangen, bis sechs Männer aus allen Teilen des Landes eingetroffen sind, um sich mit den beiden auf perfide Art zu vergnügen. 
„Die sechs Männer starrten sie weiter an. Offen, freimütig, gänzlich ohne Hemmungen. Von ihr zu ihm, von ihm zu ihr. Sie wogen ab, bewerteten und schätzten ein. Sie gelangten zu Schlussfolgerungen. Ein kleines Verziehen der Miene, das Befriedigung ausdrückte. Langsames Nicken bewies Anerkennung und Zustimmung. Aufblitzende Augen bewiesen Enthusiasmus.“ (S. 340) 
Interessant ist der Thriller „Der Spezialist“, der im Original treffender „Past Tense“ betitelt ist, vor allem wegen Reacher Spurensuche in eigener Sache. Wie der ehemalige Militärpolizist langsam, aber zielgerichtet seine eigene Familiengeschichte entschleiert, liest sich an sich schon wie ein Krimi, bei dem Reacher viele sympathische Kontakte knüpft. Nur wirkt der Zusammenstoß mit dem Sohn eines Gangsters in einer beschaulichen Kleinstadt wie Laconia doch arg unglaubwürdig, erhöht aber natürlich die Spannung und das Action-Level. 
Es vergeht ungewöhnlich viel Zeit, bis sich die parallel erzählte Geschichte von Patty und Shorty mit der von Reacher kreuzt. Hier zieht die Action noch mal ordentlich an, doch wirken die Ereignisse in dem abgelegenen Motel auch hanebüchen. Ärgerlich ist hier Childs Fortsetzung der analytischen Prozesse, die die Leser bislang ausschließlich von dem ehemaligen Ermittler bei der Militärpolizei kennen und die letztlich das Alleinstellungsmerkmal der Reacher-Romane darstellen. Doch mitten im Wald sind die Sägewerksangestellte und der Kartoffelbauer ebenso mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet, mit denen sie ihren Peinigern ordentlich zusetzen. 
So bietet „Der Spezialist“ zwar kurzweilige Thriller-Kost mit ungewöhnlichem Plot und interessanten Einblicken in Reachers Familiengeschichte, doch liegt der Roman eher im unteren Mittelfeld aller Reache-Romane.  

Stephen King – „Billy Summers“

Freitag, 13. August 2021

(Heyne, 720 S., HC) 
Die über 45-jährige Schriftstellerkarriere des Bestseller-Autors Stephen King wird nach wie vor mit der Bezeichnung „King of Horror“ umschrieben, doch hat der im US-Bundesstaat Maine geborene und nach wie vor lebende Schriftsteller immer wieder beeindruckende Werke jenseits des mit ihm untrennbar verbundenen Genres veröffentlicht. Nach dem mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichneten Krimi „Mr. Mercedes“ legt King mit „Billy Summers“ nun einen weiteren Roman vor, der eher in der Tradition von Charles Dickens als Edgar Allan Poe steht. 
Nachdem Billy Summers seinen Kriegsdienst als Scharfschütze im Irak abeleistet hat und mit ansehen musste, wie viele seiner Kameraden in der Hölle von Falludscha umgekommen sind, verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Auftragskiller. Durch seinen Mittelsmann Bucky bekommt Billy einen ebenso ungewöhnlichen wie lukrativen Auftrag zugeschanzt. Er soll für Nick Majarian den bekannten Frauenschläger und Mörder Joel Allen beseitigen. Der sitzt gerade in Los Angeles seine Haftstrafe ab und hofft, bei einer Anhörung vor Gericht in der Südstaaten-Kleinstadt Red Bluff einen Deal aushandeln zu können. 
Bevor es dazu kommt, soll Billy Joel Allen vom gegenüberliegenden Bürogebäude mit einem gezielten Schuss ausschalten. Dafür soll er ein fürstliches Honorar in Höhe von zwei Millionen Dollar erhalten, ein Viertel davon bei Vertragsabschluss. Da aber niemand vorhersagen kann, wann diese Anhörung stattfindet, muss sich Billy auf eine vielleicht mehrere Wochen oder gar Monate währende Wartezeit einrichten. Deshalb haben ihm seine Auftraggeber eine Tarnung als Schriftsteller mit dem Namen David Lockridge verpasst, der im Gerard Tower an seinem neuen Buch arbeitet. 
Da Billy die ganzen Umstände und die Beteiligung von zwielichtigen Geschäftsmännern wie Ken Hoff und Georgio Piglielli nicht ganz geheuer sind, reaktiviert er eine weitere Tarnung, mietet sich als Dalton Smith und in Verkleidung eine weitere unscheinbare Wohnung und findet sowohl als David Lockridge als auch als Dalton Smith schnell Kontakt zu seinen Nachbarn. Die Wartezeit bis zur Ausführung seines eigentlichen Jobs vertreibt sich Billy tatsächlich mit dem Schreiben. Da er zwar ein eifriger Leser ist und längst nicht so einfältig ist, wie er seinen Auftraggebern gegenüber erscheinen will, aber über keinerlei Erfahrung im Schreiben verfügt, beginnt er mit seiner Lebensgeschichte. Billy, der als kleiner Junge gezwungen war, den Freund seiner Mutter zu erschießen, nachdem dieser Billys Schwester Cassie den Brustkorb eingetreten hatte, schreibt vor allem seine Erlebnisse in der Army nieder und stellt fest, dass er Spaß daran hat. Schließlich rückt der Auftrag in Nähe, den Billy souverän ausführt. Den zuvor verhandelten Fluchtplan nimmt er jedoch nicht in Anspruch, sondern versteckt sich als Dalton Smith solange in seiner Tarnunterkunft, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Doch als drei junge betrunkene Männer eines Nachts die zuvor vergewaltigte Alice aus ihrem Van am Straßenrand ablegen, beginnt für Billy eine ganz außergewöhnliche Odyssee, auf der Billy sich vor allem an den Typen rächen will, die ihn reinzulegen versucht haben, sich aber auch rührend um Alice kümmert … 
„Ist es gefährlich, dass sie ihm so viel bedeutet? Natürlich ist es das. Und ist es ebenso gefährlich, was er für sie bedeutet – dass sie ihm vertraut und sich auf ihn verlässt? Natürlich ist es das. Aber wenn er sieht, wie sie so dasitzt, hat das etwas zu sagen. Falls alles danebengeht, ist das vielleicht nicht mehr so, aber momentan schon. Er hat er die Berge und die Sterne geschenkt, nicht als Besitz, sondern zum Anschauen, und das sagt viel.“ (S. 477) 
Mit „Billy Summers“ ist Stephen King ein sehr vielschichtiger Roman gelungen, der im ersten Teil die Details des Auftrags schildert, der die Geschichte ins Laufen bringt, aber – wie wir Leser bald erfahren – die eigentliche Geschichte beginnt viel früher, mit dem gewaltsamen Tod von Billys Schwester und seiner ebenso gewalttätigen Erwiderung, und setzt sich mit dem traumatischen Kriegseinsatz im Irak fort. Billy Summers wirkt dabei nicht wie ein kaltblütiger Auftragskiller, sondern fragt vor jedem Auftrag, ob es auch „schlechte Menschen“ sind, die er töten soll. 
In seiner Nachbarschaft freundet sich Billy alias David schnell nicht nur mit den Erwachsenen, sondern auch mit deren Kindern an, spielt mit ihnen Monopoly und wirkt auch sonst ganz und gar umgänglich. Im weiteren Verlauf der Geschichte rückt die schriftstellerische Arbeit des Protagonisten zunehmend in den Vordergrund. Interessant ist dabei die Tatsache, dass mit diesem Prozess nicht die Wahnvorstellungen und übernatürlichen Ereignisse verbunden sind, wie sie Kings Figuren in „Stark – The Dark Half“ oder „The Shining“ erleben. Stattdessen findet Billy durch das Schreiben zu sich selbst. Mit der Rettung der betäubten und dann vergewaltigten Alice nimmt die Geschichte eine weitere Wendung, denn nun geht es nicht nur darum, dass Billy die ihm noch zustehenden 1,5 Millionen Dollar von seinen Auftraggebern eintreibt, sondern die Beziehung zu Alice in seinem Leben richtig einordnet. Obwohl Billy sich selbst und auch Bucky als „schlechte Menschen“ bezeichnet, gewinnen sie nicht zuletzt durch ihre Art, wie sie Alice wieder aufpäppeln, die Sympathien des Publikums. 
Stephen King entwickelt hier einen wohltuenden Gegenentwurf zu Trumps Amerika der Hetze und des Hasses, lässt Tugenden wie Nachbarschaftshilfe und Nächstenliebe aufleben, bevor im letzten Teil des Romans die Rachegeschichte in den Vordergrund rückt, in der die Bösen nach und nach dezimiert werden. Hier kommen übrigens mit kleinen Verweisen auf das Overlook-Hotel („Shining“) die einzigen Ansätze übernatürlicher Elemente ins Spiel. 
Davon abgesehen stellt „Billy Summers“ einfach eine packende Geschichte dar, die verschiedene Genres wie Bildungs- und Entwicklungsroman, Krimi und Rachethriller, ja sogar etwas Liebesdrama geschickt miteinander verbindet.